Druck kann unter Umständen auch konservierend auf Überlieferungen wirken.
Ja, aber nur auf die, die unter diesem Druck noch weitergegeben werden. Die Verluste, sind gemessen am Weitergegebenen immens. Alternativ werden die Ursprungsgeschichten so verändert, dass sie wieder erzählbar werden (vergleichbare Phänomene gibt es durch alle Zeiten hindurch, wie etwa Anpassung in der Wortwahl oder des Ausdrucks, passend machen für Kinderohren, Variationen im Hinblick auf die jeweilige Gesellschaftsmoral usw. usf.), auch das verfälscht im Zeitverlauf die Ursprungserzählung immer mehr, so dass der Kern irgendwann nicht mehr identifizierbar ist und man wirklich nur noch mutmaßen kann.
In erster Linie kommt es bei der mündlichen Überlieferung auf die Form an, was ja auch die späte Verschriftlichung der Merseburger Zaubersprüche zeigt.
Ja, aber auch das merkbar machen verändert. So klipp und klar und eindeutig sind die Merseburger Zaubersprüche nun auch nicht, weder was exakte zeitliche Verortung, noch Entstehungsort oder gar Sinn und Zweck insbesondere im Zusammenhang mit dem nachfolgenden christlichen Gebet sind wirklich klar. Man vermutet lediglich.
Sagt dir in dem Zusammenhang die Runenschnalle von Pforzen etwas? Die ist für mich ein Paradebeispiel an "Interpretationsproblem": auf dieser Schnalle ist übertragen das folgende eingeritzt worden: "aigil andi aïlrun ltahu (oder elahu) gasokun". Im Museum in Kempten, wo ich dieses Stück entdeckt habe (und seitdem mag es mich auch nicht mehr so recht loslassen) stand in diesem kurzen Beschreibunstext neben dem Stück, dass diese Gürtelschnalle eines der ersten Zeugnisse der Christianisierung in Bayern wäre, weil Aigil und Ailrun zusammen mit dem Hirsch schritten, wobei der Hirsch als Symbol für Christus zu verstehen sei. Meine Reaktion darauf war erstmal:
Und ich muss noch dazu erwähnen, dass das nun kein Dorfmuseum betrieben vom Hobbyhistoriker um die Ecke war, sondern das Römische Museum Kempten, welches unmitelbar am APC hängt. Nachdem mir diese Interpretation nun wirklich nicht eingehen wollte, habe ich mich zu dem Stück etwas eingelesen und finde die nächste Interpretation, die sich mir nicht so recht erschließen mag: die Inschrift sei ein Fragment der Wielandsage weil der Name Aigil (= Egil) vorkommt.
Auch diese Interpretation kam aus durchaus namhaften Kreisen. Alternativ könnte man auch übersetzen: "Aigil und Ailrun haben die Hirsche verdammt/vertrieben/bedroht", was Raum für zig weitere Interpretationen liefert. Lange Rede kurzer Sinn: wir können es heute lesen, wir können es sogar übersetzen, aber was es bedeutet ist oft nur Mutmaßung, schlicht weil uns der kulturelle Kontext fehlt. Sehr ähnlich verhält es sich auch mit den Merseburger Zaubersprüchen, die heute auch nur so heißen, weil sie im 19. Jahrhundert ohne nähere Forschung als solche benannt wurden.
Aber bevor wir darüber diskutieren, ist zu bedenken, dass wir zu dem Thema in Paul Herrmann, Deutsche Mythologie, Leipzig 1898 und immer wieder aufgelegt, eine Sammlung der Überreste besitzen.
Aber genau dort liegt doch auch der Hund begraben: wir haben eine Sammlung der Überreste im Jahr 1898, es liegen also mal eben locker 2 Jahrtausende Veränderung, Verschleif und Variation durch mündliche Tradierung und entsprechende Anpassungen in der Verschriftlichungsgeschichte zwischen Ursprung und Sammlung. Das ganze noch gepaart mit ideen- und zeitgenössischen Kolorit den Herrmann als Sammelnder mit einbringt, allein schon der Titel (wie auch bereits bei Jakob Grimm): gibt es denn eine deutsche Mythologie?
Dennoch ist es eine gute Grundlage, um die Sagen, Märchen und Brauchtümer systematisch zu durchleuchten.
Da gebe ich dir Recht. Allerdings läuft man dabei durchaus auch Gefahr sich in wilden Spekulationen zu verlieren. Nicht alles muss zwingend auf pagane Wurzeln zurückgeführt werden und unsere heutigen Brauchtümer sind bei weitem weniger "noch von den alten Germanen" als das in neopaganen Kreisen gerne postuliert wird.
Jedenfalls gibt es Überlieferungen in Märchen und Sagen die offensichtlich Weiterentwicklungen in Quellen bezeugter Vorstellungen sind. Solange das alles aber nicht entsprechend untersucht ist, wird man nur sagen können, dass das Christentum nicht alle Traditionen unterdrücken konnte, die erhaltenen Überreste aber von der Form abhängt und schon in heidnischer Zeit durch das Christentum beeinflusst wurde.
Das finde ich als Ansatz zu simpel. Es ist doch nicht nur das Christentum: es sind die Bewegungen ganzer Völker, in Teilen des heutigen Deutschlands die Romanisierung, ebenso in Teilen des heutigen Deutschlands der Kulturaustausch durch slawische Besiedlung, Hunneneinfälle, Grenzkontakte, Handel und damit auch Kulturaustausch und Kulturerweiterung, das Aussterben ganzer Landstriche durch Krieg oder Seuchen, die Wiederbesiedlung... Und selbst heute in unserer global vernetzten Welt haben wir hier in München anderes Brauchtum als in Landshut oder in Salzburg, ganz zu schweigen von Berlin, Hamburg oder Ostwestfalen (Rautswänsken?). Diese Regionalisierung ist kein modernes Phänomen sondern ein gruppenidentitätsstiftendes Merkmal, das Brauchtum für Gesellschaften so wichtig macht.
Ein anderes Beispiel für die Übernahme paganer Sitten und Verschmelzung mit christlichen Tradition findet sich in Mexiko: ...
Ja, allerdings kann man die jeweiligen Christianisierungsprozesse nicht immer und unbedingt miteinander vergleichen, weil die Rahmenbedingungen nicht vergleichbar sind. Insbesondere der zeitliche Versatz macht hier einen Vergleich schon schwierig.