Reste des Heidentums in der Folklore

Haerangil

Aktives Mitglied
Ich muss in einem anderen forum gerade wieder das thema " weiterleben des heidentums in archsischen volksbraeuchen" durchkauen..

Meine these ist die dass sich nur aelteste quellen bis ca. Ins 8. Jahd. Noch zum thema. Weiterleben heidnischen brauchtums verwenden lassen und danach bis zur reformation, ausser in randbereichen, quellen zu angeblichen heidentum mit skepsis zu betrachten sind. Vielmehr wurden imverlauf der reformation urkatholisches volksbrsuchtum in polemischer absicht als heidnisch erklartt und spaeter hat man es mit diversen revivals, von humanismus und aufklaerung bis romantik zu tun und kann noch so archaisch anmutende folkore nicht mehr als vrrchristianisiertes heidentum deuten.

Literaturtips?
 
Meine These ist die dass sich nur älteste Quellen bis ca. ins 8. Jhdt. Noch zum Thema Weiterleben heidnischen Brauchtums verwenden lassen und danach bis zur Reformation, ausser in Randbereichen, Quellen zu angeblichen Heidentum mit Skepsis zu betrachten sind.
Sehe ich ganz genauso. Mein Paradebeispiel dafür ist der "altgermanische" Volkstanz, den Himmler aufführen lassen wollte, bis ihn einer seiner Mitarbeiter aus dem Ahnenerbe darauf aufmerksam machte, dass die Uraufführung deses "altgermanischen" Tanzes im Jahr 1919 stattgefunden hatte. Das sind heute beinahe schon wieder fast 100 Jahre, damals waren es kaum 20.

Vieles von dem, was wir heute in unserem säkularisiertem Zeitalter nicht mehr verstehen und aus diesem Grund nicht mehr mit dem Christentum zusammenbringen (können), wird von propaganen Apologeten als heidnisch gedeutet. Dabei würde ich per se erst einmal alles was mit Wasser oder Licht zu tun hat (Wasser des Lebens, Licht der Welt) als durchaus mit dem Christentum vereinbar und vermutlich daraus geboren klassifizieren, wenn es nicht andere schlagkräftige Argumente für ein älteres Herkommen gibt.

Auch Trachten, die ja immer wieder gerne als besonders altertümlich und dem Volkscharakter zugehörig interpretiert werden, sind eigentlich eher ein Relikt der letzten Jahrhunderte. Also post-MA aber prä- bzw. proto-Romantik.
 
Ja aber gerade angebliches holda und st. Martinsbrsuchtum wird gern herangezogen wo ich am aller skeptischten bin, eaehrend. Ich bei sonnwendbrseuchen oder z.b. samhain selbst manchmal schwanke ob sich da nicht doch strukturell vorchristliches in verkappter form fortgesetzt hst.
 
Hessische Volks-Sitten und Gebräuche im Lichte
der heidnischen Vorzeit, Kolbe, Wilhelm
suchst du sowas, ist aber von 1880. Weiß nicht ob noch online ist, ansonsten kann ich dir es per mail senden.
 
Ich denke schon die Merseburger Zaubersprüche widerlegen die These für Mitteleuropa. Allerdings muss man sie nur ein klein Bisschen anders formulieren, um solche Überlieferung einzubeziehen.

In anderen Teilen Europas hat sich das Heidentum sowieso wesentlich länger gehalten.

Dann gibt es natürlich von der Kirche vereinnahmtes Brauchtum wie in der Verbrennung, bzw. in anderen Regionen Ertränkung des Hoppeditz deutlich wird.

Was man allerdings ganz sicher sagen kann, ist, dass das Christentum spätestens ab dem 9. Jh., wie man aus Bildzeugnissen schließen kann wahrscheinlich schon früher, das Heidentum stark beeinflusst hat. Das geht z.B. aus den ältesten Edda-Liedern hervor, die ja aus dem 9. Jh. stammen sollen.

Damit muss man dann aber wieder alle 'heidnischen' Traditionen -wie den Hoppeditz, der ja eine Art Satire auf heidnische Vorstellungen ist, und hier nur das üblicherweise aufgezählte Brauchtum vertritt- vor christlichem Hintergrund sehen.

Bei den Merseburger Zaubersprüchen muss man allerdings darauf bestehen, dass sie tatsächlich überlebendes Brauchtum in christlicher Zeit bezeugen. Aber keine Regel ohne Ausnahme:

Die Sprüche sind schließlich zum Behalten verdichtet. Daher kann man hier, ohne die Regel zu weit zu beugen, von einer Ausnahme sprechen.

Es wäre ja auch eine ganz seltsame Vorstellung, dass alles Heidnische dem Christentum weicht, obwohl man die heidnischen Götter nicht als irreal, sondern als Dämonen und als Erscheinungsform des Teufels interpretierte.
 
Es wäre ja auch eine ganz seltsame Vorstellung, dass alles Heidnische dem Christentum weicht, obwohl man die heidnischen Götter nicht als irreal, sondern als Dämonen und als Erscheinungsform des Teufels interpretierte.
Hörst du auf vom Leibhaftigen zu sprechen, wo wir doch mitten in den Rauhnächten sind :motz: ;) :winke:

Rein grundsätzlich würde ich Brauchtum und Aberglaube nicht überbewertend. Bräuche sind sinn-, identitäts- und gemeinschaftsstiftend und sind allein deshalb schon kulturübergreifend vorzufinden. Auch die Anlässe, die brauchtumsstiftend sind, sind kulturübergreifend sehr ähnlich: Geburt, Initiation, Heirat, Tod als große Lebensereignisse und kleinteiliger eine Art "bäuerlicher" Kalender der Jahreszeiten, von Aussaat, Wachstum, Ernte und Ruhe. Kurzum: wo man Parallelen sehen will, sind auch welche. Ähnlich verhält es sich mit dem Aberglauben: Dinge, die ich nicht erklären kann oder bei denen ich machtlos bin, die ich aber erklärbar machen muss oder die ich irgendwie regeln muss um mein seelisches Gleichgewicht zu erhalten, erkläre ich durch höhere Mächte, Zauber, Hexerei, Bachblüten, Wasseradern oder schwarze Katzen von links oben. Auch das ist ein kulturübergreifendes Phänomen und auch hier gilt: wo ich Parallelen finden will, finde ich auch welche.

Und um nun den Bogen zurück zu den Merseburger Zaubersprüchen zu schlagen: der zweite der Merseburger Zaubersprüche (ben zi bena usw.) hat durchaus erkennbare Parallelen zu einer altindischen Überlieferung, dem Atharvaveda. Und nun? Beide sind Heilzauber, die das Eingreifen einer Gottheit beschwören und mit einer Formel eine Verletzung wieder heile machen. Das wäre für mich nun aber kein Anlass gemeinsame Wurzeln herbeizuphantasieren. Genauso verhält es sich auch mit unserem heutigem Brauchtum und dem gängigen Aberglauben und den paganen Kulturen der vorchristlichen Zeit in unseren Breitengraden. Es mag durchaus sein, dass sich das ein oder andere Sandkörnchen der paganen Kulturen bis heute erhalten hat. Allerdings wie will man ohne entsprechende Quellen konkrete Aussagen treffen, welche Körnchen das nun sind? Oder einfacher gefragt: wer kann die Geschichten die Oma in kalten Winternächten erzählt hat noch 1:1 wiedergeben? Und wer kann es nur noch sinngemäß? Oder gar nicht mehr? Nicht verschriftlichtes Wissen geht unweigerlich verloren. Ich habe irgendwo mal aufgeschnappt dass dieses Erinnerungswissen maximal 3 bis 5 Generationen über tatsächlich verfügbar ist, spätestens dann finden Übertragungen, Vereinfachungen, Verschleifungen und Auslassungen statt, die sich, je mehr Geschichte zusammenkommt, immer weiter fortsetzen.
Und: Wenn man sich nur mal anschaut was hier in den letzten zwei Jahrtausenden los war, wieviele Wanderungsbewegungen, Vertreibungen, Neuansiedlungen, Kriege, Bevölkerungsverschiebungen,... wieviel Original-Brauchtum blieb da noch übrig? Mit welchen Repressalien war die Pflege des Brauchtums, das es im jeweiligen Zeitschnitt zu verdrängen galt, verbunden? Und wie sehr wurde es dann noch gepflegt? Zu welcher Nachhaltigkeit in der Brauchtumsweitergabe führt sowas gezwungenermaßen? Es impliziert doch eigentlich schon alleine die Logik, dass vom paganen Brauchtum unserer Vorväter nicht mehr all zu viel bis eigentlich gar nix mehr da sein kann.
 
Druck kann unter Umständen auch konservierend auf Überlieferungen wirken.

In erster Linie kommt es bei der mündlichen Überlieferung auf die Form an, was ja auch die späte Verschriftlichung der Merseburger Zaubersprüche zeigt.

Aber bevor wir darüber diskutieren, ist zu bedenken, dass wir zu dem Thema in Paul Herrmann, Deutsche Mythologie, Leipzig 1898 und immer wieder aufgelegt, eine Sammlung der Überreste besitzen. Das Werk wird heute allerdings nur noch um allzu Nationalistisches gekürzt herausgegeben. Dem fielen auch die Anmerkungen und die Literaturliste zum Opfer. Dennoch ist es eine gute Grundlage, um die Sagen, Märchen und Brauchtümer systematisch zu durchleuchten.

Da es in Herrmann unter Kenntnis älterer Quellen in ein System gepresst ist, direkt also vorwiegend Literaturwissenschaftlich zu verwerten ist, müsste man es nutzen, um die Quellen zusammenzutragen.

Dann erst wird man eine Klassifikation der Informationen vornehmen können.

Dank Herrmann hängt man bei dem Thema nicht ganz in der Luft. Jemand müsste seine Quellen in die Deutsche Mythologie der Gebrüder Grimm von 1835 einarbeiten, wenn solches noch nicht geschehen ist. Denn deren Systematik ist wesentlich Wissenschaftlicher. Es ist zusammengetragen, was zu einem bestimmten Thema zu finden war. Also wird man unter Gold die Nibelungensage finden, unter Glocke die Hauptformen von Glockensagen, während Herrmann interpretierend ordnete, wie schon das Inhaltsverzeichnis zeigt:

[Ich nenne Thema und in Klammern, wo nötig, eine kurze Illustration.]

I Seelenglaube (Seele, Hexerei, Geister: Maren, Alb, Matronen)
II Naturverehrung (elfische Geister und Riesen)
III Götterglaube (zum großen Teil anthropomorph vorgestellt, aber auch anderes nennend)
IV Kult
V Anfang und Ende der Welt (Kosmologie)

Jedenfalls gibt es Überlieferungen in Märchen und Sagen die offensichtlich Weiterentwicklungen in Quellen bezeugter Vorstellungen sind. Solange das alles aber nicht entsprechend untersucht ist, wird man nur sagen können, dass das Christentum nicht alle Traditionen unterdrücken konnte, die erhaltenen Überreste aber von der Form abhängt und schon in heidnischer Zeit durch das Christentum beeinflusst wurde.

Auf dem Hintergrund wird man, außer in Ausnahmefällen, kaum sagen können, welchen Hintergrund ein Brauch oder eine Geschichte hat. Mit den Ausnahmefällen lässt sich aber zu beiden Haltungen im Sinne der Ausgangsfrage ein 'es existiert' aufzeigen. Damit ist aber eine einfache Antwort ausgeschlossen.

EDIT: Und gegen das Rautswänsken hat uns Ostwestfalen Jesus persönlich ein Mittel verraten: Einfach in seinem Namen befehlen zu verschwinden. Wenn die das in der Bibel nicht falsch aufgeschrieben haben, sollte es funktionieren. Soweit ich weiß, ist das in NRW auch Thema des Religionsunterrichts, hat also kultusministerliche Aprobation..
 
Zuletzt bearbeitet:
Bei möglicherweise ursprünglich heidnischen, aber dann christlich interpretierten Bräuchen fällt mir das sog. Osterräderlaufen ein, bei dem ein mit Stroh ausgestopftes Holzrad brennend einen Hügel heruntergerollt wird.

Laut OSTERRÄDERLAUF LÜGDE :: 2000 Jahre alte Tradition gab es diese Tradition schon zu Zeiten von Karl dem Großen im sächsischen Stammesgebiet (also zur Zeit der Christianisierung).

Wiki schreibt: https://de.wikipedia.org/wiki/Lügde#Osterr.C3.A4derlauf

Nach Überlieferungen wurde das bereits im Jahr 784 beim Besuch Karls des Großen praktiziert, der in der Nähe das Weihnachtsfest feierte. Auch davor soll das Osterräderlaufen bereits Tradition gewesen sein, das vermutlich auf dem heidnischen-germanischen Sonnenkult basiert. Zwischenzeitlich gab es mehrere Versuche, diesen Brauch zu verbieten. Dies war 1743 durch den Vikar von Wiedenbrück und 1781 durch den Paderborner Fürstbischof Wilhelm Anton der Fall.

aber auch https://de.wikipedia.org/wiki/Osterrad

Das Osterrad hat dabei eine ähnliche Funktion wie das Osterfeuer. Ein heidnischer Ursprung ist in beiden Fällen nicht nachgewiesen. Neuheidnische Gruppen vermuten beim Osterrad einen Ursprung im heidnisch-germanischen Sonnenkult, da das Feuerrad als Sinnbild der Sonnenscheibe und das Licht in der Dunkelheit die Erwartungen auf den Einzug des Frühlings symbolisiere.

Ansonsten haben wir doch schon mehrfach darüber diskutiert, wie eventuell pagane Sittten bzw. Symbole christlich interpretiert wurden und unter christlichen Vorzeichen noch ausgeübt werden.
 
Ein anderes Beispiel für die Übernahme paganer Sitten und Verschmelzung mit christlichen Tradition findet sich in Mexiko: https://de.wikipedia.org/wiki/Tag_der_Toten

Nach altmexikanischem Glauben kommen die Toten einmal im Jahr zum Ende der Erntezeit zu Besuch aus dem Jenseits und feiern gemeinsam mit den Lebenden ein fröhliches Wiedersehen mit Musik, Tanz und gutem Essen. In vorspanischer Zeit gewährten die Azteken sogar ihren Feinden einen Ort, an den die Geister zurückkehren konnten. Auf einem Tzompantli wurden die Schädel als Gefäß für die Geister ordentlich aufgereiht. Durch spanische Missionare, die vergeblich versuchten, das Fest abzuschaffen, wurden die Feiern mit dem Hochfest Allerheiligen und dem Gedächtnis Allerseelen zusammengelegt. Parallelen zwischen der christlichen Vorstellung vom Tod und dem indigenen Glauben ermöglichten diesen Synkretismus. Schon die Azteken sahen den Tod nicht als Ende, sondern als Anfang neuen Lebens; eine Übergangsphase zu einer anderen Daseinsform. In Vermischung mit dem christlichen Glauben entstand ein einzigartiges kulturelles Fest, das die Bräuche des vorspanischen Mexiko teilweise weiterleben lässt.

Hier hat bereits Lili darauf hingewiesen: http://www.geschichtsforum.de/f55/happy-halloween-s-es-oder-saures-35292/index2.html#post530077

Und irgendwo hier hat jemand (war's El Quijote?) auch auf lateinamerikanische Marienverehrung hingewiesen, wo eine präkolumbianische Gottheit (der Azteken oder Maya) auch Patin stand.:grübel:


ah ja - hier war's: http://www.geschichtsforum.de/f30/christianisierung-von-heidnischen-heiligt-mern-27319/#post415374
 
Druck kann unter Umständen auch konservierend auf Überlieferungen wirken.
Ja, aber nur auf die, die unter diesem Druck noch weitergegeben werden. Die Verluste, sind gemessen am Weitergegebenen immens. Alternativ werden die Ursprungsgeschichten so verändert, dass sie wieder erzählbar werden (vergleichbare Phänomene gibt es durch alle Zeiten hindurch, wie etwa Anpassung in der Wortwahl oder des Ausdrucks, passend machen für Kinderohren, Variationen im Hinblick auf die jeweilige Gesellschaftsmoral usw. usf.), auch das verfälscht im Zeitverlauf die Ursprungserzählung immer mehr, so dass der Kern irgendwann nicht mehr identifizierbar ist und man wirklich nur noch mutmaßen kann.

In erster Linie kommt es bei der mündlichen Überlieferung auf die Form an, was ja auch die späte Verschriftlichung der Merseburger Zaubersprüche zeigt.
Ja, aber auch das merkbar machen verändert. So klipp und klar und eindeutig sind die Merseburger Zaubersprüche nun auch nicht, weder was exakte zeitliche Verortung, noch Entstehungsort oder gar Sinn und Zweck insbesondere im Zusammenhang mit dem nachfolgenden christlichen Gebet sind wirklich klar. Man vermutet lediglich.
Sagt dir in dem Zusammenhang die Runenschnalle von Pforzen etwas? Die ist für mich ein Paradebeispiel an "Interpretationsproblem": auf dieser Schnalle ist übertragen das folgende eingeritzt worden: "aigil andi aïlrun ltahu (oder elahu) gasokun". Im Museum in Kempten, wo ich dieses Stück entdeckt habe (und seitdem mag es mich auch nicht mehr so recht loslassen) stand in diesem kurzen Beschreibunstext neben dem Stück, dass diese Gürtelschnalle eines der ersten Zeugnisse der Christianisierung in Bayern wäre, weil Aigil und Ailrun zusammen mit dem Hirsch schritten, wobei der Hirsch als Symbol für Christus zu verstehen sei. Meine Reaktion darauf war erstmal: :confused: Und ich muss noch dazu erwähnen, dass das nun kein Dorfmuseum betrieben vom Hobbyhistoriker um die Ecke war, sondern das Römische Museum Kempten, welches unmitelbar am APC hängt. Nachdem mir diese Interpretation nun wirklich nicht eingehen wollte, habe ich mich zu dem Stück etwas eingelesen und finde die nächste Interpretation, die sich mir nicht so recht erschließen mag: die Inschrift sei ein Fragment der Wielandsage weil der Name Aigil (= Egil) vorkommt. :confused: Auch diese Interpretation kam aus durchaus namhaften Kreisen. Alternativ könnte man auch übersetzen: "Aigil und Ailrun haben die Hirsche verdammt/vertrieben/bedroht", was Raum für zig weitere Interpretationen liefert. Lange Rede kurzer Sinn: wir können es heute lesen, wir können es sogar übersetzen, aber was es bedeutet ist oft nur Mutmaßung, schlicht weil uns der kulturelle Kontext fehlt. Sehr ähnlich verhält es sich auch mit den Merseburger Zaubersprüchen, die heute auch nur so heißen, weil sie im 19. Jahrhundert ohne nähere Forschung als solche benannt wurden.

Aber bevor wir darüber diskutieren, ist zu bedenken, dass wir zu dem Thema in Paul Herrmann, Deutsche Mythologie, Leipzig 1898 und immer wieder aufgelegt, eine Sammlung der Überreste besitzen.
Aber genau dort liegt doch auch der Hund begraben: wir haben eine Sammlung der Überreste im Jahr 1898, es liegen also mal eben locker 2 Jahrtausende Veränderung, Verschleif und Variation durch mündliche Tradierung und entsprechende Anpassungen in der Verschriftlichungsgeschichte zwischen Ursprung und Sammlung. Das ganze noch gepaart mit ideen- und zeitgenössischen Kolorit den Herrmann als Sammelnder mit einbringt, allein schon der Titel (wie auch bereits bei Jakob Grimm): gibt es denn eine deutsche Mythologie?

Dennoch ist es eine gute Grundlage, um die Sagen, Märchen und Brauchtümer systematisch zu durchleuchten.
Da gebe ich dir Recht. Allerdings läuft man dabei durchaus auch Gefahr sich in wilden Spekulationen zu verlieren. Nicht alles muss zwingend auf pagane Wurzeln zurückgeführt werden und unsere heutigen Brauchtümer sind bei weitem weniger "noch von den alten Germanen" als das in neopaganen Kreisen gerne postuliert wird.

Jedenfalls gibt es Überlieferungen in Märchen und Sagen die offensichtlich Weiterentwicklungen in Quellen bezeugter Vorstellungen sind. Solange das alles aber nicht entsprechend untersucht ist, wird man nur sagen können, dass das Christentum nicht alle Traditionen unterdrücken konnte, die erhaltenen Überreste aber von der Form abhängt und schon in heidnischer Zeit durch das Christentum beeinflusst wurde.
Das finde ich als Ansatz zu simpel. Es ist doch nicht nur das Christentum: es sind die Bewegungen ganzer Völker, in Teilen des heutigen Deutschlands die Romanisierung, ebenso in Teilen des heutigen Deutschlands der Kulturaustausch durch slawische Besiedlung, Hunneneinfälle, Grenzkontakte, Handel und damit auch Kulturaustausch und Kulturerweiterung, das Aussterben ganzer Landstriche durch Krieg oder Seuchen, die Wiederbesiedlung... Und selbst heute in unserer global vernetzten Welt haben wir hier in München anderes Brauchtum als in Landshut oder in Salzburg, ganz zu schweigen von Berlin, Hamburg oder Ostwestfalen (Rautswänsken?). Diese Regionalisierung ist kein modernes Phänomen sondern ein gruppenidentitätsstiftendes Merkmal, das Brauchtum für Gesellschaften so wichtig macht.

Ein anderes Beispiel für die Übernahme paganer Sitten und Verschmelzung mit christlichen Tradition findet sich in Mexiko: ...
Ja, allerdings kann man die jeweiligen Christianisierungsprozesse nicht immer und unbedingt miteinander vergleichen, weil die Rahmenbedingungen nicht vergleichbar sind. Insbesondere der zeitliche Versatz macht hier einen Vergleich schon schwierig.
 
Was die Verunstaltung und schlechte Interpretierbarkeit angeht, stimme ich durchaus zu. Dennoch ist darüber vor einer systematischen Untersuchung, die meines Wissens bisher nicht existiert, eine Entscheidung, inwieweit es, bzw. was für Traditionen es gibt, nicht zu treffen.

Aber ich dachte auch, es ginge nicht um die 'alten Germanen', sondern die heidnischen Vorstellungen von Bayern, Alemannen, Franken, Sachsen, Thüringern und Friesen, wie sie noch in Karolingischer Zeit (Stichwort Bonifatius) bestanden. Hierzu kann man durchaus Beispiele bringen -wie die Merseburger Zaubersprüche, die das 9.Jh. überstanden haben, und andere, die -wie der Hoppeditz- eher eine kirchliche Satire darauf sind. Dass wir nicht von den 'alten Germanen' oder eine Rekonstruktionsmöglichkeit heidnischer germanischer Religion reden, wie es sich die Zeit Herrmanns vorstellte, halte ich übrigens für so selbstverständlich, dass ich es nicht extra erwähnt habe. Aber bevor wieder Missverständnisse entstehen und bevor ich jemanden anlocke, der dann ganz schnell gesperrt wird, erwähne ich es hier doch.

Die Interpretation der Merseburger Zaubersprüche als heidnisches Überbleibsel ist nun nicht sehr kompliziert, wenn auch in einzelnen Punkten nicht zu lösen. Die Überlieferung in christlichem Kontext ist da eine andere Frage.

Und zu Dingen, die nicht genügend untersucht sind, kann man eben oft nur Triviales sagen. Davon abgesehen sind die genannten Punkte keineswegs so trivial, wie sie auf den ersten Blick scheinen.
 
Aber ich dachte auch, es ginge nicht um die 'alten Germanen', sondern die heidnischen Vorstellungen von Bayern, Alemannen, Franken, Sachsen, Thüringern und Friesen, wie sie noch in Karolingischer Zeit (Stichwort Bonifatius) bestanden.
Ok, dann haben wir wohl aneinander vorbeigeredet, ich hatte die Eingangsfrage anders verstanden, nämlich dass die Transformationsprozesse der Christianisierungsphase noch gut zu erklären sind, es aber für weiter zurückreichendes schlicht schwierig bis unmöglich wird, wobei mein Fokus auf dem weiter zurückreichenden lag. Vermutlich bin ich hier aber etwas moderatorenblind, weil solche Fragestellungen ja nur aus dieser einen Richtung kommen können. :still:

Was die Verunstaltung und schlechte Interpretierbarkeit angeht, stimme ich durchaus zu. Dennoch ist darüber vor einer systematischen Untersuchung, die meines Wissens bisher nicht existiert, eine Entscheidung, inwieweit es, bzw. was für Traditionen es gibt, nicht zu treffen.
Kommt darauf an, worum es gerade geht. Insbesondere Märchenstoffe werden mittlerweile tiefergehender, auch interdisziplinär, erforscht und teilweise auch bereits publiziert. Einige Sagenstoffe ebenfalls. Für vieles - wir sprechen aber auch über ein weites Feld - dürfte das Handbuch des Aberglaubens noch nie aktuellste Publikation sein.
 
wer kann die Geschichten die Oma in kalten Winternächten erzählt hat noch 1:1 wiedergeben? Und wer kann es nur noch sinngemäß? Oder gar nicht mehr? Nicht verschriftlichtes Wissen geht unweigerlich verloren.
Jein. Unsere Kultur hat sich doch in den letzten Jahrhunderten stark verändert. Mit dem Buchdruck wurde Literatur erschwinglicher und das schlug sich auch im Gebrauch der Literatur nieder. Seit Anfang des 20. Jhdts. haben Radio, Fernsehen und schließlich der PC und das Internet das Lager- bzw. Kaminfeuer ersetzt.
Bei einem begrenzten Repertoire an Geschichten wurden immer dieselben Geschichten erzählt, die sich dadurch natürlich auch besser einprägten. Insofern ist die mündliche Überlieferung in einem vormodernen Zeitalter sicher besser als heute, wo wir nur noch mit halbem Ohr hinhören und mit Informationen überflutet werden. Insofern ist die Halbwertszeit mündlicher Überlieferung eigentlich erst in den letzten 100 Jahren drastisch verkürzt worden.
Aber grundsätzlich bin ich ganz bei dir.

Die Grimmbeispiele sind doch eigentlich ganz nett. Die Grimms haben die Märchen doch z.T. entsexualisiert. Außerdem wissen wir, dass einige von ihnen eigentlich keinen deutschen sondern einen französischen Ursprung haben.
 
Zuletzt bearbeitet:
...Osterräderlaufen ...

Laut OSTERRÄDERLAUF LÜGDE :: 2000 Jahre alte Tradition gab es diese Tradition schon zu Zeiten von Karl dem Großen im sächsischen Stammesgebiet (also zur Zeit der Christianisierung).

Nur bietet die Seite dafür keinen Beleg.

Wiki schreibt: https://de.wikipedia.org/wiki/Lügde#Osterr.C3.A4derlauf

Nach Überlieferungen wurde das bereits im Jahr 784 beim Besuch Karls des Großen praktiziert, der in der Nähe das Weihnachtsfest feierte.
In der Quelle steht nur, dass Karl dort Weihnachten feierte. Dass er einen Osterräderlauf erlebte, steht in den Reichsannalen nicht. Ich gebe mal den Text wieder mit der Markierung von Weihnachten, Ostern und Lügde bzw. dem Fortgang von dort:
Ibique initoconsilio cum Francis, ut iterum hieme tempore iter fecisset supradictus domnus rex in Saxoniam; quod ita et factum est. Et celebravit natalem Domini iuxta Skidrioburg in pago Waizzagawi super fluvium Ambra in villa Liuhidi. Et inmutavit se numerus annorum in DCCLXXXV. Tunc domnus rex Carolus supradictum iter peragens usque ad Rimee pervenit super fluvium Wisora, ubi confluit Waharna. Et propter nimiam inundationes aquarum inde reversus est Eresburgum; uxorem suam domnam Fastradanem reginam una cum filiis et filiabus suis ad se venire iussit. Ibi tota hieme residens et ibi pascha iam fatus excellentissimus rex celebravit. Et dum ibi resideret, multotiens scaras misit et per semetipsum iter peregit; Saxones, qui rebelles fuerunt, depraedavit et castra cepit et loca eorum munita intervenit et vias mundavit, ut dum tempus congruum venisset. Sinodum vero publicum tenuit ad Paderbrunnen....​
 
Die Grimmbeispiele sind doch eigentlich ganz nett. Die Grimms haben die Märchen doch z.T. entsexualisiert. Außerdem wissen wir, dass einige von ihnen eigentlich keinen deutschen sondern einen französischen Ursprung haben.
Sie haben auch selektiert und editiert. Ähnliche Märchen, bei denen sie einen gemeinsamen Ursprung vermuteten wurden zusammengefasst oder alternativ zugunsten der passendsten Version aussortiert. Hinzu kommt die Bedeutungsverschiebung durch die Übertragung der Märchen vom Dialekt in die Hochsprache. Zudem ist die Grimmsche Sammlung durchaus regional geprägt und eben keine Sammlung eines "deutschen Kulturgutes". Durch die Popularität der Hausmärchen verdrängte diese Märchensammlung als Vorlesewerk auch nach und nach die mündlich tradierten Erzählungen anderer Regionen. Womit wir wieder bei meiner Ausgangsfrage wären: wie viel ist denn tatsächlich noch da an alten Erzählungen und Brauchtum? Wie viel kann - allein durch logisches drüber nachdenken - noch da sein?
 
Nur bietet die Seite dafür keinen Beleg.


In der Quelle steht nur, dass Karl dort Weihnachten feierte. Dass er einen Osterräderlauf erlebte, steht in den Reichsannalen nicht. Ich gebe mal den Text wieder mit der Markierung von Weihnachten, Ostern und Lügde bzw. dem Fortgang von dort:
Ibique initoconsilio cum Francis, ut iterum hieme tempore iter fecisset supradictus domnus rex in Saxoniam; quod ita et factum est. Et celebravit natalem Domini iuxta Skidrioburg in pago Waizzagawi super fluvium Ambra in villa Liuhidi. Et inmutavit se numerus annorum in DCCLXXXV. Tunc domnus rex Carolus supradictum iter peragens usque ad Rimee pervenit super fluvium Wisora, ubi confluit Waharna. Et propter nimiam inundationes aquarum inde reversus est Eresburgum; uxorem suam domnam Fastradanem reginam una cum filiis et filiabus suis ad se venire iussit. Ibi tota hieme residens et ibi pascha iam fatus excellentissimus rex celebravit. Et dum ibi resideret, multotiens scaras misit et per semetipsum iter peregit; Saxones, qui rebelles fuerunt, depraedavit et castra cepit et loca eorum munita intervenit et vias mundavit, ut dum tempus congruum venisset. Sinodum vero publicum tenuit ad Paderbrunnen....​

Danke für's Nachforschen in den Reichsannalen. Ich habe auch noch ein wenig herumgesucht, konnte aber keine weiteren Quellen finden, die aussagen, ab wann dieser Brauch in Lügde belegt ist. Ob dieser Brauch nun auf pagane, germanische Feuerkulte zurückgeht oder aber erst im christlichen Mittelalter oder Neuzeit entstand, bleibt deshalb Spekulatius.
 
Das Witzige an der ganzen Geschichte ist ja nicht nur, dass von den Osterrädern in den Quellen (der Text findet sich in den älteren Metzer Annalen (Annales Mettenses), in den Reichsannalen (Annales regni Francorum/Annales Laurissenses/früher Einhardsannalen) und beim Annalista Saxo) keine Rede ist, sondern auch, dass Karl gar nicht über Ostern in Lügde war (wie in den Wikipedia-Artikeln zu Lügde oder den Osterrädern behauptet), sondern über Weihnachten. Ostern verbrachte er bereits in Marsberg (aber auch da finden Feuerräder keine Erwähnung).
 
Das Witzige an der ganzen Geschichte ist ja nicht nur, dass von den Osterrädern in den Quellen (der Text findet sich in den älteren Metzer Annalen (Annales Mettenses), in den Reichsannalen (Annales regni Francorum/Annales Laurissenses/früher Einhardsannalen) und beim Annalista Saxo) keine Rede ist, sondern auch, dass Karl gar nicht über Ostern in Lügde war (wie in den Wikipedia-Artikeln zu Lügde oder den Osterrädern behauptet), sondern über Weihnachten. Ostern verbrachte er bereits in Marsberg (aber auch da finden Feuerräder keine Erwähnung).

Wiki schreibt:
Lügde bezeichnet sich selbst als Stadt der Osterräder. Das beruht auf einem alten und heute noch praktizierten Brauch, mit Stroh ausgestopfte, zuvor mit Wasser getränkte brennende Eichenräder zu Ostern an einem der umliegenden Berge herunterrollen zu lassen. Nach Überlieferungen wurde das bereits im Jahr 784 beim Besuch Karls des Großen praktiziert, der in der Nähe das Weihnachtsfest feierte.

Also entweder hat Karl der Große Weihnachten verspätet zu Ostern gefeiert, oder die Osterräder wurden zu Weihnachten gerollt.:confused:

Aber wenn in den Quellen der Karolingerzeit die Osterräder keine Erwähnung finden, dann spricht das dafür, dass irgendwann die "alte Tradition" den alten, heidnischen Sachsen "angedichtet" wurde.

Ich habe hier noch eine Aussage gefunden, dass der Osterradlauf urkundlich nicht vor 1743 belegt ist: https://books.google.de/books?id=a4...=0ahUKEwjxs-KP-oDKAhWHShQKHb3WCQc4FBDoAQgvMAQ

Da er 1743 verboten werden sollte, mußte er schon vorher ausgeübt worden sein. Ob das jahre-, jahrzehnte, jahrhunderte- oder jahrtausendelang geschah, ist allerdings unbekannt.
 
Interessant auch folgende Passage aus dem Wikipedia-Artikel Lügde:

Aufgrund ihrer christlichen Weltanschauung hatten viele Lügder Bürger Probleme mit dem Nationalsozialismus. 1933 wurden die Nationalsozialisten auf den Osterräderlauf aufmerksam. Sie wollten ihn für ihre Zwecke missbrauchen und entchristianisieren.
Offenbar ist das den Nationalsozialisten besser gelungen, als der vermutlich vom Ort stammende Verfasser dieser Zeilen des Wikipedia-Artikels das wahrhaben möchte. Denn der Lügder Heimatverein versucht ja, auch mittels KdGs und entgegen der tatsächlichen Aussage der Quellen, den Osterräderlauf als archaisches Erbe darzustellen. (Und da ich weiß, dass solche Feststellungen regelmäßig missverstanden werden: Nein, ich unterstelle dem Verein kein nationalsozialistisches Gedankengut. Nur, dass sie bzgl. der Osterräder auf den damals modernen Germanisierungswahn hereingefallen sind.)

Da er 1743 verboten werden sollte, mußte er schon vorher ausgeübt worden sein. Ob das jahre-, jahrzehnte, jahrhunderte- oder jahrtausendelang geschah, ist allerdings unbekannt.
Es ist durchaus möglich, dass bereits im 18. Jhdt. ein eigentlich christlicher Brauch von den christlichen Autoritäten als vorchristlich missverstanden wurde.
 
Da die beiden Verbotsversuche im 18. Jhdt. stattfanden, müsste man mal untersuchen, ob hier nicht weniger christliches als vielmehr aufklärerisches Gedankengut eine Rolle bei den Verbotsversuchen spielte.
 
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