Nein, Luziv, ich wehre mich gegen die Ideologie, dass man nur aus der Zeit heraus beurteilen dürfe, weil die Menschen früherer Epochen moralisch weniger reif gewesen wären als wir heute. Das ist schlicht nicht der Fall. Sie kannten im Grunde dieselben moralischen Grundsätze wie wir und müssen daher für die Missachtung moralischer Grundsätze genau so beurteilt werden, wie wir unsere Zeitgenossen beurteilen würden.
Das stelle ich in Zweifel, in verschiedener Hinsicht. Aristoteles z.B. geht von geborener Sklaverei aus, will sagen, es fehlt ein universalistischer Zug bei der Zurechnung von Rechten und Subjekten. Er zählt außerdem die wiedergutmachende Gerechtigkeit zu den Gerechtigkeitsformen mit arithmetischer Proportionalität, was mit heute herrschenden Ansichten unvereinbar wäre. Selbst wenn also gemeinsame moralische Grundsätze damals-heute nominell vorhanden waren (was zumindest teilweise der Fall ist, wie du zu Recht schreibst), so kann man nicht unterstellen, diese wären in gleicher Art und Weise von den Handelnden den mit ihnen interagierenden Menschen zugeschrieben worden.
Gehen wir mal von Griechenland weg weiter nach Norden, findet man bis weit ins Mittelalter hinein erhebliche Abweichungen von heute geltenden Gerechtigkeitsvorstellungen (und auch bspw. von aristotelischer Vorstellung), indem gleiche Handlungen in Bezug auf die Handelnden unterschiedlich bewertet wurden, z.B. im "Strafrecht". In einem solchen geistigen Klima ist die goldene Regel offenbar ungeeignet, moralische Urteile über die damaligen Menschen zu fällen.
Auf einer anderen Ebene habe ich die Kritik, daß die bloße Kenntnis von moralischen Grundsätzen keine Basis dafür liefert, ihre Internalisierung bei der Mehrzahl der Handelnden anzunehmen. Es gibt sehr viele Einzelbeispiele, an denen deutlich wird, wie unterschiedlich bestimmte soziale Vorgänge damals und heute moralisch bewertet werden. Ich glaube nicht, daß man generell unsere heutigen Vorstellungen anwenden kann.
Ohne mich in eine Abwägung Elias - Duerr zerfasern zu wollen, würde ich doch einen gewissen Zivilisationsprozess ins Feld führen, den man über die 2300 Jahre nach Alexander nicht leugnen kann und der nicht nur materielle Änderungen mit sich gebracht hat. Ich weiß nicht, ob du isländische Sagas kennst oder sogar magst. Wenn ich diese lese, bin ich immer wieder baff über die völlige Selbstverständlichkeit, mit der Mord und Totschlag in den doch recht überschaubaren sozialen Strukturen eingesetzt werden. Auch wenn die Sagas zum Teil Fiktion sind, sind sie doch für die Rezeption eines mit der Wirklichkeit vertrauten Publikums geschrieben. Ich muß eine völlig andere Sichtweise der damals Lebenden auf Gewalt konstatieren als sie heute herrscht.
Die moralischen Vorstellungen der Griechen lagen vielleicht näher bei den unseren, aber sie waren beileibe nicht deckungsgleich. So stieß das Verhalten der Athener gegenüber den Meliern im Peloponnesischem Krieg wegen der Maßlosigkeit und Kaltschnäuzigkeit auf eine gewisse Entrüstung, aber normalerweise wurde das Töten von Gegnern nicht als ungerecht und abstoßend empfunden. Ich finde moralisierende Bewertungen von historischen Persönlichkeiten daher wissenschaftlich nur begrenzt wertvoll. Rein irrational habe ich natürlich meine Vorlieben, in die sozusagen unbewußt auch moralische Urteile einfließen. Alexander den Großen finde ich nicht sehr sympathisch, Caesar und insbesondere Augustus übrigens auch nicht.