Balkankrieg 1912/13: Internationale Intervention

Sehr schön, danke thanepower & hatl, da sind wir uns einig.

Im Beitrag # 25 oben hatte ich Tutenbergs Diss. erwähnt mit folgendem Ablauf:

Zurück zur Großmächte-Flottenintervention im November 1912 in Istanbul. Entlang von Volker Tutenbergs Dissertation "Die deutsche Mittelmeer-Division und die Londoner Botschafterkonferenz" (1987) notiere ich einige Gesichtspunkte:

* Im Vorfeld des erwarteten Balkankrieges stellte das dt. AA Überlegungen an, drei weitere Kriegsschiffe, zwei für Konstantinopel, eines für Beirut, zu entsenden. (Tutenberg, S. 16)

Nach den sich mehrenden, massiven Niederlagen der Osmanischen Armee Oktober/November 1912
befürchteten die Großmächte Unruhen/Ausschreitungen der zurückflutenden Osmanischen Armee und der türkischen Bevölkerung gegen Europäer und Christen, auch und gerade in Istanbul. Weiterhin sah man auch die zu vermeidende Möglichkeit der Besetzung Istanbuls durch eben bulgarische Armee-Einheiten.

* Am 2.11.1912 treffen sich die ausländischen, europäischen Botschafter in Istanbul in der österreichischen Botschaft. Sie formulieren die Bitte an die Hohe Pforte, die Entsendung je eines Kriegsschiffen pro Großmacht zuzulassen.

* Am 8.11.1912 empfängt die türkische Regierung eine offizielle Note der Istanbuler Botschafter von Ö-U und GB, Frankreich und Russland wie Dt. Reich, in der sie gebeten wird, die Passage von ausländischen Schiffen zum Schutz der ausländischen Kolonien zu erlauben. (S. 21)

Die Pforte hat auf den nachhaltigen Wunsch der Großmächte-Botschafter in Istanbul reagiert. Das kann man auch gut entlang der einschlägigen Dokumentenbände GBs, Deutschlands, Österreichs nachvollziehen, auf die sich Tutenberg u.a. natürlich auch stützt.



Zu diesem Zeitpunkt waren türkische Militärs und Regierungsmitglieder überzeugt, die bulgarischen Truppen an der Catalca-Linie aufhalten zu können, was dann auch eintrat. Die Flottendemonstration war deutlich eine Großmächte-Aktion - mit dem Nebeneffekt, die türkische Regierung zum Waffenstillstand und mehr zu drängen.

Liebe Grüße,

Andreas
 
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...
- Ein Teil der Kriegsschiffe der internationalen Flotte blieb nach dem November 1912 in Istanbul stationiert wg. der weiterhin unsicheren Lage. ...


Mich interessiert das in folgendem Zusammenhang.
„Dann, in einer gemeinsamen Note vom 17. Januar 1913 ermahnten die Großmächte die hohe Pforte, alle militärischen Operationen unverzüglich einzustellen, und alle auferlegten Bedingungen als Resultat des Krieges zu akzeptieren,
da es andernfalls einen Verlust Istanbuls riskiere, und vielleicht sogar den ihrer asiatischen Provinzen insgesamt!“

Aksakal S.79 (Übersetzung durch mich)
Weiter nach Aksakal,
habe dann die Bereitschaft des Großwesirs diese Bedingungen zu akzeptieren, die CUP in der folgenden Woche zu einem blutigen Staatsstreich veranlasst.
Der Großwesir wird mit vorgehaltener Waffe („at gunpoint“) zum Amtsverzicht gezwungen, der Kriegsminister erschossen.
Offenkundig eine Topnachricht am 24.01.1913.

War die internationale Flotte da noch präsent? Waren da nennenswerte internationale Truppen noch in der Stadt?
 
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Hallo hatl,

am 24.1. 1913 war die - reduzierte - Flotte immer noch vor Istanbul, auch noch im April, aber die Landungstruppen in Istanbul waren nach Beschluß der Istanbuler Botschafterkonferenz der Großmächte am 26.11.1912 nach und nach - unter Zurücklassung einiger Wachen und Waffen für die Botschaften usw. - auf die Flotten-Schiffe zurück gekehrt. (Tutenberg, S. 67).

(Korrektur) Im Juli 1912 hatte bereits einmal ein Regierungssturz in Istanbul statt gefunden, denn das zuvor regierende CUP-Regime war infolge der vorhergehenden Niederlagen im italienisch-türkischen Krieg von einem konservativen, osmanischen Regime verdrängt worden.
Am 23. 1. 1913 "putschte" sich das/ein CUP-Regime zurück an die Macht.

Viele Grüße,

Andreas
 
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Hallo hatl,

am 24.1. 1913 war die - reduzierte - Flotte immer noch vor Istanbul, auch noch im April, aber die Landungstruppen in Istanbul waren nach Beschluß der Istanbuler Botschafterkonferenz der Großmächte am 26.11.1912 nach und nach - unter Zurücklassung einiger Wachen und Waffen für die Botschaften usw. - auf die Flotten-Schiffe zurück gekehrt. (Tutenberg, S. 67).

(Korrektur) Im Juli 1912 hatte bereits einmal ein Regierungssturz in Istanbul statt gefunden, denn das zuvor regierende CUP-Regime war infolge der vorhergehenden Niederlagen im italienisch-türkischen Krieg von einem konservativen, osmanischen Regime verdrängt worden.
Am 23. 1. 1913 "putschte" sich das/ein CUP-Regime zurück an die Macht.

Viele Grüße,

Andreas

Vielen Dank für die Info.
Macht wirklich Spass so.

Grüße hatl
 
Hallo hatl,

Macht wirklich Spass so.

Das geht mir genauso. So wird die Sache auch plastischer und anschaulicher, danke für
Deine Links zum Berliner Tageblatt, das bietet einen guten Einblick in die damalige Situation und Wahrnehmung.

Viele Grüße,

Andreas
 
(Korrektur) Im Juli 1912 hatte bereits einmal ein Regierungssturz in Istanbul statt gefunden, denn das zuvor regierende CUP-Regime war infolge der vorhergehenden Niederlagen im italienisch-türkischen Krieg von einem konservativen, osmanischen Regime verdrängt worden.
Am 23. 1. 1913 "putschte" sich das/ein CUP-Regime zurück an die Macht.

Viele Grüße,

Andreas

Im Juli 1912 hieß die Stadt noch Konstantinopel. Sie wurde erst im Jahre 1930 in Istanbul umbenannt.
 
Turgot, danke für Deinen Hinweis, ist mir natürlich bekannt, aber ich bin unter uns Fachleuten einfach etwas fahrlässig oder faul... ;-)

Viele Grüße,

Andreas
 
In der Folge der Eroberung und der "Wandlung" von Ägypten zum britischen "Kondominium" 1882 und der Besetzung von Zypern wurden, wie Silesia schon schrieb, die "Strassen" zur 1. Verteidigungslinie gegen die russischen Interessen aus der "britischen Sicht" (die es eigentlich gar nicht gab).

Das war eine Herabstufung ihrer Wichtigkeit für die Verbindung von GB nach Fernost (Indien, Singapur, Australien etc.), da GB in der Lage war, seine maritime Verteidigung auf Alexandria und Zypern zu konzentrieren.

An diesem Punkt gab es allerdings keine einheitliche Position wie Charmley beispielsweise schreibt: "Both these objektives were threatened by Churchill, who took the view that the posession of Cyprus and Egypt made the Straits a matter of indifference to Britain." (vgl. Charmley: Spendid Isolation? Pos. 5209)

Dieser Konflikt ist eingebettet in den grundsätzlichen Dissens innerhalb des englischen Establisments und Salisbury sandte beispielsweise Henry Drummond-Wolff nach Konstantinopel, um die Beziehungen zum Osmanischen Reich zu verbessern. Und stellte damit positionsmäßig einen Gegenpol zu Churchill dar.

Salisbury sah im Gegensatz zu Chrurchill eine engere Beziehung zwischen dem russischen Expansionismus auf dem Balkan und der "Great Eastern Crisis". Und somit war er deutlich stärker an einer Aufrechterhaltung der guten Beziehungen zur "Hohen Pforte" interessiert.


https://de.wikipedia.org/wiki/Britische_Herrschaft_in_%C3%84gypten

https://books.google.de/books?id=HEhlAgAAQBAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false

https://en.wikipedia.org/wiki/Great_Eastern_Crisis_(1875%E2%80%9378)
 
Zuletzt bearbeitet:
In der Folge der Wandlung von Agypten als "Kondominium" 1882 und der Besetzung von Zypern wurde, wie Silesia schon schrieb, wurden die "Strassen" zur 1. Verteidigungslinie gegen die russischen Interessen.

Das war eine Herabstufung ihrer Wichtigkeit, da GB in der Lage war, seine maritime Verteidigung auf Alexandria und Zypern zu konzentrieren.
[...]

Fällt das nicht auch in die Zeit, als Großbritannien anfing, die maritime Ausrichtung im Mittelmeer mitd er Station in Malta zu stärken? Immerhin, so wie ich mich erinnere, stieg die Mittelmeerflotte zur wichtigsten der Royal Navy ab den 1880er auf.
 
thanepower, Du schreibst:

An diesem Punkt gab es allerdings keine einheitliche Position wie Charmley beispielsweise schreibt: "Both these objektives were threatened by Churchill, who took the view that the posession of Cyprus and Egypt made the Straits a matter of indifference to Britain." (vgl. Charmley: Spendid Isolation? Pos. 5209)

Dieser Konflikt ist eingebettet in den grundsätzlichen Dissens innerhalb des englischen Establisments und Salisbury sandte beispielsweise Henry Drummond-Wolff nach Konstantinopel, um die Beziehungen zum Osmanischen Reich zu verbessern. Und stellte damit positionsmäßig einen Gegenpol zu Churchill dar.

In wichtiger Hinweis, allgemein kann ich Dir nur zustimmen.

Churchill scheint allerdings recht "protürkisch" eingestellt gewesen zu sein:

"Alone among senior Cabinet Ministers, Churchill tried to encourage an actively pro-Turkish policy before 1914. When the Italians invaded the Turkish Province of Libiya in 1911 he hat felt strong sympathy for the Turks". (Gilbert, Churchill, Vol. III, S. 189)

"Churchill was undeterred by Grey's reluctance to contemplate an active pro-Turkisch policy. Spurred on by the increasing German military influence at Constantinople, he instructed Limpus to co-operate with the Turkish Navy as closely as possible." (Gilbert, Churchill III, S. 190)

Das änderte sich erst unmittelbar vor Ausbruch des I. Weltkriegs, Ende Juli 1914. Doch Churchill war damals andererseits ja nicht britischer Regierungschef oder Außenminister, betrieb eher eine inoffizielle Nebenpolitik. Churchill unterstützte nach Kräften die britischen Marinemissionen in der Türkei, ebenso die Aufträge zum Bau von Großkriegsschiffen für die Türkei wie den Abschluss des weitreichenden Werften- und Lieferungsvertrages vom 3.12.1913 mit der türk. Regierung.

Allgemein darf man eher von den Britischen Regierungen und "Politiken" sprechen, eine über Jahre und Jahrzehnte bis ins Detail ausgefeilte, lineare und unilaterale wie unbeirrbar konstante, gleichmäßige Türkei-Politik kann man kaum behaupten. Dazu änderte sich schließlich auch das europäische Umfeld zu schnell, Rohstoffe wie Erdöl aus dem Nahen und Mitteren Osten wurden immer wichtiger.

Noch kurz zur Flottenintervention oben: Es war wesentlich mit die britische Regierung, die dazu gedrängt hatte.

Viele Grüße,

Andreas
 
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Allgemein darf man eher von den Britischen Regierungen und "Politiken" sprechen, eine über Jahre und Jahrzehnte bis ins Detail ausgefeilte, lineare und unilaterale wie unbeirrbar konstante, gleichmäßige Türkei-Politik kann man kaum behaupten. Dazu änderte sich schließlich auch das europäische Umfeld zu schnell, Rohstoffe wie Erdöl aus dem Nahen und Mitteren Osten wurden immer wichtiger.

Als Ergänzung: Die britische Sicht auf die Türkei ergab sich im wesentlichen aus der Perspektive der Sicherung des britischen Weltreichs. Und somit gab es keine spezifische Politik gegenüber dem Osmanischen Reich, wie die Jungtürken frustriert feststellen mußten, da sie aufgrund ihrer westlichen Werte am ehesten politische Unterstützung in GB hofften finden zu können.

Die spezifische Haltung im Foreign Office, die man als generationsspezfische Sozialisierung einer neuen Generation sehen kann, erfolgte ab den 1880 Jahren. Es waren die - späteren - "Edwardians", die im Rahmen der britischen europäischen Isolation ab 1880 bis ca. 1898 (Faschoda) - agierten und versuchten, aus der Isolation herauszukommen. Salisbury suchte dabei im wesentlichen die diplomatische Nähe zu Bismarck und hoffte, dass das DR zusätzlichen diplomatischen bzw. auch militärischen Druck auf Frankreich und Russland ausüben solle.

Das Taktieren von Bismarck in dieser Phase prägte im wesentlichen die Sicht des "Foreign Office Mind" in seiner Sicht auf die Periode nach 1905, wie auch bei Grey zu erkennen, so Otte.

https://books.google.de/books?id=2zkNrbss0VkC&printsec=frontcover&dq=the+foreign+office+mind&hl=de&sa=X&ved=0CCAQ6AEwAGoVChMItNODiZ-TyQIVwlRyCh1pyQP2#v=onepage&q=the%20foreign%20office%20mind&f=false
 
Hallo Thanepower,

Erhellender, weiterführender Beitrag.

Du schreibst:

Die britische Sicht auf die Türkei ergab sich im wesentlichen aus der Perspektive der Sicherung des britischen Weltreichs. Und somit gab es keine spezifische Politik gegenüber dem Osmanischen Reich, wie die Jungtürken frustriert feststellen mußten, da sie aufgrund ihrer westlichen Werte am ehesten politische Unterstützung in GB hofften finden zu können.

Klar und allgemein gültig formuliert, finde ich. Du notierst das sozusagen "oberste, unanschauliche Prinzip" der britischen Politik jener Zeit und zeigst, dass daher die konkrete Politik-Ausformung gegenüber speziellen/konkreten Bereichen und Staaten offen blieb/bleiben musste, nicht festgelegt war, nicht festlegen werden konnte.

Dieser Mechanismus ist bei allen, und doch nicht nur in den imperialistischen Staaten/Großmächten zu finden und mit entscheidend für das Verständnis der Außenpolitiken.


Die Jungtürken hofften am ehesten auf Unterstützung durch die britische Politik? Hm, ich dachte eigentlich, sie wären primär an Frankreich orientiert gewesen, weil sich im französischsprachigen Exil das größte Kontingent der Jungtürken befunden hatte, bevor sie ab 1908 nach und nach in die Türkei zurück kehren konnten.
Gut, andererseits waren gerade etliche Jungtürken genug "Realpolitiker", um sich eher an GB zu orientieren, soweit ich gelesen habe.

Viele Grüße,

Andreas
 
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Sicherlich auch an Frankreich und den Werten der Französischen Revolution, hat aber nicht zu direkten diplomatischen - weitergehenden - Aktivitäten gereicht, wobei der Marineminister wohl der stärkste Vertreter einer Anbindung an Frankreich war und entsprechendes militärische Gerät dort im Vorlauf zu 1914 bestellt hatte.

Dennoch in Bezug auf die Sicherheitsinteressen boten sich die Jungtürken als "Japaner des Nahen Ostens" nach 1902 an.

Dieses, da sie antizipierten dass GB an seiner "Splendid Isolation" festhalten würde als Paradigma seiner Außenpolitik und hofften somit eine "Ausnahmeregelung" für das Osmanische Reich finden zu können.

Und natürlich, weil sie in GB den natürlichen Verbündeten vor allem gegen die aggressiven Ziele von Russland sahen.
 
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kann ich leider nicht verstehen. Was war 1885?
Grüße hatl
Ich vermute die Kongokonferenz, bin mir aber nicht sicher.
Nein, ich denke er bezieht sich auf das Ende des Dreikaiserbündnis zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und Russland

Den Startpunkt habe ich auf das "Great Game" und die starke britische Mittelmeerposition verstanden, und als Kontrapunkt eines Abschwächungsprozesses ist 1907/1908/1912 zu verstanden, zu dem hin sich die britische Positionierung radikal umorientierte.

Das ist an zwei markanten Punkten zu verdeutlichen:

1. die maritime Präsenz, mit patieller Aufgabe des Two-Power-Standards 1912 für das Mittelmeer, Übergang zum One-Power-Standard hier und Flottenabsprachen mit Frankreich, dass für das Mittelmeer als sichernde Seemacht garantieren sollte.

2. die grundlegende Umdeutung der Positionierung zu den Dardanellen/Konstantinopel, bedingt
a) durch das strategische Dreieck Malta-Zypern-Suez/Ägypten
b) die ab 1907 verhandelte Zusage an Russland, bei der kommenden Änderung des Status der Meerengen die russischen Durchfahrtsbeschränkungen aufzuheben (worauf sich Russland 1912 berufen hat)
Interessanterweise wurde diese Forderung massiv von der (überforderten) Navy gestützt, während man im Außenministerium vor allem negative politische Konsequenzen durch dieses Signal im Blick hatte. Dies war ein strategischer Dissenz, der durch Faktenlage entschieden wurde.

Halpern, The Mediterranean Naval Situation 1908-1914
Lambi, I. N., The Navy and German Power Politics, 1862-1914
Lumby, E.W.R.: Policy and Operations in the Mediterranean 1912-1914

Das war eine Herabstufung ihrer Wichtigkeit für die Verbindung von GB nach Fernost (Indien, Singapur, Australien etc.), da GB in der Lage war, seine maritime Verteidigung auf Alexandria und Zypern zu konzentrieren.

An diesem Punkt gab es allerdings keine einheitliche Position wie Charmley beispielsweise schreibt: "Both these objektives were threatened by Churchill, who took the view that the posession of Cyprus and Egypt made the Straits a matter of indifference to Britain." (vgl. Charmley: Spendid Isolation? Pos. 5209)
Während die "Straßen" hier eine immer geringere Rolle spielten, ging es nun um Ägypten/Suez hinter dem "Schild" Malta/Suez, in der Restrolle der Navy. Die strategischen Überlegungen kreisten um die Verteidigung Ägyptens bis zum Eintreffen indischer Verstärkungen. Gegen diesen Faktor trat völlig in den Hintergrund, ob Russland Durchfahrt durch die Dardanellen gewährt würde.

Ich interpretiere das auch nicht als Konflikt des Establishment, sondern von Exponenten unterschiedlicher strategischer Sichtweisen. Die Navy "bombardierte" das Außenamt geradezu mit Analysen, dass man
a) Russland nicht mehr maritim im Konfliktfall entscheidend beikommen könne
b) wegen der "Nordseebindung" im Mittelmeer nicht in der Lage sei, Seeherrschaft zu garantieren
Daraus forderten die Militärs, politische Konsequenzen zu ziehen, während das Außenamt wegen befürchteter Konsequenzen und Verlust von Handlungsoptionen sich sträubte, diese Einsichten umzusetzen. Dass waren unterschiedliche Folgerungen aus natürlich unterschiedlichen Sichtweisen, die sozusagen aus der gleichen Faktenlage abgeleitet wurden.
Otte, Foreign Office Mind, betont hier die politische "Seite", und läßt die einflussreiche Admiralität außen vor, zeichnet damit kein vollständiges Bild der komplexen Lage.
 
Noch kurz zur Flottenintervention oben: Es war wesentlich mit die britische Regierung, die dazu gedrängt hatte.

Das läßt sich aus den Akten nicht ableiten. Das Gegenteil ist der Fall.

Am 7.11. berichtet Cambon Grey, dass Russland einen Schiffsverband schicken wird. Grey lehnt mit Mitteilung an Bertie ab, dass Großbritannien eine "Marinedemontration" vornehmen wird. Es könnten jedoch drei weitere Schiffe in die Besika-Bucht entsandt werden, ansonsten ginge es nur darum, britische Bürger in Konstantinopel zu schützen, und dort hätte man ein Schiff. BD XI/2, S. 115. Zuvor (1.11./Vermerk 5.11.) hatte man vorsichtshalber die 3rd Battle Squadron nach Malta verlegt,* die "Good Hope" nach Saloniki, ausschließlich mit der Anweisung, britische Interessen zu schützen.

Sämtliche Großmächte (und andere, wie Niederlande, Spanien, USA, Rumänien) schickten unabhängig voneinander Schiffskontingente ins östliche Mittelmeer, nach Smyrna, Saloniki, Peloponnes, Konstantinopel, etc.

Vorgeschichte:
- Goschen informierte Kirderlen-Wächter am 1.11., dass ein weiteres Schiff der Royal Navy nach Saloniki entsandt worden ist, um dort Übergriffe auf britische Interessen zu verhindern. BD XI/2, S. 73.
- Im gleichen Gespräch erhielt er die Information, dass die deutsche Seite Schiffe nach Konstantinopel entsendet. BD XI/2, S. 74 (die dann am 11.11. Malta als Zwischenziel erreichten).
- Bertie an Frey, 1.11.1912, BD XI/2, S. 76: Erwägung der Schiffsentsendungen seitens Frankreich.
- Buchanan an Grey, 2.11.1912, BD XI/2, S. 79: Konstantinopel muss nach russischem Standpunkt osmanisch bleiben, oder dürfte ansonsten nur russische Einflusszone darstellen, eine Besetzung durch Bulgarien dürfte nur sehr kurzfristig sein, ansonsten casus belli.
- Goschen informierte Grey am 4.11.1912, dass die Goeben und Breslau ins Mittelmeer gesandt worden seien, BD XI/2, S. 89
- Lowther berichtet Gray am 4.11., dass er vom österreichischen Botschafter erfahren habe, dass drei ihrer Kriegsschiffe unterwegs nach Konstantinopel seien.

Auch sind die amtlichen Dokumentensammlungen hier unvollständig, und sind quellenkritisch zu überprüfen, siehe zu den Angaben "*" oben.

Die britische 3rd BS wurde nämlich ins östliche Mittelmeer nach der Fehlinformation geschickt, Österreich werde eine Flottendemonstration in Saloniki mit seinen modernsten Großkampfschiffen vornehmen und dort möglicherweise aus strategischen Gründen "länger bleiben, als es der Schutz österreichischer Interessen rechtfertigen würde". Sämtliche britische Maßnahmen sind hier Reaktionen auf Aktivitäten der anderen Mächte.
ADM FO File 371, Volume 1503/1504.
Nicolson lehnte das Überbieten der anderen Engagements ("counterdemonstration") ab, FO File 47101, 6.11.1912
Danach wurde das 3rd BS "geteilt", nur eine Hälfte sollte sich auf Saloniki konzentrieren, der Rest blieb in Malta. Die Österreicher in Saloniki stellten sich dann als ein "old cruiser" heraus.

Ausweislich Bobroff war es Russland, dass wegen seiner Befürchtungen massiv ein Konstantinopel-Engagement forderte, bis hin zu "Ideen", mit Truppenkontingenten nach Konstantinopel hineinzugehen.

Frankreich spielte mit ähnlichen Überlegungen, die britischerseits zurückgewiesen wurden. Frankreich schickte daraufhin zunächst nur drei armored cruiser, noch dazu höchst improvisiert und lediglich halb munitioniert, wegen der französischen Munitionskrise, 19.12.1912. Es hatte sonst nur ein paar alte Kreuzer vor der Levante, Poincare an Delcassé, AMF carton BB7-160.

Vor Konstantinopel sah man sich dann von der deutschen "Demonstration" (mit der "impressive" Goeben) überrollt, was am Besten die Franzosen zusammenfassten: "die alte und ruhmreiche Französische Flotte hinter einer Marine, die erst vor 40 Jahren geboren wurde" - Konteradmiral Dartige du Fournet an Delcassé, 16.12.1912, AMF carton BB3-1346. Die britische "Good Hope" war dagegen ein unbeachtlicher "Pott", während das 3rd BS mit den acht "King Edwards" hälftig in Malta und hälftig auf See unbeachtet blieb.
 
Hallo Silesia,

herzlichen Dank für Deine detailierte Erwiderung auf meine, wahrscheinlich so nicht ganz haltbare Behauptung

Noch kurz zur Flottenintervention oben: Es war wesentlich mit die britische Regierung, die dazu gedrängt hatte.

Ein grüner Punkt dafür von meiner Seite für die ausführliche Antwort mit vielfältigen Quellenhinweisen.

Du schreibst:
Auch sind die amtlichen Dokumentensammlungen hier unvollständig, und sind quellenkritisch zu überprüfen, siehe zu den Angaben "*" oben.
Ausweislich Bobroff war es Russland, dass wegen seiner Befürchtungen massiv ein Konstantinopel-Engagement forderte, bis hin zu "Ideen", mit Truppenkontingenten nach Konstantinopel hineinzugehen.

Hm, ja. Daher hatte ich - mehrfach - auf Volker Tutenbergs Dissertation "Die deutsche Mittelmeer-Division und die Londoner Botschafterkonferenz" (1987) hingewiesen, siehe mein Beitrag # 25 in diesem Faden, ich möchte es nicht erneut wiederholen.
Tutenberg Aussagen wie in Beitrag # 25 angeführt, stützten sich ausschließlich auf vielfache Primärquellen-Auswertung, also Dokumente, die aber eben teilweise bisher nicht veröffentlicht wurden.

Auf die Bedeutung von Tutenbergs Arbeit für wichtige Details gerade in diesem Faden hatte ich, meine ich, bereits hingewiesen.

Weiterhin fehlt mir bei Deiner Reflexion auf Bobroff ein Datum, denn es ging und geht auch um die Chronologie der Abläufe, wenn ich - nicht ganz zutreffend - schreibe, dass wesentlich mit die britische Regierung auf eine Flottenintervention gedrängt hatte. Vielleicht führt es weiter, wenn wir davon ausgehen, dass zumindest die brit. Regierung die erste gewesen war, die eine andere Großmacht (Dt. Reich) informierte und anregte.

Du schreibst weiterhin:

Sämtliche Großmächte (und andere, wie Niederlande, Spanien, USA, Rumänien) schickten unabhängig voneinander Schiffskontingente ins östliche Mittelmeer, nach Smyrna, Saloniki, Peloponnes, Konstantinopel, etc.

Das kann ich nicht bestätigen, siehe bitte Beitrag Nr. 25, wo entlang Tutenbergs Dissertation unter anderem von mir notiert wurde:

* Am 2.11.1912 treffen sich die ausländischen, europäischen Botschafter in Istanbul in der österreichischen Botschaft. Sie formulieren die Bitte an die Hohe Pforte, die Entsendung je eines Kriegsschiffen pro Großmacht zuzulassen.


Weiterhin notierst Du:
Vor Konstantinopel sah man sich dann von der deutschen "Demonstration" (mit der "impressive" Goeben) überrollt, was am Besten die Franzosen zusammenfassten

Den sachlichen Hintergrund hatten wir vormals im Faden "Mittelmeerdivision ab 1912" dargestellt, an dem Du Dich ebenfalls beteiligt hattest, wahrscheinlich hast Du aus Zeitgründen nicht alle Beiträge dort wahrnehmen können.

Allgemein kann man notieren, dass sowohl die britische wie französische Marine bereits stationäre Marineeinheiten im Mittelmeer hatten, aus denen dort vorhandene Kriegsschiffe entsandt wurden, mit weitaus kürzerem Weg - aber wohl weniger leistungsstarken und neuen Schiffen - nach Istanbul im Vergleich zur reichsdt. Marine, die von der dt. Nordseeküste aus starten musste.

Sachlich gesehen, hatte die kaiserliche Kriegsmarine die beiden neuesten und damit schnellsten Kriegsschiffe nach Istanbul abgestellt. Die Geschwindigkeit war entscheidend, das hatten wir bereits im Faden zur dt. Mittelmeerdivision plausibel machen können.

Ich hatte dort im Beitrag # 4 u.a. notiert:
Die Breslau wie die Goeben waren ja die neuesten Schiffe der Marine.
Im Telegramm an die Hochseeflotte wurde entsprechend der neueste Große und Kleine Kreuzer für die Türkei angefordert. (Tutenberg, Die deutsche Mittelmeer-Division und die Londoner Botschafterkonferenz, S. 18)



Viele Grüße,

Andreas
 
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