WK-1: "Deutschland trug zweifellos große Schuld am Kriegsausbruch"

Thanepower: D'accord,

mit einer kleinen Einschränkung: der französische Kapitalmarkt war nicht Frankreich, und die französische Regierung hatte keinen relevanten Einfluss auf die Pariser Börse (Ausnahme: Notierungs- und Emissionsverbote, was hier von London über Paris, und Wien bis Berlin nicht relevant ist).
...

Witte erinnert das etwas anders:
"France was willing to open its money market to us, but
as a preliminary condition the French Government demanded
the conclusion of peace with Japan."
Es ist nach der Darstellung Wittes so, dass die französische Regierung entscheidenden Einfluss hatte und dergestalt auch Vorbedingungen setzte.
 
Danke für eure tollen Posts! Einfach fazinierend, dass das Thema immernoch so unterschiedliche Meinungen bzw. Teilaspekte anspricht und die Vielzahl an Positionen unterschiedlich gesehen wird. Darin kann man richtig verloren gehen. :)
 
Witte erinnert das etwas anders:

Nicht nur er allein! :winke:

Und nun? Hatl, was machen wir damit? Ein Widerspruch, oder doch keiner nach Quellenkritik und Wirtschaftsgeschichte?:weinen:

Vielleicht etwas am Rande: da gelang es doch tatsächlich im April 1905, eine short-term-Anleihe mit gemäßigten 5% in Berlin zu platzieren. Im April 1906 kam das Russland der frz. "Bitte" nach, für 2 Jahre keine Anleihe in Paris auszugeben. Und im Juli 1906 mussten sie sogar nachlegen: keine Anleihe 2 Jahre irgendwo an europäischen Kapitalmärkten. Warum? weil die Kleinanleger inzwischen gegen russische Anleihen an der Pariser Börse revoltierten? Und warum gelang das doch (während deutsche Banken und Börsen an dem großen Fisch nicht beteiligt werden wollten, und Zeichnungsangebote aus Russland und der emissionsführenden Pariser Börse zur Streuung dankend ablehnten) - weil man schon so hoch investiert war, und nichts riskieren wollte? Und wieso "retteten" die Cash Flows aus den gestreuten Anleihen das zaristische Russland? Wann "flossen" die überhaupt, und wofür?* Und was hatten die mit der Golddeckung zu tun:devil:

*EDIT und Nachtrag: Warum waren die 2.250 Mio. Rubel überhaupt fungibel, auch auf GBP, Mark, etc., und auch in Berlin, Amsterdam etc. einlösbar? Wo blieben die Zeichnungsscheine überhaupt?
 
Zuletzt bearbeitet:
Du meinst, ohne die militärische Auseinandersetzung mit Japan und dem folgenden Desaster, hätte Russland seine Vormachtstellung in Asien weiter behauptet und wäre somit nicht als Bündnispartner mit Großbritannien gegen das Deutsche Reich eingetreten?

Der Einfluss des Krieges 1904/05 mit der folgenden Umorientierung des Schwerpunktes der russischen Außenpolitik - vorherrschende Blickrichtung zurück zum Westen - wird so in der Literatur vertreten.

Man kann darüber spekulieren, was in den nächsten 10 Jahren ansonsten geschehen wäre. Das Abschneiden der Expansion in Fernost, die Schwächung durch den Krieg, ist außerdem eine wichtige Voraussetzung gewesen, dass sich RUS zu einem Interessenausgleich mit GB 1907 bewegte und das Konfliktpotenzial Persien-Indien-China reduzierte (Ende des "Great Game")
 
Nicht nur er allein! :winke:

Und nun? Hatl, was machen wir damit? Ein Widerspruch, oder doch keiner nach Quellenkritik und Wirtschaftsgeschichte?:weinen:
..

:D
Der Argumentation kann ich ohne weiteres folgen.

Den Rest kann ich leider nicht richtig deuten.
Ich weiß ja nicht ob das nicht zu weit vom Thema abdriftet.
Interessieren tät es mich schon, denn ich hab grad den Eindruck, dass die Story die ich mir dazu vorgestellt habe fehlerhaft sein kann.
Die Frage wäre: Welche Summe von wem, wie stark benötigt, wie kommt die Bewilligung derselben zustanden.
 
Sehr schwer. Ich besitze nicht die Kompetenz von u.a. dir, thanepower oder Turgot, um diese hinreichend einordnen zu können.

Ich finde die Quelle relativ glaubwürdig. Zum einen dadurch, dass diese nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren wie die Tagebücherseiten, die anscheinend nachträglich angepasst worden sind. Alleine dies ist für mich wie auch im Artikel ein Indiz dafür, dass Riezler etwas zu beschönigen versucht hatte. Zum anderen passt es in das Bild bzw. die Argumente, die ihr angeführt habt. Dass die Ereignisse nicht geplant, aber die Gelegenheit in den Augen der Reichsregierung günstig erschien, um sich in der Weltpolitik besser zu positionieren. Wie ihr gesagt habt, auch angesichts der Angst vor einem immer stärker werdenen Russland.

Zum anderen passt es für mich persönlich, da ich das späte Deutsche Kaiserreich immer als etwas gesehen habe, dass sich minderwertig gegenüber den anderen Staaten gefühlt hat. Das ist natürlich nur mein subjektiver Eindruck.

Für mich war Bethmann-Hollweg nie ein Zauderer, wie er manchmal beschrieben worden ist. Ich habe ihn immer eher als "naiv" wahrgenommen.
 
Danke erst mal für die Einschätzung.

Letztlich sind wir doch auf die Kompetenz der Fachliteratur angewiesen, und hier liegt noch nichts vor. Da bin ich sehr auf die weitere Entwicklung gespannt.

So aus der Hand würde ich das ähnlich sehen wie beschreiben. Der zentrale Streit wird wohl darum gehen, wie die Briefe im Hinblick auf die Tagebücher und die Nuancen zu sehen sind, mit der man die Bethmannsche Risikopolitik bewertet.

Grundsätzlich bestätigen die Briefe die älteren Einschätzungen zum Ziel des Blankoschecks und der frühen Julipolitik. Was hier neu sein könnte, ist die Bewertung der Detailfragen
a) wie die tatsächliche persönliche Einschätzung der Gefahr vorlag, dass aus dem angestrebten lokalen Serbien-Krieg ein Europäischer entsteht - hier wurde bislang wohl überwiegend davon ausgegangen, dass man in der Frühphase vor dem Ultimatum ernsthaft meinte, die Gefahr des Flächenbrandes sei gering
b) ob hier sogar sozusagen "jedes Risiko" genommen werden sollte oder man sich (ältere Auffassung) über das "in Kauf genommene Risiko" möglicherweise getäuscht hat.
c) ob eine Neubewertung der Rolle des Militärs in der Endphase erfolgen muss (wird im Artikel angedeutet) - und wie ernsthaft Bethmannsche Bedenken gegen Ende Juli waren, das "Zurückrudern". Da sehe ich noch keinen unmittelbaren Bruch, bzw. keinen Aufschluss aus den Briefen.

Daher bleibt es spannend.
 
Die "ältere Einschätzung" unterstützend? Wenn ich deine Punkte a) und b) lese, dann interpretiere ich die ältere Einschätzung so, dass man von einer geringeren Schuld Deutschlands aufgrund einer falschen Risikoanalyse ausging. Oder verstehe ich das falsch?
 
Ich würde die Schulddiskussion außer Acht lassen.

Bei der Bemerkung ging es mir die Frage, wie die Literatur diese seinerzeitige "Kalkulation" des Risikos eingeschätzt hat, bis hin zu der "brinkmanship"-Debatte: Grob fahrlässig, billigend, vorsätzlich - aus einer defensiven Position heraus oder offensiv zur Machtentfaltung?

Wie jetzt die Verarbeitung in der Literatur erfolgt, darauf bin ich gespannt. Ich würde das Material so interpretieren, dass die "Gelegenheit" und nicht eine empfundene "Bedrohung" im Vordergrund stand, und bei dem "Sprengversuch" der Große Europäische Krieg bewusst in Kauf genommen werden sollte.

Aber da sollte man die Forschung abwarten. So ist mE zB Schröder bestätigt, der keinen "kausalen Zusammenhang" zwischen der Kriseneskalation ab dem 5.7. und den britisch-russischen Marinegesprächen konstatiert hat, also in dieser speziellen Richtung ein "defensives Motiv" der Risikopolitik ausschließt. Mit den klaren Äußerungen in dem Material zur Kriseneskalation (billigend bis zum Kriegsausbruch) stellt sich auch die Frage, ob in der Forschung wieder der Zusammenhang zum s.g. Kriegsrat Dezember 1912 und den darin besprochenen "Hausaufgaben" (Rüstung, KW-Kanal, politische Beeinflussung, Heeresvermehrung) aufgegriffen wird, bzw. sich die Beeinflussung Bethmanns durch die Militärs mit Präventivkriegsgedanken bestätigen lässt. Auch dazu sollte man Publikationen abwarten.
 
Wäre es ein Problem, diesen Interessanten Ansatz auf eine gut übersetzte Deutsche Version hier darzustellen?

Das ist ja erstmal nur ein Hinweis auf eine Veröffentlichung.

Den Ansatz kann man sicher in den wesentlichen Thesen zusammenfassen.

Das Buch ist allerdings recht neu, 2015er Publikation.
Ich kenne es auch noch nicht. Daher Dank für den Hinweis.

Vielleicht hat thanepower schon einen Überblick gewonnen?
 
Vielleicht hat thanepower schon einen Überblick gewonnen?

Hatte mich mit dem Buch nur oberflächlig beschäftigt unter dem Gesichtspunkt Monroe-Doktrin bzw. der Venezuela-Krise 1903.

Die Literatur zu dem Thema kann man allgemein dahingehend subsumieren, dass sie sich mit "kurzen und langen Wegen" in den WW1 beschäftigt. Gardner betrachtet die Genese aus der Sicht der langen Wege.

Im Kern seiner Analyse steht die Veränderung der "Balance of Power", ausgelöst durch eine Reihe von Ereignissen, in Anlehnung an Disraeli.

1. Dem Deutsch-Französischen Krieg 79/71
2. Der Neuorientierung der Pax Britannica

Im Kern steht für ihn die Diplomatie von GB, die sich vor diesem politischen Hintergrund neu orientieren muss.

In diesem Sinne wurden wichtige Entscheidungen über Büdniskonstellationen im Jahr 1914 deutlich vorher getroffen. Diese Bündniskonstellationen haben die Balance of Power in Europa, als Ausdruck der "alten europäischen Diplomatie" intransparent, übersensitiv und handlungsunfähig gemacht.

In der Phase der Neuorientierung des letzen Jahrzehnts bis 1902 (Fashoda-Krise) sieht er für GB eine problematische bündnispolitische Mechanik, die darauf hinaus lief, je stärker sich GB an dem DR orientierte, desto stärker festigte es die Allianz zwischen Frankreich und Russland. Für das überdehnte britische Empire eine gefährliche Situation.

In dieser Phase suchte vor allem J. Chamberlain eine Absicherung des Empire durch eine Allianz mit den USA und mit dem Deutschen Reich. Der nicht zuletzt deshalb nicht realisiert werden konnte, da die Ambitionen des DR in der Karibik zu einem Konflikt mit den USA geführt haben.

Vor allem setzt er sich kritisch mit der "spendid isolation" auseinander, die durch Inaktivität es nicht schaffte, den Konflikt zwischen Frankreich und dem DR konsensual beizulegen. Und sieht in diesem Kontext ein Versagen der britischen Gleichgewichts-Diplomatie. Die Blockbildung, die auch zur Eskalation in Richtung WW1 beigetragen hatte, hätte durch die Mediatisierung durch GB im Vorfeld entschärft werden können.

In einem anderen Sinne ist der Gedankengang auch deshalb interessant, weil er das diplomatische Konzept Europas, das auf eine militärisches Gleichgewicht abzielte und die Blockbildung als Stabilisierung des Status quo förderte, problematisiert. Und stattdessen die Auflösung bzw. die Entschärfung der Blockstrukturen als erfolgversprechende Alternative betont, gerade für GB.
 
Zuletzt bearbeitet:
Der Einfluss des Krieges 1904/05 mit der folgenden Umorientierung des Schwerpunktes der russischen Außenpolitik - vorherrschende Blickrichtung zurück zum Westen - wird so in der Literatur vertreten.

Man kann darüber spekulieren, was in den nächsten 10 Jahren ansonsten geschehen wäre. Das Abschneiden der Expansion in Fernost, die Schwächung durch den Krieg, ist außerdem eine wichtige Voraussetzung gewesen, dass sich RUS zu einem Interessenausgleich mit GB 1907 bewegte und das Konfliktpotenzial Persien-Indien-China reduzierte (Ende des "Great Game")

Russland hat in dieser Zeit ja auch, verständlicherweise, eine lebhaftes Interesse an guten Beziehungen zu Wien und Berlin gehabt. Ja, das ging sogar soweit, das es zu einer Neutralitätsdeklaration zwischen Wien und Petersburg im Jahre 1904 gekommen war.
Der Ballhausplatz hatte sich erkennbar gegen den verbündeten Feind Italien abgesichert.
Die Rückwirkungen der Auseinandersetzungen in Ostasien können nicht unterschätzt werden; sie waren beträchtlich.
 
Hatte mich mit dem Buch nur oberflächlig beschäftigt unter dem Gesichtspunkt Monroe-Doktrin bzw. der Venezuela-Krise 1903.

Die Literatur zu dem Thema kann man allgemein dahingehend subsumieren, dass sie sich mit "kurzen und langen Wegen" in den WW1 beschäftigt. Gardner betrachtet die Genese aus der Sicht der langen Wege.

Im Kern seiner Analyse steht die Veränderung der "Balance of Power", ausgelöst durch eine Reihe von Ereignissen, in Anlehnung an Disraeli.

1. Dem Deutsch-Französischen Krieg 79/71
2. Der Neuorientierung der Pax Britannica

Im Kern steht für ihn die Diplomatie von GB, die sich vor diesem politischen Hintergrund neu orientieren muss.

In diesem Sinne wurden wichtige Entscheidungen über Büdniskonstellationen im Jahr 1914 deutlich vorher getroffen. Diese Bündniskonstellationen haben die Balance of Power in Europa, als Ausdruck der "alten europäischen Diplomatie" intransparent, übersensitiv und handlungsunfähig gemacht.

In der Phase der Neuorientierung des letzen Jahrzehnts bis 1902 (Fashoda-Krise) sieht er für GB eine problematische bündnispolitische Mechanik, die darauf hinaus lief, je stärker sich GB an dem DR orientierte, desto stärker festigte es die Allianz zwischen Frankreich und Russland. Für das überdehnte britische Empire eine gefährliche Situation.

In dieser Phase suchte vor allem J. Chamberlain eine Absicherung des Empire durch eine Allianz mit den USA und mit dem Deutschen Reich. Der nicht zuletzt deshalb nicht realisiert werden konnte, da die Ambitionen des DR in der Karibik zu einem Konflikt mit den USA geführt haben.

Vor allem setzt er sich kritisch mit der "spendid isolation" auseinander, die durch Inaktivität es nicht schaffte, den Konflikt zwischen Frankreich und dem DR konsensual beizulegen. Und sieht in diesem Kontext ein Versagen der britischen Gleichgewichts-Diplomatie. Die Blockbildung, die auch zur Eskalation in Richtung WW1 beigetragen hatte, hätte durch die Mediatisierung durch GB im Vorfeld entschärft werden können.

In einem anderen Sinne ist der Gedankengang auch deshalb interessant, weil er das diplomatische Konzept Europas, das auf eine militärisches Gleichgewicht abzielte und die Blockbildung als Stabilisierung des Status quo förderte, problematisiert. Und stattdessen die Auflösung bzw. die Entschärfung der Blockstrukturen als erfolgversprechende Alternative betont, gerade für GB.

Danke für die Informationen.
 
Zurück
Oben