Die Berlin Blockade. War sie Stalins realpolitisches „Meisterwerk“, das im Fiasko endete? Ein paar Thesen zur Motivation seiner Außenpolitik. Es soll dabei den ideologischen Aspekten seines Weltbilds, außenpolitischen Aspekten seiner Realpolitik und Entscheidungsstrukturen nachgegangen werden, die an die Person von Stalin gebunden sind.
In seiner interessanten Biographie über Lenin unterstellt Lars Lih Lenin, dem Selbstbild einer Heroisierung seiner Rolle als Revolutionär erlegen zu sein und in 1923 vor dem Scherbenhaufen seiner Prognose über die kommende proletarische Revolution, auch vor allem in Deutschland, gestanden zu sein. Ein Aspekt, der bei der Beurteilung der Oktober Revolution häufig übersehen wird. Ihr Erfolg wurde von Lenin an den Erfolg einer weiterführenden proletarischen Revolution unter anderem auch in Deutschland geknüpft. In diesem Sinne hatte Deutschland aus ideologischen und industriepolitischen Gründen einen extrem hohen Stellenwert für die Akteure der Oktober Revolution.
Lenin - Lars T. Lih - Google Books
Dieses Erbe einer gescheiterten Revolution in Europa trat nach 1923 Stalin an, so beispielsweise auch Tucker, und reformulierte es im Rahmen des Konzepts vom „Sozialismus in einem Land“. Mit diesem realpolitischen Konzept brach er einerseits mit dem Anspruch auf die unmittelbare Revolution in Europa und andererseits bildete es via „Komintern“ dennoch einen latenten Anspruch auf die Fortführung der nicht eingetretenen Leninschen Prophezeiung über das Eintreten der proletarischen Revolution im Anschluss an den WW1 und die Russische Revolution.
Stalin As Revolutionary 1879-1929: A Study in History and Personality - Robert C. Tucker - Google Books
Diese ideologische Sichtweise auf Deutschland beeinflusste Stalins Beurteilung von Deutschland, neben reinen politischen oder militärischen Sicherheitsüberlegungen.
Betrachtet man die außenpolitische Einschätzung der Krise durch Stalin, dann kommt ein wichtiger Hinweis in Anlehnung an Kissinger. Er hatte Gromyko gefragt hatte, welche Überlegungen für Stalin als Entscheidungsrahmen relevant waren (Kissinger, S. 436). Gromyko wies darauf hin, dass Stalin durch eine Reihe von Beratern durchaus vor einer Eskalation zum Weltkrieg gewarnt wurde. Stalin wiese die Kritik zurück mit drei Argumenten.
- Die USA würde nie wegen Berlin A-Waffen einsetzen
- Sollte die USA auf dem Landweg nach Berlin durchzubrechen versuchen, dann würde die Rote Armee Widerstand leisten.
- Sollte die USA entlang der gesamten Front angreifen, dann würde Stalin die Entscheidung allein treffen und vermutlich deeskaliert haben.
Diplomacy - Henry Kissinger - Google Books
Diese Einschätzung, dass Truman keine A-Waffen eingesetzt hätte, um die Berlin Krise zu lösen ist zutreffend, wie aus der Abschlussrede im Januar 1953 ersichtlich wird (S. 117). Unabhängig von der Frage der Verlegung von ca. 60 B 29 nach Europa.
The Most Controversial Decision: Truman, the Atomic Bombs, and the Defeat of ... - Wilson D. Miscamble - Google Books
Die Entscheidungen von Stalin in der Berlin Krise weisen dabei m.E. Ähnlichkeiten zu seinem Verhalten in 1941 auf. In beiden Fällen bildeten ideologische Einschätzen seiner Kontrahenten zentrale Rahmenbedingungen für sein Handeln, wenngleich sehr unterschiedliche. In 1941 waren es die Annahmen über die Wahrscheinlichkeit von Kriegen zwischen den kapitalistischen Mächten und die Bismarksche Vorstellung, dass Hitler keinen Zweifrontenkrieg riskieren würde. Und er sich aus diesem Grund „sicher“ fühlte, trotz gegenteiliger Informationen.
Während der Berlin Krise waren es auch Überlegungen, die an Varga angelehnt waren und für Stalin einen Test bilden konnten, wie stark die Kohärenz des sich abzeichnenden neuen atlantischen Bündnisses von kapitalistischen Staaten sein würde. Dabei folgte die Eskalation der Krise, auch aus sowjetischer Sicht, eher einem improvisierten Konzept und war absolut nicht systematisch vorbereitet worden. Auch mit Widersprüchen innerhalb des sowjetischen Bereichs, da das Außenministerium beispielsweise auch die Sperrung des Luftraums verfolgte
Eugen Varga - Wikipedia, the free encyclopedia
Die Einführung einer separaten Währung in den Westzonen wurde von den Sowjets als ein nachträgliches Verlieren des WW2 interpretiert und erklärt damit die emotionale Brisanz, da es die Trennung der Einflussgebiete festschrieb und somit Stalin den Zugang zum Gesamtdeutschen Industriepotential, vor allem an der Ruhr, endgültig verlegte.
Vor diesem Hintergrund zielten die Verhandlungsinitiativen auch im Zuge der Berlin Krise von Stalin auf die Einheit Deutschlands ab, aber natürlich mit der Option, das Industriepotential zu nutzen, auch über eine verspätete proletarische Revolution. Und somit konnte sich Stalin auch in der Rolle des „Vollstreckers“ der Prophezeiung von Lenin interpretieren.
In diesem Sinne war die Berlin Krise eine „Theaterbühne“, um die unterschiedlichen Facetten der Außenpolitik eines „reifen“ Stalins zu erkennen, der allerdings in Bezug auf Deutschland als „gescheiterter Held“ seine Rolle spielen mußte. Das historische Drehbuch sah für Stalin lediglich ein außenpolitisches Fiasko als Ergebnis der Berlin Blockade vor.