Vielleicht wäre es gut, an dieser Stelle auch noch einmal die Funktion des Angrivarierwalls als Grenzwall auf Plausibilität zu überprüfen.
Tacitus schreibt:
"Zuletzt suchten sie sich einen Kampfplatz aus, der vom Fluss und Wald umschlossen war und in dem sich eine schmale sumpfige Fläche befand. Auch um das Waldgebiet zog sich ein tiefer Sumpf, nur eine Seite hatten die Angrivarier durch einen breiten Damm erhöht, der die Grenzlinie zu den Cheruskern bilden sollte."
Der von Tacitus erwähnte Damm wird vorwiegend als Grenzwall gedeutet. Wie wahrscheinlich ist es aber, dass um die Zeitenwende herum ein germanischer Stamm eine Grenzbefestigung angelegt hat?
War die germanische Gesellschaft um diese Zeit herum nicht noch viel zu mobil, um eine dauerhafte Grenzbefestigung anzulegen? Kannten sie das Konzept einer festgelegten Grenzlinie überhaupt schon? Wenn sie schon relativ sesshaft waren und dauerhafte Grenzen festlegten, wieso gab es dann noch keine größeren Städte? Laut Wikipedia gibt es auch kein anderes Beispiel dafür, dass ein germanischer Stamm zu jener Zeit einen Grenzwall angelegt hat.
Wären die Germanen fähig gewesen, einen solchen Grenzwall zu betreiben? Da es zu einer Schlacht an diesem Wall kam, Germanicus also direkt darauf zu marschiert ist, kann der Wall schlechterdings eine Engstelle an der Grenze zwischen Angrivariern und Cheruskern befestigt haben, also etwa ein Tal oder eine enge Landzunge, in so eine strategisch ungünstige Situation hätte sich wohl selbst Germanicus nicht mitten im Krieg begeben. Der Wall müsste also ein größeres Konstrukt gewesen sein, an dem Germanicus irgendwie entlang gezogen ist. Da so ein Wall ohne Bewachung nutzlos ist, stellt sich die Frage, ob die Angrivarier fähig und auch diszipliniert genug gewesen wäre, eine ständige Bewachung eines langen Grenzwalls zu organisieren.
Wäre der Wall mit dem Ehrgefühl der Germanen in Übereinklang zu bringen gewesen? Hätte ein Stamm, der es nötig hatte, sich hinter einem Wall einzuigeln und etwaige Konflikte nicht in einer offenen Feldschlacht auszutragen, nicht als extrem feige gegolten?
Wäre es nicht auch denkbar, dass Tacitus die ihm über den Angrivarierwall zur Verfügung stehenden Quellen misinterpretiert hat? Und zwar dass es sich eigentlich um das Szenario gehandelt hat, in dem die Angrivarier den einen Teil des Kalkrieser Berges besetzt hatten (etwa den westlichen, dort wo auch das Dorf Engtern liegt), und die Cherusker den anderen, und dort dann auf Germanicus warteten? Die Krieger beider Stämme nicht zu vermischen hätte denke ich Sinn gemacht, um sich im Kampf nicht gegeseitig zu verwirren. Angriffsziel der Angrivarier wäre dann der vordere Teil der römischen Kolonne gewesen, die Cherusker hätten den hinteren Teil der Kolonne angegriffen.
In diesem Szenario hätte der Wall von Oberesch natürlich auch in gewisser Weise zwischen Angrivariern und Cheruskern gelegen, nur nicht quer, sondern längs. In dem Tacitus vorliegenden Bericht könnte es dann geheißen haben, dass Angrivarier und Cherusker entlang einer Linie oberhalb des Walls getrennt gewesen waren. Da Tacitus sich darunter aber überhaupt nichts vorstellen konnte, und er seine Leser auch nicht verwirren wollte, könnte er den Wall dann als Grenzwall bezeichnet haben.
Wieder viel Spekulation. Ich denke, am Ende muss jeder für sich selbst die Wahrscheinlichkeit, dass der Wall von Oberesch in keiner einzigen Quelle zur Varusschlacht erwähnt wird, und die Wahrscheinlichkeit, dass der Angrivarierwall ein Grenzwall war, gegeneinander abwägen, und daraus seine Schlüsse ziehen.