Reichskristallnacht/Pogrom

iFlorian

Mitglied
Hallo!

Teilt ihr die Meinung meines Dozenten, dass die Reichskristallnacht kein Pogrom gewesen war, weil es sich um geplante Ausschreitungen gehandelt hatte? Für ihn gelten Pogrome, in der die Gewalt gegen eine Minderheit nicht vom Staat ausgeht und unorganisiert abläuft.


Gruß
 
Natürlich waren es Pogrome. Und ansonsten ist das eine völlig sinnfreie Dikussion. Letztlich ist es eine Konvention, beispielsweise die Ereignisse der Reichskristallnacht als Pogrom zu bezeichnen.

Da muss man auch nicht wirklich lange diskutieren.

Novemberpogrome 1938 ? Wikipedia
 
Der Duden bezeichnet jegliche solcher Ausschreitungen als Pogrom, bei Wikipedia wird die Definition noch weiter gefaßt...
Im deutschsprachigen Raum steht Dein Dozent mit seiner Definition also ziemlich alleine.
 
Hallo!

Teilt ihr die Meinung meines Dozenten, dass die Reichskristallnacht kein Pogrom gewesen war, weil es sich um geplante Ausschreitungen gehandelt hatte? Für ihn gelten Pogrome, in der die Gewalt gegen eine Minderheit nicht vom Staat ausgeht und unorganisiert abläuft.


Gruß

Erstaunlich.
Auch wenn man wie ich sein Leben (auch nach 90ig) in der Industrie verbracht hat, das ist das Abartigstes was ich bisher gelesen habe.
 
Man muss den weit gefassten Pogrom-Begriff in der Wikipedia nicht teilen.
Bedenkt man aber die Entstehung des Begriffs, kommt man mE nicht umhin, die "Reichskristallnacht" und das danach folgende als Pogrom zu bezeichnen.
Zitat aus der Wikipedia:
In Russland wurde die Ermordung von Zar Alexander II. im März 1881 den Juden angelastet, obwohl offenbar eine Untergrundbewegung mit antisemitischen Zielsetzungen am Werk gewesen war. Die nachfolgenden jahrelangen Judenverfolgungen wurden erstmals mit dem Begriff Pogrom bezeichnet.
Zwischen 1903 und 1906 kamen bei Pogromen in Russland schätzungsweise zweitausend russische Juden ums Leben. Besonders bekannt wurden die Pogrome von Kischinew in der heutigen moldawischen Hauptstadt Chișinău. Sie wurden wohl zumindest teilweise von der russischen Regierung bewusst geschürt.
 
"Pogrome sind einseitige, nicht-staatliche, von der Mehrheitsbevölkerung ausgehende Form kollektiver Gewalt gegen eine weitgehend wehrlose ethnische Gruppe definiert [...]. Durch die kollektive Zurechnung einer Bedrohung unterscheidet sich das Pogrom von Gewaltformen, wie dem Lynchen, die sich gegen einzelne Mitglieder einer Minderheit richten [...]. Diese analytische Trennung ist empirisch nicht immer einfach vorzunehmen, da Pogrome häufig in Kontext von Krieg, Bürgerkrieg und Genozid geschehen und vigilantische Gruppen Pogrome organisieren können, so dass diese in Massaker ausarten. Nach dieser Definition wären staatlich organisierte Gewaltaktionen, wie die sog. Reichskristallnacht von 1938, allenfalls als Extremfall der Kategorie Pogrom zuzurechnen. Dass die Nationalsozialisten ihr intern als Judenaktion begrifflich genauer bezeichnetes Vorgehen als Volkswut nur halbherzig maskierten, weist darauf hin, dass es sich hier um die Inszenierung eines Pogroms handelte."
 
Teilt ihr die Meinung meines Dozenten, dass die Reichskristallnacht kein Pogrom gewesen war, weil es sich um geplante Ausschreitungen gehandelt hatte?
Kurz gesagt nein!
Die Reichprogromnacht war ja nicht vom Staat organisiert und durchgefpührt,sondern von der NSDAP und ihren Unterorganisationen.
Daß die NSDAP zu der Zeit die Partei war ,die den Staat dominierte und die staatlichen Organe die Übergriffe duldeten
macht das ganze noch nicht zu einer staatlichen Veranstaltung.
 
Der Überschrift dieses Threads wohnt natürlich insofern Sprengstoff inne, als dass sie geschichtsrevisionistisch klingt, aber offenbar nicht so gemeint ist. Im Prinzip ist die Feststellung ja eine andere: Nicht Pogrom - ja oder nein? Sondern dass es sich um ein inszeniertes Pogrom handelt. Inszenierung heißt aber nicht, dass es nicht alle Kriterien eine Pogroms aufwies. Und es war ja leider nicht überall so, dass die Menschen peinlich berührt von den Ausschreitungen waren sondern vielerorts tatsächlich auch mitmachten. Eine Inszenierung war es, dass man den Befehl ausgab, in Zivil zu kommen (was nicht überall eingehalten wurde), um den Eindruck der Spontanität und Ungelenktheit, des Volkszorns zu erwecken. Aber de facto war es eben auch ein Mob, der jüdische Wohnungen, Geschäfte und Synagogen zerstörte, Menschen misshandelte, ausplünderte, einige tötete und fast alle männlichen Juden nach Buchenwald, Sachsenhausen oder Dachau schickte.

@Zaphod, ich muss dir widersprechen: Staat und Partei waren zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu trennen. Die SA hat schon seit 1933 polizeiliche Aufgaben mitübernommen und 1938 standen die staatlichen Behörden beifuß! Schließlich hat die Polizei an den meisten Orten nicht eingegriffen sondern zugesehen (oder mitgemacht) und die Feuerwehr hat auf Befehl die Synagogen an den meisten Orten einfach niederbrennen lassen, allein darauf bedacht, "arische" Nachbarbauten zu schützen.
Die Verknüpfung von Partei und Staat bestand auf allen Ebenen.
 
Nein,ElQ ,das sehe ich anders- wir sind uns sicherlich einig,daß es im Prinzip egal ist,ob es sich um ein Progrom handelt oder ob man die Sache anders definiert, aber wenn man schon in den Krümmeln analytischer Definitionen sucht, dann muß man auch genau schauen,wer die Ausführenden waren und in welcher Funktion sie tätig wurden. Und die Täter sind hier eindeutig dem Bereich der NSDAP zuzuordnen und sie handelten auch als Parteimitglieder.
Wie gesagt,staatliche Organe duldeten des Ganze, aber die Organisation und die Aktivitäten gingen von der Partei und nicht vom Staat aus -und damit handelt es sich auch bei enger Definitio zweifelsfrei um ein Progrom.

Auch in dem genannten Gesetz ist letztlich die Trennung von Partei und Staat pro forma festgelegt,sonst müßten staatliche Organe nicht zur Amtshilfe gegenüber Parteiorganen verpflichtet werden und es bedürfte auch keiner Sondergerichtsbarkeit
 
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Es handelt sich auf jeden Fall um ein Pogrom. Um ein nur inszeniertes Pogrom würde es sich handeln, wenn Täter und Opfer Schauspieler gewesen wären und niemand zu Schaden gekommen wäre. So, Inszenierung eines Volkszorns hin oder her, war es ein Pogrom.

Die Trennung von Staat und Partei ist nicht möglich. Ich hatte auf den Einsatz von SA als Hilfspolizei schon 1933 hingewiesen, Liborius auf das Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat. Weitere Maßnahmen kamen hinzu: Die Verpflichtung der Studenten der SA und dem NSDStB beizutreten (schon 1933), die Vereinnahmung der Jugend in HJ und BdM einschließlich des Zwangs über die Schule (verpflichtend ab 1938), der Eintritt in weitere der NSDAP angegliederte Organisationen wie dem NSLB, dem NSDÄB etc. waren mehr als nur karriereförderlich. Automatische Aufstiege von Beamten wurden bei Nichteintritt in diese Verbände ausgesetzt.
 
Die Trennung von Partei und Regierung halte ich für falsch. Beides war untrennbar miteinander verbunden ,wie in allen Einparteienstaaten. Auch in der DDR war das ein -und dasselbe ob ein Befehl von der Partei oder der Regierung kam. Goebbels, der Hauptanstifter war nicht nur Gauleiter sondern auch Propagandaminister und als solcher Regierungsmitglied.
 
Die Trennung von Partei und Regierung halte ich für falsch. Beides war untrennbar miteinander verbunden ,wie in allen Einparteienstaaten. Auch in der DDR war das ein -und dasselbe ob ein Befehl von der Partei oder der Regierung kam. Goebbels, der Hauptanstifter war nicht nur Gauleiter sondern auch Propagandaminister und als solcher Regierungsmitglied.

Wiewohl ich mit dir einer Meinung bin, kann eine Doppel- oder Mehrfunktion einer Person, die mehrere Ämter in Personalunion innehat, kein Argument für die Verschmelzung sein.
 
Wiewohl ich mit dir einer Meinung bin, kann eine Doppel- oder Mehrfunktion einer Person, die mehrere Ämter in Personalunion innehat, kein Argument für die Verschmelzung sein.
Da hast Du natürlich recht. Allerdings stand die Partei noch über dem Staat wie Hitler in seiner Rede "... nicht der Staat befiehlt uns sondern wir befehlen dem Staate.." unmissverständlich zu verstehen gab.

Ich bin aber auch der Meinung, dass der Dozent hier über das Ziel hinausgeschossen ist,indem er die Ereignisse nicht als Pogrom anerkennt, auch wenn die Bevölkerung weitestgehend passiv blieb.
 
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.., auch wenn die Bevölkerung weitestgehend passiv blieb.

Es gab zweifellos ein systematisches politisches Interesse des NS-Regimes an diesen Ausschreitungen. Und in diesem Sinne sind Pogrome, wenn nicht durch das herrschende politische Regime initiert, dennoch in der Regel passiv geduldet. Pogrome finden in der Regel nur statt, wenn die Staatsmacht sich bewußt passiv verhält.

Dennoch liefen sie auch teilweise "spontan" und sicherlich in Teilen unkontrolliert ab.

So beschreibt Burleigh die Akteure als "Mobs", die vandalisierten (S. 328). Es war teilweise direkte Gewalt, nicht zuletzt sehr häufig durch die SA, auch gegen sozial besser gestellte und zielte auch auf die individuelle Bereicherung ab.

The Third Reich: A New History - Michael Burleigh - Google Books

Perverserweise kritisierte Göring beispielsweise die Ausschreitungen, die für den Kurfürstendamm in Berlin als bürgerkriegsähnliche Szenen beschrieben worden sind, nicht wegen der Gewalt gegen die jüdische deutsche Bevölkerung, sondern weil auch die extrem teuren Fensterscheiben der Kaufhäuser sinnloserweise zerstört worden sind.

Insgesamt kann man die Ereignisse in den Kontext einordnen, den Götz Aly als kollektive Bereicherung an der jüdischen deutschen Bevölkerung thematisiert.

Hitlers Volksstaat: Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus - Götz Aly - Google Books
 
Zuletzt bearbeitet:
So wie es iFlroian schreibt kann man eigentlich nur verwundert sein, was da ein Dozent so von sich gibt.
Wir kennen aber den Zusammenhang nicht.

Deshalb kann es aber auch möglich sein, dass dieser Dozent dies als provokante Frage so in Raum gestellt hat, um eine Diskussion/Nachdenken unter den Schülern zu erzielen.

Interessant wäre deshalb auch mal die eigene Meinung vom Fragesteller zu hören.
Oder identifiziert er sich mit dem Zitat seines Beitrags Nr. 7?
 
Allerdings stand die Partei noch über dem Staat wie Hitler in seiner Rede "... nicht der Staat befiehlt uns sondern wir befehlen dem Staate.." unmissverständlich zu verstehen gab.

Guter Punkt.

So wie es iFlorian schreibt kann man eigentlich nur verwundert sein, was da ein Dozent so von sich gibt.
Wir kennen aber den Zusammenhang nicht.

Deshalb kann es aber auch möglich sein, dass dieser Dozent dies als provokante Frage so in Raum gestellt hat, um eine Diskussion/Nachdenken unter den Schülern zu erzielen.

Interessant wäre deshalb auch mal die eigene Meinung vom Fragesteller zu hören.
Oder identifiziert er sich mit dem Zitat seines Beitrags Nr. 7?

Ich sehe hier wirklich keinen Grund für eine derartige Urteilsbildung. An dem Verbrechenscharakter an sich und der Schwere des Verbrechens wird ja nicht gedeutelt. Man kann es allenfalls als apologetisch in dem Sinne lesen, dass die Schuld auf das Regime geschoben und die Bevölkerung freigesprochen wird.
Und was das angeht, so gibt es keine Kollektivschuld, dementsprechend kann es auch keine Kollektivunschuld geben...
 
Teilt ihr die Meinung meines Dozenten, dass die Reichskristallnacht kein Pogrom gewesen war, weil es sich um geplante Ausschreitungen gehandelt hatte? Für ihn gelten Pogrome, in der die Gewalt gegen eine Minderheit nicht vom Staat ausgeht und unorganisiert abläuft.

Der Begriff "Reichskristallnacht" ist im Inland durchaus noch gängig und im Ausland und entsprechenden wissenschaftlichen Publikationen üblich. Allerdings in der Regel mit den distanzierenden Anführungszeichen.

Problematisch ist, dass keiner der beiden Begriffe genau auf das Geschehen im November passt. Weder erfassen "Reichskristallnacht" noch "Reichspogromnacht" die ganze Wahrheit der Vorgänge. "Kristallnacht" bagatellisiert das Geschehen und erweckt den Eindruck, als seien "nur ein paar Scheiben" zu Bruch gegangen. Zudem verhöhnt eine solche Begrifflichkeit die Opfer.

Der Begriff "Reichspogromnacht" ist insofern irreführend, als er eine Identität mit den Judenpogromen des Mittelalters assoziiert. Damals handelte es sich um eine spontane Verfolgung und Ermordung von Juden, die direkt von der Bevölkerung ausging und vom Staat entweder bekämpft oder geduldet wurde. Das war im November 1938 nicht der Fall. Insofern erfasst "Reichspogromnacht" nicht das Spezielle des Vorgangs, nämlich die Organisation des Geschehens durch den Staat, der in diesem Fall und zu dieser Zeit identisch mit der NSDAP war. Der Staat lenkte die Einschüchterung, Enteignung und Deportation der jüdischen Bevölkerung, was im Begriff "Pogromnacht" nicht zum Ausdruck kommt und staatliche Behörden und NS-Entscheidungsträger entlasten hilft.

Wie man es auch dreht und wendet: Ganz geglückt ist weder der eine noch der andere Begriff, doch würde ich mich im Zweifelsfall stets für die "Reichspogromnacht" entscheiden.
 
Der Begriff "Reichspogromnacht" ist insofern irreführend, als er eine Identität mit den Judenpogromen des Mittelalters assoziiert.

Ich würde hier widersprechen. Ich habe den Streit um die Definition von "Pogrom" zwar verfolgt, aber meiner Meinung nach muss ein Pogrom nicht von einem Staat oder anderen Organisationen durchgeführt werden, ebenso wenig aber muss er auch nicht spontan sein. Er kann beides sein.

Und nicht anders würde ich die Ausschreitungen gegenüber den deutschen Juden sehen (in diesem Zusammenhang), als dass es sich um ein Pogrom handelt. Daher finde ich den Begriff "Reichspogromnacht" durchaus treffend.

Natürlich sagt er nichts darüber aus, ob es sich um eine spontane Aktion oder eine von einer Gruppe organisierte handelt. Allerdings beinhaltet er doch die Qualität, dass nämlich Juden bedrängt, Eigentum und Gebäude zerstört, Menschen verletzt oder gar getötet wurden.
 
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