Den "-s-Lokativ" erklärt
Cristian Kollmann am Beispiel Kiens als deutschen Genitiv:
Das -s haben also die Bajuwaren angefügt. Aber wann? Das -s kann aus althochdeutscher Zeit stammen oder erst aus viel späterer Zeit.
Wenn Kiens der einzige Beleg für den postulierten bairischen "-s Genitiv" ist, ist dies argumentativ sehr dünne. Zeitgleich mit der von Kollmann angeführten Schreibweise "Kiehna" findet sich auch schon die Schreibweise "Kienas", so dass "Kiehna" durchaus einen Transpriptionsfehler ("a" anstelle von "s") darstellen mag.
Für einen bairischen "-s Genitiv" fehlen mir zudem Belege außerhalb Tirols - selbst im Salzburgischen ist er nicht zu finden. Schon für das Althocheutsche scheint die Bildung mit lokativischem Dativ ("im Salzburgischen"), mit Präposition "ac", vorgeherrscht zu haben.
Eichler, Ernst; Hilty, Gerold; Löffler, Heinrich; Steger, Hugo; Zgusta ... - Ernst Eichler, Mouton De Gruyter - Google Books
Es scheint sich hier um ein spezifisch Tiroler Phänomen zu handeln:
TELFER-Homepage
Diese Ausscheidung des "-s" ist bei den allermeisten Ortsnamen mit vordeutscher Wurzel üblich. (Vergleiche die nichtdeutsche Endung "-s" mit der deutschen Endung "-en" in deutschen Ortsnamen wie Göttingen, Reutlingen, Oberhofen, Pfaffenhofen. Auch sie entfällt in Ableitungen: Göttinger, Reutlinger, Oberhofer, Pfaffenhofer.) (..)
Das Lokativ -s und somit seine Weglassung ist auch in Salzburg unbekannt, somit auch im östlichen Teil Nordtirols, das ja bis heute zur Salzburger Erzdiözese gehört (Schlitters und Uderns liegen links des Zillers).
Im westlichen Nordtirol hingegen ist nachgewiesen, dass die Mundart den starken Genitiv so sehr bevorzugt, daß sogar Ortsnamen deutschen Ursprunges ihr -s bekommen (Köfels, Kaisers, Sebls, u.a.) was allerdings gut in unser historisches Gesamtbild paßt.
Die These vom vorrömischen "-s Lokativ" geht auf Karl Finsterwalder, den Begründer der (Nord-)Tiroler Ortsnamensforschung, zurück (Link ganz am Ende des Posts). Weiterhin gibt es auch noch die These vom "lateinischen adjektivischen Plural -s" (Wattens <
ad fundus Vattanus = Bei den vatanischen Besitzungen, den Gütern des Vattus).
Eine gute Datierungshilfe liefert die Betonung.
Ortsnamen, die erst nach 1050 eingedeutscht wurden, haben den romanischen Akzent bewahrt. Ortsnamen, bei denen der Akzent auf die erste Silbe gerutscht ist, müssen vor 1050 germanisiert worden sein.
"So muss beispielsweise *Abuzánes, die romanische Vorform von Absam, vor 1050 eingedeutscht worden sein, sonst wäre die heutige Betonung nicht erklärbar, also: *Abuzánes > *Ábzanes > Ábsam. Hingegen ist Tobadíll irgendwann im Hochmittelalter, sicherlich jedoch nach 1050 übernommen worden."
Peter Anreiter; Christian Chapman; Gerhard Rampl
Die Gemeindenamen Tirols: Herkunft und Bedeutung
Innsbruck 2009
Auf welcher Basis die Herren Anreiter, Chapman und Rampl zu ihrer Ableitung kommen, ist mir etwas schleierhaft. Die in Deinem Zitat angeführten ersten zwei Namen scheinen so nicht belegt:
Absam - Die Geschichte von Absam
Der Ortsname „Abazanes“ tritt um das Jahr 1000 erstmals in einer Urkunde, die in den Traditionsbüchern der Diözese Brixen eingetragen ist, auf. Weiters weist das Urbar des Grafen Meinhard von 1288 für "Abzan" eine Steuer aus.
Die Datierung der Germanisierung auf 1050 geht aus den Belegen nicht hervor, und steht im Wiederspruch zu Belegen aus der Nachbarschaft. Für Axams findet sich zwischen 1200 und 1218 noch die Nennung
Berhtoldi plebani de Oscumnes, die erste Verkürzung auf
Auxuns erfolgte zeitgleich um 1200
.
Axams ? Wikipedia
Die oben genannten Ortsnamen Grinzens, Axams, Götzens, Natters, Mutters, Sistrans werden alle auf der ersten Silbe betont, sind also vor 1050 eingedeutscht worden.
Das gilt ausnahmslos für alle vorgermanischen Gemeindenamen im Bezirk Innsbruck: Aldrans, Ampass, Birgitz, Fritzens, Fulpmes, Matrei, Mieders, Sellrain, Telfes, Volders, Wattens...
Oh, da gibt es (neben Axams, übrigens bei Alteingesessenen "Axames" mit Betonung auf der zweiten Silbe genannt, vgl. Link weiter unten) einen Haufen Ausnahmen. Zunächst haben wir die
einsilbigen Namen (
Telfs). Dann traditionell
zweisilbige Namen, bei denen auch die romanische Betonung schon auf der vorletzten, d.h. ersten Silbe, lag (vg. Roma, Pisa etc.).
Natters z.B.wird auf idg.
*nat (naß, feucht) zurückgeführt, und dürfte immer schon zweisilbig bzw. mit Betonung auf dem Bedeutungsstamm gewesen sein.
Taufers wird auf oaidg.A
*θúb-ēr ‘Talverengung' zurückgeführt, ebenso ursprünglich zweisilbig.
Bei vielen anderen Namen bedarf es keiner "deutschen" Betonung für die Ableitung.
Ampass etwa dürfte die gleiche Wurzel wie
(Cortina d') Ampezzo enthalten, und zeigt, dass auch friaulische Lautverschiebung wunderbar einige der um Innsbruck beobachteten Verschiebungen erzeugen konnte.
Matrei als originär venetischer Name kann durch den venetischen Akzent auf der ersten Silbe erklärt werden.
Wölbell bei Axams ("Val bella") bedurfte nicht unbedingt germanische Hilfe bei der Akzentverlagerung (vgl
Valpolicella), und zeigt unverschobenes "b". Welche hochdeutsche Lautverschiebung das ebenfalls zu Axams gehörige
Pafnitz aus dem vermuteten vulgärlat.
pabunitiu (Futterplatz) hervorgebracht haben soll, ist mir schleierhaft - hier wäre doch wohl
Pappnitz zu erwarten gewesen. Auch
Pfons im Wipptal (1070
Phanes) bereitet diesbezüglich erhebliche Mühe, und erfordert systematisches Umgehen jeder Deutung aus
pons (Brücke).
Und beim aus lateinisch
villa hervorgegangene Innsbruck-
Vill ist es dem letzten Buchstaben lautlich nicht anders ergangen als jeder französischen
ville - ganz im Gegensatz zum alemannischen
Weiler.
Schön auch Kollmans Analyse zu
Kiens (a.a.O., S. 132ff)
Darüber hinaus ist in einer venetischen Inschrift in Este (Provinz Padua) der Vorname kvito belegt. Als kuitos begegnet der Name auch auf der gallischen Inschrift von Briona (Provinz Novara). (..) Ein entsprechender, mit unserem Wort ‘weiß’ urverwandter Personenname *Kwito < *Kwiton könnte also durchaus im Venetischen existiert haben und ins Gallische entlehnt worden sein. (..) Aus ostalpenidg. *Kwéidona, *Kwídona wurde im lateinischen Mund *Kwedona, *Kwidóna und durch vulgärlateinische Kürzung der Langvokale *Kwedó-na, *Kwidóna. Durch den westromanischen Ausfall von d in intervokalischer Stellung entstand *Kweó-na, *Kwióna und durch die alpenromanische Vereinfachung von Kw - zu K- schließlich alpenrom., altlad. *Keóna, *Kióna.
So erhalten wir durch Kollmann ein Beispiel der romanischen Verkürzung eines dreisilbigen auf ein zweisilbiges Wort. Die Akzentverlagerung von der zweiten auf die erste Silbe kann dann ebensogut aus dem Romanischen wie aus dem Altdeutschen abgeleitet werden [wobei Kiens in einer Region mit belegter frühbajuwarischer Besiedlung liegt,].
Birgitz schließlich wird erstmals 1254 als
Burgutsche genannt, erst 1312 erfolgt die Lautverschiebung zu
Pirgitz.
Unverschoben im Anlaut blieben u.a. Telfs, Telfes, und Taufers.
http://wwwu.uni-klu.ac.at/agroetsc/downloads/wiss_02.pdf
Zusammengefasst hege ich erhebliche Zweifel an der postulierten These der (a) ausschließlich germanisch verursachten und (b) schon vor 1050 erfolgten Akzentverschiebung auf die erste Silbe. Das angeblich früh germanisierte Axams liefert für den zweiten Fall den Gegenbeweis (
und die Nennung Auccumes aus 1208 mutet nicht wirklich bairisch an).
Wie auch in anderen "Grenzregionen" erfolgte der systematische Landesausbau erst im 12./ 13. Jahrhundert, belegt durch "Rodungsnamen" wie Reit im Winkl (Erstnennung 1160) oder Reutte/ Tirol (Erstnennung 1278). Für diese Zeit lässt sich auch weitgehende Germanisierung vorgermanischer Ortsnamen feststellen. Aus der Zeit davor gibt es eine Handvoll "ing"-Namen entlang des Inns - jedoch scheinen in Tirol "ing"-Namen noch bis ins 15.Jahrhundert hinein gegründet worden zu sein (fehlende Sekundärumlaute). "-heim" und "-beuren"-Namen fehlen in Nordtirol völlig, finden sich jedoch zweimal nahe Bruneck in Südtirol. Dort, und im angrenzenden Pustertal, wird von weitgehender Entvölkerung infolge von Slaven- bzw. Awareneinfällen, und nachfolgender bairischer Neubesiedlung ausgegangen. Für Zweisprachigkeit rund um Innsbruck bis in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts gibt es eine Vielzahl von Belegen, wie die Mischung aus verschobenen und unverschobenen vorgermanischen Orts- und Flurnamen, oder den noch 1160 bezeugten Personennamen
Solvagnus.
http://www.google.de/url?sa=t&rct=j...33mRUkVI3mTpj0L7dsX_CsQ&bvm=bv.80642063,d.ZWU
P.S: Habe gerade Deinen Folgepost gesehen. Besitzt Du das Buch von Anreiter/Chapman/ Rampl, oder hast Du es nur in einer Bibliothek angesehen? Die "keltische Insel" um Axams ist interessant, wo doch die dort angesiedelte Fritzens-Sanzeno-Kultur allgemein als rätisch gilt, und aus ihren Inschriften teilweise auf Sprachverwandschft mit dem Etruskischen geschlossen wurde, Nehmen Anreiter e.a. dazu Stellung?
Fritzens-Sanzeno-Kultur ? Wikipedia