Die Implikationen für die revisionistische Sichtweise betreffen dabei fünf Bereiche, so [3, Pos 408].
1.Die Bedrohung durch die Hochseeflotte war von untergeordneter Bedeutung als Einflussfaktor für die britische Marinepolitik.
2.Die von Fisher initiierten Reformen waren nicht gedacht, primär der deutschen Bedrohung zu begegnen, sondern zielten vor allem auf die Bedrohung durch Frankreich und Russland ab
3. Obwohl Fisher vor allem mit der Einführung der „Dreadnought“-Schlachtschiffe in der RN assoziiert wird, lag der Schwerpunkt seiner Ambitionen im Bereich der schnellen Schlachtkreuzer. Zudem war die Einführung der Dreadnought-Typen nicht als Gegengewicht zur deutschen Hochseeflotte gedacht.
4. Es erscheint somit es überhaupt fraglich, ob es den Rüstungswettlauf zu See zwischen GB und dem DR in der traditionellen Variante der Darstellung überhaupt gab. Folgt man der Sicht von N. Lambert, dann wechselte die strategische Priorität der RN erst 1912 konsequent in Richtung auf die Hochseeflotte, ohne jedoch die eigentlichen Rivalen Frankreich und Russland aus den Augen zu verlieren.
5. Dass dennoch das DR eine so hohe Wahrnehmung in der britischen Öffentlichkeit hatte, so die Revisionisten, lag nicht an der realen Gefahr. Vielmehr wurde das DR als Bedrohung gezielt aufgebaut, um die entsprechenden Ressourcen für die RN zu erhalten. Man benötigte einen Grund für die Rüstung, ohne die wirklichen Gründe zu benennen (vgl. z.B. den Kontext des 2. des Irak-Krieges, den die Autoren explizit selber anführen)
Dieser revisionistischen Sichtweise ist vielfältig widersprochen worden und soll im einzelnen nicht dargestellt werden.
Im Kern thematisiert die revisionistische Position, so beispielsweise Sumida [4] und Seligmann [5], dass die reale Bedrohung durch die Hochseeflotte für die maritimen Handelswege von Fisher für gering gehalten wurde. Vielmehr betont diese Sicht, dass von der deutschen zivilen Handelsmarine, die die zweitgrößte der Welt war, vor allem eine potentielle Bedrohung ausging. Dabei sah man vor allem in den schnellen deutschen Passagierschiffen, die als Hilfs-Kreuzer umgerüstet werden konnten, eine massive Bedrohung. Diese Bedrohung hielt man für veritabler als die Gefahr der Störung der Handelswege durch französiche und oder russische Kreuzer.
Und diese Bedrohungsanalyse durch Fisher erklärt dann auch, so die Revisionisten, warum Fisher den Schwerpunkt auf die Bekämpfung dieser schnellen deutschen "Greyhounds" durch die ebenso schnelle Schlachtkreuzer wert legte. Sie waren die Antwort auf die antizipierte Gefährdung des britischen Handels.
In diesem Kontext fiel somit der deutschen Hochseeflotte die Rolle zu, vor allem ein Symbol des deutschen Anspruchs auf Weltgeltung zu sein. Und somit signalisierte sie vor allem symbolisch das Infragestellen des britischen Anspruchs, die Meere zu regieren.
Diese primär marinespezifische Sichtweise fand ihren Widerpart in der Denkweise des „Foreign Office Mind“, dass ebenfalls Frankreich und Russland als die gefährlichsten Rivalen ansah und aus diesem Grund die Annäherung suchen wollte oder mußte, um die überdehnten Grenzen des Empire dennoch zu schützen.
In diesem Kontext ist es natürlich relevant, dass die Begründungen von Tirpitz zur Schaffung der Risikoflotte vordergründig auf das Erzwingen des britischen Nachgebens hinausliefen. Dennoch ist es aber auch richtig, dass sich Tirpitz wohl selbst engsten Mitarbeitern nicht erklärt hatte, was er eigentlich ca. Mitte der zwanziger Jahre mit der dann ausgebauten Hochseeflotte militärisch und / oder politisch hätte anfangen wollen oder können. [*]
...
* Die Antwort ist natürlich spekulativ, aber es läßt sich innerhalb des Denkschemas von Tirpitz eine einfache Antwort für die "Fortsetzungsfrage" geben: Aufrechterhaltung des Bündnisdrucks auf Großbritannien - Die Hochseeflotte als Garant dafür, dass Großbritannien die mindestens wohlwollende Orientierung auf das Deutsche Reich vornimmt, umgekehrt bereits im Ursprungsgedanken der Risikoflotte: Spengung der Interessenausgleiche mit Frankreich und Russland.
Zu den revisionistischen Thesen, da diese Untersuchungen der marinehistorischen Literatur von Brooks/Sumida/Lambert/Halpern etc. erst in den neueren Untersuchungen zur Politikhistorie Beachtung fanden.
Keines der Motive, keiner der fraglichen Aspekte im globalen Kontext (Flottenrüstung, Hauptgegner, blue-water-Komtroverse), stellt mE ein entweder-oder dar, sondern sie sind miteinander verknüpft und verschmolzen und wechselten dynamisch sogar den Schwerpunkt im Ablauf 1905/1914.
Keine diese Untersuchungen lässt den Schluss zu, dass die revisionistischen Sichtweise die Bedeutung des maritimen Rüstungswettlaufes relativierten. Im Gegenteil.
Ausgangspunkt Fishers
zu Beginn dieser Entwicklung war die grundlegende Umwälzung der maritimen Kapazitäten Großbritanniens in den Stückzahlen der Hauptkampfschiffe, und zwar ausgehend von einer budgetorientierten Sichtweise, nach der die bisherigen Flottenumfänge nicht zu halten waren. Fisher erwartete nicht die "große Hauptschlacht", sondern sah die Bedrohung "der Zukunft" in den Handelslinien. Schlachtkreuzer/Schlachtschiff-Innovationen haben wir hier auf Basis dieser Literatur besprochen:
http://www.geschichtsforum.de/f328/...cible-revolution-20870/index7.html#post732766
"Erwartete" Hauptgegner waren zu dem Zeitpunkt FRA/RUS. Die Royal Navy entwickelte diese Strategien weitgehend unabhängig von kurzfristigen politischen Entwicklungen oder Allianzen (siehe Kriegsplanungen gegen FRA nach 1904), sozusagen "für alle Fälle". Das ist wohl gut nachvollziehbar.
Sehr grob vereinfacht waren für Fisher persönlich die dreadnoughts Budgetkrücken, um seine invincibles zu realisieren.
Der Gravitationspunkt änderte sich gravierend mit dem deutschen Einschwenken auf die dreadnought-Flottenrüstung. Und unabhängig von populistischen "invasions-scares" war es die
faktische Wirkung der Hochseeflotte als "fleet in being", die zu dramatischen Wendungen in der britischen Seepolitik führten: der Höhepunkt stellt die Quasi-Aufgabe die Mittelmeerdeckung und die forcierte Abstützung auf die dortige frz. Flotte da, erzwungen durch die Dynamik des Rüstungswettlaufes mit der Hochseeflotte. Das stellte quasi den Offenbarungseid für die Royal Navy dar, dessen Tragweite man kaum unterschätzen kann (im Hinblick auf Dardanellen, Suez und Indien).
Beim zweiten "Offenbarungseid" wurde Selbsttäuschung betrieben: der britischen Armageddon-Drohung schlechthin, nämlich der Blockadefähigkeit der Seemacht (-> Lambert). Hier meinte man bis zur Juli-Krise 1914, ein wirksames Mittel gegen eine aggressive deutsche Politik auf dem Kontinent zu haben, sozusagen die "ultimative" Waffe, die einen Krieg in wenigen Monaten oder ein paar Wochen beenden würde. Dieser Aspekt war von dem Rüstungswettlauf mit der Hochseeflotte naturgemäß kaum tangiert, da man die numerische Überlegenheit zu jedem Zeitpunkt (zum Schluss mit dem Mittelmeer-Manöver und der "Umschichtung" der Schlachtgeschwader) behielt.
Und in dem Sinne widersprachen weder Blockadebetrachtungen, noch wechselnde potenzielle "Hauptgegner", noch Strategiediskussionen, noch Stärke-Wettlauf der Hauptflotten, noch die Fokussierung der Achse Gibraltar-Suez/Dardanellen/Arabischer Golf/Indien der außenpolitischen Gewichtung und der grundsätzlichen ("strategischen") Spannung im deutsch-britischen Verhältnis (was zeitweisen Entspannungen nicht widerspricht), so dass es zu keinem Zeitpunkt eine Relativierung der strategischen Bedrohung durch die Hochseeflotte gab (und zu beachten ist, dass sich diese politisch auch in ganz anderen Ecken der Welt als der Nordsee faktisch auswirkte).
Deshalb:
zu 1. so weitgehend sind mE die Studien von Brooks/Sumida/Lambert nicht zu interpretieren (erhellend dabei auch zB die ergänzenden/erklärenden Zeitschriftenaufsätze von Sumida etc. im JoMH)
zu 2. das wechselte, und zentral für Fisher war stets der 2-Jahres-Vorsprung. Neuere (politikhistorische) Publikationen zur Juli-Krise und dem Kriegsausbruch haben mE diese maritime Literatur unzutreffend zusammengefasst (ich hatte mal Beispiele im Forum gebracht)
zu 3. Das sehe ich etwas anders. Fishers Endziel war sicher das "fusion"-Konzept, und die "flottilla-defense", und
auf dem Weg dahin "brauchte" er das dreadnought-Konzept.
zu. 4.: Lamberts "Blockade-Betrachtungen" vermischen sich mit dem Rüstungswettlauf, und er ist mE nicht so zu interpretieren, dass hier eine Revision oder Relativierung ausgesagt wird.
zu 5.: Zustimmung. Der Schlüssel oder gar das Scharnier zwischen innenpolitischer Popularität und außenpolitischen Kalkülen im Rüstungswettlauf ist das Staatsbudget (überlagert vom Regierungswechsel). Es führt mE zu Missverständnissen, die populäre "invasions"-Diskussion "hart abzuprüfen", bzw. auf strategische Konflikte zu übertragen. Da bin ich bei Dir. Die hohe Wahrnehmung liegt am strategischen Gewicht dieses Wettlaufes (der sich eben nur optisch zwischen Themse und Nordsee abspielte, aber gewaltige strategische und globale Folgeeffekte in der Aufsplittung der RN und der Dislozierung der Flotte hatte - das ist exakt der Effekt, den Tirpitz im Kern anvisierte - mit der zu erzeugenden Bedrohungslage - nicht im Sinne einer Invasion! - hatte er tatsächlich Erfolg).