Patriotismus gestern und heute

hpbrill

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In meinem Video-Blog 'meinFrankfurt' auf YouTube habe ich einen Beitrag zum Thema Patriotismus veröffentlicht.

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Nach den Forenregeln ist Tagespolitik außerdem nicht Gegenstand des Geschichtsforums]


Mich würden sachlich geäußerte Meinungen dazu interessieren.
 
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In meinem Video-Blog 'meinFrankfurt' auf YouTube habe ich einen Beitrag zum Thema Patriotismus veröffentlicht.

Mich würden sachlich geäußerte Meinungen dazu interessieren.

Es sollte ja wohl kein Problem sein, die zentralen Thesen kurz oder auch länger argumentativ darzustellen.

Zumal sich andere ja dazu äußern sollen und nicht alle Lust haben irgendwelche vids anzusehen.

Ansonsten ist "Patriotismus" historisch in einer Dimension diskreditiert, durch mehr als nur 2 Weltkriege und die damit zusammenhängenden ca. 70 Millionen Tote, dass es schon sehr überzeugender Argumente bedarf, ernsthaft über die Sinnhaftigkeit eines ideologisch überzeichneten Nationalismus zu diskutieren.

Und die Gefahren, die aus einem "Patriotismus" resultieren kann man in der Schnittmenge der Analyse von G. Mosse, Die Nationalisierung der Massen und von D. Riesman: Die einsame Masse sehen und bieten das Potential einer erneuten Instrumentalisierung einer verführten Masse für dubiose politische Ziele. Und an dem Punkt würde H. Arendt verständnisvoll und zustimmend nicken.
 
Zuletzt bearbeitet:
Es sollte ja wohl kein Problem sein, die zentralen Thesen kurz oder auch länger argumentativ darzustellen.

Die argumentative Darstellung wird sogar ein erhebliches Problem auslösen...

Google doch mal mit den Suchbegriffen "brill" + frankfurt + patriot , dann wird recht fix klar, welche Art von "Patriotismus" gemeint sein könnte.
 
"Patriotismus ist die Strassenhure unter den Gefühlen. Sie geht mit jedem, und wenn man nicht aufpasst, fängt man sich etwas schlimmeres ein"

Weiss leider nicht mehr, von wem das Zitat stammt.
 
Da tagesaktuelle Themen nicht in ein Geschichtsforum gehören beziehe ich mich auf allgemeine Aussagen aus deinem Video.

Zu deinem Video hätte ich mehre Anmerkungen:

1. Deine Aussage, dass sogenannte Patrioten andere Länder nicht von Grund auf verachten, ist zwar so vereinfacht richtig, jedoch - genau betrachtet - sieht man, dass Patriotismus dies - in gewisser Weise - doch tut. Patriot ist jemand - auch nach deiner Aussage - der stolz auf sein Land (+Kultur, Werte (die man dem eigenen "Volk" oder dem Land zuspricht), Errungenschaften, Charakterzüge der Menschen dieses Landes (die sogenannten "deutschen Tugenden": Pünktlichkeit, etc), etc...) ist. Dadurch, dass ein sogannter Patriot diese spezifischen Sachen als sein eigenes - "nationales" - Gut ansieht und sein eigenes Land als beste Erscheinungsform ansieht, stellt er andere Länder und "Völker" auf einen niedrigeren Rang als den seines eigenen Landes. Und da sieht man, dass der Patriotismus eigentlich nur eine nette Bezeichnung - sozusagen die "höfliche Ausdrucksweise" - von Nationalismus ist.
Persönlich finde ich den Begriff "Patriotismus" auch ziemlich schönend und verharmlosend. Wenn man schon unbedingt nationalistische Strömung unterteilen möchte in Nationalismus und eine "harmlosere" Strömung, dann sollte man diese zweite Strömung nicht Patriotismus nennen, sondern diese Strömung patriotistisch nennen, damit man auf den absolutistischen Anspruch der nationalistischen Strömungen direkt hinweist.
2. Die Beispiele die gezeigt werden, auf die man als Patriotist stolz sein kann, sind alles Beispiele für eine autoritäre, unfreiheitliche Politik. Wenn man als Patriotist also stolz auf autoritäre Politikstrukturen und autoritäres Machtgehabe ist, dann diskreditiert sich der Patriotist selbst.
3. Dein ganzer Beitrag verliert jegliche, verbeibende Seriosität mit deinem albernem Seitenkommentar gegen sogenannte Linksextremisten, welche sich gegen ein autoritäres Machtgefüge einsetzen, sogenannte "Vaterlandsliebhaber- und liebhaberinnen (heute auch 'besorgte Bürger' genannt - Liebe Mods, bitte entschuldigt den Bezug zu aktuellen Geschehnissen) in ihre Schranken verweisen und sich einsetzen für eine tolerante Gesellschaft.

Als weiteren Vorschlag hätte ich, dass du dich erstens mit nationalistischen Strömungen besser auseinandersetzen solltest, damit du den Patriotismus nicht mehr verunglimpfst als irgendeine "Liebes-Bewegung" (Liebe zum "Vaterland"), sondern sie als die intolerante Meinung und Othering-Bewegung erkennst, die ihr eigenes Bezugsobjekt (das jeweilige "Vaterland", was geliebt wird oder die Vision, die man von diesem "Vaterland" hat) zum non-plus-ultra erklärt, ausserdem solltest duch dich besser mit der sogenannten "Extremismus-Forschung" auseinandersetzen, damit du anti-patriotische/anti-nationalistische Bewegung nicht als "Linksextreme" homogenisierst (eine Debatte über die Extremismus-Forschung, hier im Forum wäre bestimmt auch interessant).
 
thanepower schrieb:
Und die Gefahren, die aus einem "Patriotismus" resultieren kann man in der Schnittmenge der Analyse von G. Mosse, Die Nationalisierung der Massen und von D. Riesman: Die einsame Masse sehen und bieten das Potential einer erneuten Instrumentalisierung einer verführten Masse für dubiose politische Ziele. Und an dem Punkt würde H. Arendt verständnisvoll und zustimmend nicken.

... sondern diese Strömung patriotistisch nennen, damit man auf den absolutistischen Anspruch der nationalistischen Strömungen direkt hinweist.

Btw: Patriotismus gestern

Haben sich eigentlich Anthropologen etc. mal damit beschäftigt, ob sich aus dieser Instrumentalisierbarkeit oder der emotionalen Aufladung der Menschen in der Gruppe frühzeitlich Aspekte ergaben?

Sind das Funktionen zur Stärkung der Gruppe, zur "Führbarkeit"?

Gab es das mehr oder weniger ausgeprägt, oder ist das erst ein Aspekt in komplexeren Gesellschaftsstrukturen? Gehört das in diese "kinship"- oder Hierarchie-Debatten? Hängt das mit Sesshaftigkeit zusammen (sozusagen "Revierverhalten")?

Da müssten sich doch die Fachwissenschaften mal mit beschäftigt haben.
 
ist das Sklavengirl Aida eine Patriotin, weil sie zu herzzerreissender Musik mit herzzerreissender Melodie o patria mia, moi piu ti rivedro singt?

wenn ja: ist damit Verdis Oper nun unten durch?
 
Ich vermisse den Patriotismus manchmal. Ich hab einige Zeit in Frankreich gelebt und jetzt in den USA. Dieses "Right or Wrong - my Country" kann über manche Verwerfungen weghelfen. Ich hatte schon manchmal den Eindruck, dass uns dieser nationale Rückenwind fehlt, um Interessen durchzusetzen. Aus Patriotismus kann so eine Eindeutigkeit, eine zweifelsfreie Zone, ein "Kein-ja-aber" resultieren.

Aber egal, hilft ja nichts. Es führt kein Weg zurück.
 
ist das Sklavengirl Aida eine Patriotin, weil sie zu herzzerreissender Musik mit herzzerreissender Melodie o patria mia, moi piu ti rivedro singt?

In der damaligen Zeit kann man das, noch gepaart mit "Verrat", vielleicht als Ansprache an Patriotismus verorten.

Heute wirkt das eher wie ordinäres Heimweh nach Familie, Freunde und gewohnter Umgebung. Ist bei mir schon nach drei Wochen so, wenn ich in Asien unterwegs bin. Bei anderen nach drei Tagen.

Dabei geht es eher um persönliche Bindungen, Essen und Ruhe (Chennai!) usw., als um die Nationalhymne.

Der Mensch ist halt ein Gewohnheitstier, und durch Erfahrungen gestempelt und geprägt.
 
Der norwegische Nationalstolz, der ja landlæufig gerne als "gesund" eingestuft wird, entlockt mir immer ein Læcheln, man ist "verdens beste land" (das beste Land der Welt) und ahnt nicht, was sich in anderen europ. Lændern so abspielt, sei es kulinarisch, kulturell, gesundheitspolitisch oder beim Strassenbau. Der Blick ueber'n Tellerrand wuerde ernuechtern. Und wenn er mal stattfindet, zieht man daraus keine Konsequenzen.

Gruss, muheijo
 
Ich vermisse den Patriotismus manchmal. Ich hab einige Zeit in Frankreich gelebt und jetzt in den USA. Dieses "Right or Wrong - my Country" kann über manche Verwerfungen weghelfen. Ich hatte schon manchmal den Eindruck, dass uns dieser nationale Rückenwind fehlt, um Interessen durchzusetzen. Aus Patriotismus kann so eine Eindeutigkeit, eine zweifelsfreie Zone, ein "Kein-ja-aber" resultieren.

Aber egal, hilft ja nichts. Es führt kein Weg zurück.
Das Problem wird aber dann eines, wenn diese Eindeutigkeit nicht vorliegt bzw. ein Kampf über die Deutungshoheit entbrennt.

In Europa sehen wir ja, wie Verwerfungen gut (nach dem Krieg) und weniger gut (große Bereiche der Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik) überwunden werden können. Für eine gute Lösung dürfen nicht nur die eigenen Interessen bewertet werden, das funktioniert ja nicht einmal bei gleichmäßig starken Partnern.
 
Das Problem wird aber dann eines, wenn diese Eindeutigkeit nicht vorliegt bzw. ein Kampf über die Deutungshoheit entbrennt.

Genau! Das ist der zentrale Punkt. Im Prinzip ist der heutige Patriotismus eine wertbasierte Form des Nationalismus. Er basiert in der heutigen Form auf unserem Verständnis des modernen Nationalstaats.

Traditionell wird der moderne Patriotismus - seit der Französischen Revolution - mit bestimmten kulturellen Werten in Verbindung gebracht. In diesem Sinne ist die Aufladung der Werte - ihre ideologische Formulierung - die Aufgabe der Eliten einer Gesellschaft und somit anfällig für eine Instrumentalisierung durch diese Eliten. Im Falle Deutschlands, um bestimmte hegemoniale Ziele im 20. Jahrhundert durchzusetzen. Ähnliche Formen einer Instrumentalisierung des "Patriotismus" ließe sich auch für andere Länder finden

Im Gegensatz dazu thematisiert vor allem Habermas die positive Seite des Patriotismus, der nicht mehr an konfliktbeladene subjektive Werte von gesellschaftlichen Teilgruppen !!! gebunden ist, sondern sich im wesentlichen an einem konsensualen und verbindlichen "Verfassungs-Patriotismus" orientiert.

Im Rahmen der Demokratie geht die Verfassung und die sie tragende politische Institutionen vom Volk aus und sollten somit auch - im normativen Sinne - den Stolz bzw. Patriotismus des Volkes auf sich ziehen.

Unter dieser Voraussetzung entsteht eine "Civitas", die aktiv den demokratischen Staat trägt und durch Identifizierung mit seinen Verfassungsnormen ihn entwickelt.

In diesem Sinne bin ich ein deutscher Patriot im Rahmen einer europäischen Werte- bzw. Völkergemeinschaft.

PS und OT: Deutschland ist verdient Fussball-Weltmeister geworden.Weil es die beste Mannschaft bei der letzten WM war und den besten Trainer hatte. Aber das hat m.E. absolut nichts mit "Patriotismus" zu tun und ist auch kein Grund für mich, persönlich auf die Leistung dieser Mannschaft stolz zu sein oder mich damit zu identifizieren. Ich war nicht an der Erbringung dieser Leistung beteiligt, obwohl ich gerne mitgespielt hätte.:D
 
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"Der Mensch ist ein politisches Geschöpf, das am liebsten zu Klumpen geballt sein Leben verbringt. Jeder Klumpen haßt die andern Klumpen, weil sie die anderen sind, und haßt die eignen, weil sie die eignen sind. Den letzteren Haß nennt man Patriotismus. Jeder Mensch hat eine Leber, eine Milz, eine Lunge und eine Fahne; sämtliche vier Organe sind lebenswichtig. Es soll Menschen ohne Leber, ohne Milz und mit halber Lunge geben; Menschen ohne Fahne gibt es nicht."

aus: Der Mensch von Kurt Tucholsky
 
Es ist eine Metapher, die benutzt wird und weist darauf hin, dass moderne Staaten unter anderem eine Sozialintegration leisten müssen [4].

In den Anfängen der Nationalstaaten bildete u.a. der "Patriotismus" eine integrierende Kraft, um die politischen Gebilde zu einem einheitlichen Handeln zu veranlassen. In diesem Sinne ist beispielsweise auch die These von Wehler zum "Sozial-Imperialismus" zu verstehen.

Ansonsten ist das Gerede vom 4. Organ natürlich problematisch und fällt in den Bereich dessen, was B. Anderson als "Imagined Communities" bezeichnet.[1] Es wird etwas "konstruiert", das es im Gegensatz zu der Funktion von Organe nicht gibt.

Und in dieser Kontinuität begreift beispielsweise auch Habermas [3] oder Bourdieu [2] die Ausbildung von Nationalstaaten. Sie sind im wesentlichen die Ergebnisse von Prozessen der "nationalen Erzählungen" und somit ein "Kulturprodukt", wie bei Münkler auch beschrieben in "Die Deutschen und ihre Mythen".

1. Anderson, Benedict R. O'G (2005): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt/Main, New York: Campus-Verl.
2. Bourdieu, Pierre (2013): Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989-1992. Berlin: Suhrkamp.
3. Habermas, Jürgen (1998): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp
4. Habermas, Jürgen (1999): Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp
 
Ansonsten ist das Gerede vom 4. Organ natürlich problematisch und fällt in den Bereich dessen, was B. Anderson als "Imagined Communities" bezeichnet. Es wird etwas "konstruiert", das es im Gegensatz zu der Funktion von Organe nicht gibt.

Ich denke, man sollte Tucholsky da nicht so wörtlich nehmen. "Der Mensch" ist ein recht ironisches, oder sogar verbittertes?, Stück Lyrik - dass ich es zitierte, war eher augenzwinkernd gemeint.
 
Nähern wir uns noch einmal dem Thema von der soziologischen Seite mit Bezug auf Tönnies [4] und versuchen noch einmal das Phänomen "Patriotismus" historisch einzuordnen. Vor diesem Hintergrund der Thesen von Tönnis kommen einer Reihe von Institutionen und Organisationen die Funktion zu, Staaten im Zuge der Vergesellschaftung zu integrieren.

In normalen Zeiten kann eine Gesellschaft durch tradierte Normen der Moral und durch das etablierte positive Recht in ihrer Funktionsfähigkeit gewährleistet werden. Ergänzt wird diese gesellschaftliche Integration durch administrative und/oder politische Institutionen. Diese Leistung kann u.a. durch eine Reihe von schockartigen Ereignissen außer Kraft gesetzt werden.

In der Folge kann die soziale Integration durch Repression erzwungen werden oder aber durch die freiwillige Unterwerfung unter einen gemeinsamen "Willen". Dieses kann in Form von Spielarten des Patriotismus erfolgen.

Die Existenz des Patriotismus kann für die gesamte Welt gezeigt werden, über unterschiedliche Kulturkreise hinweg und sollte somit auch losgelöst von einer reinen "deutschen" Interpretation tragfähig sein.

Es sind in den letzten 200 Jahren vor allem wirtschaftliche Entwicklungen, die sich in Form von boomendem Wachstum oder von gravierenden Rezessionen in das Bewußtsein der jeweiligen Generationen eingeprägt haben. Mit sehr unterschiedlichen Effekten für die Verteilung des Reichtums, wie Piketty es in der historischen Entwicklung gezeigt hat [4]

Vor diesem Hintergrund der zunehmenden Gefahr einer "Kolonialisierung von Lebenswelten" (Habermas) durch wirtschaftliche Entwicklungen im Rahmen der Globalisierung, greift vor allem Castells in komparativer Absicht die Frage der kollektiven Identität auf, die sich lokal oder regional neu organisiert

Und seine These zielt darauf ab, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen in vielen Teilen der Welt als eine Bedrohung der tradierten Werte und Normen angesehen werden und teilweise zu radikalen, und auch teils terroristischen, Antworten führen. Es wird eine "patriotisch" angeleitete "Gegen-Identität" erzeugt, die den jeweiligen Mitglieder eine kollektive Identität verschafft. Dabei kann der Inhalt dieser kollektiven Identität bzw. des nach außen gerichteten "Patriotismus" durch philosophische Konzepte, wie einen radikalen "Befreiungs-Marxismus" oder durch religiöse Werte, wie einen militanten Islam, angereichert werden.

Erstaunlicherweise ergibt sich in Bezug auf die Auslösung eines erhöhten Patriotismus gerade zum Ende der Weimarer Republik eine interessante Parallele. Der Aufstieg von Hitler, soweit sind sich Falter (Hitlers Wähler) und Childers (The Nazi Voter) einig, ist eng mit den verheerenden Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise verbunden.

Es war von den Wählern nicht lediglich eine "Protestwahl" gegen die - vermeintlich -inkompetenten demokratischen Politiker, sondern auch eine Protestwahl gegen die Auswirkungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Zum einen, da Hitler eine schnelle Alternative versprach und somit Problemlösungskompetenz suggerierte, zum anderen aber auch, dass durch anti-moderne Wirtschaftskonzepte eine wählerwirksame Position gegen den Kapitalismus bezogen wurde und somit die Möglichkeit zur Überwindung des Kapitalismus und seiner Krisen versprochen wurde [1].

In diesem Sinne speiste sich der "Patriotismus" der Wähler Hitlers nicht ausschließlich aus der Ablehnung des VV, sondern ganz wesentlich auch - und das vor allem aus dem neuen Mittelstand - aus der Angst vor dem wirtschaftlich induzierten sozialen Abstieg in die Arbeiterschicht.

Historisch und auch aktuell kann man somit die weltweiten Formen des "Patriotismus" als eine Spielart einer aggressiven defensive Ideologie verstehen. Sie verspricht Schutz gegen Entwicklungen, die Gewinner und Verlierer kennt und genau an diesem Punkt entwickelt sie eine enorme Anziehungskraft. Bezüge zu aktuellen deutschen Entwicklungen mag jeder selber herstellen.

1. Bavaj, Riccardo (2003): Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus. Eine Bilanz der Forschung. München: R. Oldenbourg.
2. Castells, Manuel (2010): The power of identity. The information age: economy, society, and culture. 2nd ed. Volume II. Malden, MA: Wiley-Blackwell
3. Piketty, Thomas (2014): Capital in the twenty-first century. Cambridge, Mass. [u.a.]: The Belknap Press of Harvard Univ. Press.
4. Tönnies, Ferdinand (1963): Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. 8. Auflage. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
 
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Wenn das tatsächlich die soziologische Annäherung an den Patriotismus ist, weiss ich wieder, warum ich bei der alleinigen Nennung der Soziologie Juckreiz kriege.

Krupp war Kapitalist und Patriot und von keinerlei Abstiegsängsten geplagt. Wie passt der in das Abstiegsschema? Richtig, gar nicht.

Patriotismus ist doch kein Phänomen abstiegsbedrohter Schichten. Das ist so offensichtlich Quark, dass man schon gar keine Lust mehr hat, Beispiele wie das preussische Offizierskorps oder die us-amerikanische Wirtschaftselite anzuführen. Patriotismus ist doch mindestens so oft ein Instrument, die fetten Pfründe zu verteidigen, wie er ein Mittel ist, sich dieselben zu krallen. Mindestens!!!!

Es macht daher gar keinen Sinn Marxismus, Islamismus, Nationalsozialismus und andere -ismen unter Patriotismus zu subsummieren.

-ismen/radikale Bewegungen entstehen, wie du sehr richtig und sehr simpel schreibst, wenn “Lebenswelten” bedroht werden. Das ist wirklich nichts neues. Auch nicht, das Lebenswelten oft auch ökonomisch bedroht werden. Aber dass macht es doch nicht sinnvoll, alle Abwehrbewegungen als “Patriotismus” zu bezeichnen.

Patriotismus als Oberbegriff für alle denkbaren radikalen Lösungsansätze zu definieren hilft niemand weiter. Im Gegenteil. Patriotismus ist doch recht schön mit “als ... emotionale Verbundenheit mit der eigenen Nation...“ (Wiki) definiert.

Was soll es denn bringen Patriotismus auch
- als emotionale Verbundenheit mit der eigenen Religion oder ...
- als emotionale Verbundenheit mit der eigenen Klasse oder
- als emotionale Verbundenheit mit der eigenen Rasse
oder sonst was zu definieren?

Das ISIS- und NSDAP-Anhänger einiges gemein haben mag ja interessant sein, macht sie damit aber doch nicht beide gleichermassen zu Patrioten. Jedenfalls nicht in einer Sprachwelt ausserhalb der Soziologie. Das ist m.E. ein sprachlicher Rückschritt, da Klarheit verloren geht. Wenn Patriotismus nach innen, aussen, oben und unten gerichtet sein kann, wird der Begriff beliebig.
 
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