Deutschlands Ruhm um 1600

Ich bin bei Beschreibungen von Zeitgenossen aus dem 16. und frühen 17. Jhd über Fress- und Saufexzesse immer geneigt, sie mit Berichten aus dem 18. Jahrhundert zu vergleichen, die den Luxus und angeblichen Müßiggang der Bewohner des flachen Landes geißeln. Eine Magd, die ein Baumwolltuch trug, fanden manche Besucher, die ihre bequemen Residenzen verließen, schon skandalös.

Ähnlich wird es sich auch mit Pamphleten aus dem 16. und 17. Jahrhundert verhalten, mag sich auch tatsächlich mancher Renaissance- oder Barockfürst buchstäblich zu Tode gefressen haben.

Was den Fleischkonsum betrifft, so war dieser Ende des 16. Jahrhunderts wirklich deutlich höher, als im 18. Jahrhundert, was auf einen kurzzeitigen Boom der Viehzucht und Fleischindustrie zurückzuführen war. Im 18. Jahrhundert gehörten die großen Ochsentrecks bereits größtenteils der Vergangenheit an.
 
Interessant ist, was Peterson über den Zusammenhang von Trinken und Sprache schreibt:
Aber noch merkwürdiger ist, daß sich in der ganzen Sprache kein stärkerer und edlerer Ausdruck für jeden Drang oder heiße Begierde findet, als Durst und durstig; kein besserer für inniges Gefühl und süßes Nichtbewußtsein, als trunken und Trunkenheit. Beispiele von dem ersten sind: Thatendurst, Rachedurst, Golddurst und andere Wörter. [...]​

Mir fällt dabei auf, dass im modernen Deutsch gleich- oder sogar vorrangig die Begriffe Tatenhunger, Goldhunger, Lesehunger verwendet werden. Bedürfnisse werden heute eher durch "Nahrung" gedeckt: "Lesefutter". Neugier wird allerdings weiterhin "gestillt".
 
Hm, ich lenke da jetzt mal ein. Aber mir stellt sich die Frage, wieso hatten wir Deutschen dann diesen Ruf? Also, die Frage ist nicht rhetorisch gemeint, sondern ich grübel jetzt tatsächlich darüber nach. Warum werden gerade wir (immer wieder) mit negativen Eigenschaften behaftet und nicht z.B. die Polen, Dänen, Schweden oder Briten. Sollte wirklich nur Neid dahinter stehen? Das hielte ich für anmaßend, denn wenn man beim anderen Neid voraussetzt, dann hält man sich selbst für beneidenswert.
Gibt es denn auch positive Darstellungen über Deutschland zu dieser Zeit?
 
Hm, ich lenke da jetzt mal ein. Aber mir stellt sich die Frage, wieso hatten wir Deutschen dann diesen Ruf? Also, die Frage ist nicht rhetorisch gemeint, sondern ich grübel jetzt tatsächlich darüber nach. Warum werden gerade wir (immer wieder) mit negativen Eigenschaften behaftet und nicht z.B. die Polen, Dänen, Schweden oder Briten. Sollte wirklich nur Neid dahinter stehen? Das hielte ich für anmaßend, denn wenn man beim anderen Neid voraussetzt, dann hält man sich selbst für beneidenswert.
Gibt es denn auch positive Darstellungen über Deutschland zu dieser Zeit?

Mir würden schon ein paar negative Eigenschaften einfallen, mit denen diese und andere Völker behaftet werden. Da ich allerdings wenig von der Verbreitung von Klischees halte, halte ich mich damit zurück.
 
Warum werden gerade wir (immer wieder) mit negativen Eigenschaften behaftet und nicht z.B. die Polen, Dänen, Schweden oder Briten. Sollte wirklich nur Neid dahinter stehen? Das hielte ich für anmaßend, denn wenn man beim anderen Neid voraussetzt, dann hält man sich selbst für beneidenswert.

Ich habe mit der Aussage einer britischen Historikerin über Deutschland angefangen, wollte aber nicht auf die Frage hinaus, was andere Völker über uns (und vice versa) sagen. Das jahrhundertelange exzessive Trinken in deutschen Landen ist ja zuallererst von Deutschen selbst diagnostiziert und angeprangert worden. Ich verweise nur auf Luther:
Ess muss ein jeglich Land seinen eigenen Teufel haben, Welschland seinen, Frankreich seinen; unser deutscher Teufel wird ein guter Weinschlauch seyn, und muss Sauff heißen, daß er so durstig und hellig ist, der mit so großem Sauffen Weins und Biers nicht kann gekühlet werden, und wird solcher ewiger Deutschlands Plage bleiben (habe ich Sorge) bis an den jüngsten Tag.
Deusche Kulturhistoriker tuten ins gleiche Horn, etwa Zoepfl (Deutsche Kulturgeschichte 1930/31, 2. Band), der das Kapitel über das 16. Jh. mit "Im Zeichen des Grobianismus" übertitelt und vom Deutschen berichtet, er habe zu jener Zeit "fast nicht mehr trinken (können), ohne sich zu besäufen. Alle Welt, die Heimat [!] wie die Fremde, war sich darüber einig, daß der Deutsche im Vollsaufen alle Völker und alle lebenden Wesen übertreffe" (S. 162).

Wem es ein Trost ist: Zur gleichen Zeit habe sich "die Kochkunst selbst ... entsprechend den gesteigerten Ansprüchen weiterhin verbessert. Man braucht nur die Kochbücher durchzublättern, die sich sehr gewichtig auf dem Büchermarkt hervordrängten" (S. 156).

Aber sehen wir's mal positiv:
Deutsche Frauen, deutsche Treue,
deutscher Wein und deutscher Sang,
sollen in der Welt behalten ihren alten schönen Klang.
Uns zu edler Tat begeistern unser ganzes Leben lang.
Deutsche Frauen, deutsche Treue,
deutscher Wein und deutscher Sang.
 
Nachtrag

Als ich dieses Thema kreierte, stand ich im Banne von Petersens Philippika. [1] Der Gerechtigkeit halber ist auf andere Stimmen hinzuweisen, die den diesbezüglichen deutschen Spitzenplatz mindestens relativieren. Beispiel: [2]
Zweifel sind jedoch erlaubt, ob ein archaisches Trinkverhalten allein in Deutschland überlebt hatte. (Als dem Trunk verfallen galten auch Skandinavier, Flamen, Polen und besonders Engländer, denen Shakespeare – Othello, 11,3 – die vor Dänen, Deutschen und Holländern größte Trinkfestigkeit nachrühmte: sie 'sind alle nichts gegen den Engländer') [3]
Tatsache bleibt jedoch:
In den seit dem 17. Jahrhundert beliebten Völkertypologien wird den Deutschen jedenfalls unisono eine überragende Trunkliebe bescheinigt. So wird in einer noch vor dem Dreißigjährigen Krieg erschienenen Abhandlung kritisiert: "Was möchten die Teutschen beym Trunck ärgeres thun, dann sich biß an die Gurgel vollsauffen, das Wasser unter den Tisch abschlagen, die Gläser zerbeissen, Liechtbutzen fressen, und zum Abschied Weiber und Töchter nothzwingen wollen?"
[1] J. W. Petersen: Geschichte der deutschen National-Neigung zum Trunke. 1782 (Neudruck Dortmund 1979)
[2] Hasso Spode: Die Macht der Trunkenheit. Opladen 1993, S. 263
[3] Ein Nachbar, der auf Mallorca war, bestätigte diese Klischee kürzlich vehement.
 
Zuletzt bearbeitet:
Vielen Dank fürs Aufwärmen! :yes:

Ich denke, dass einfach das Trinkverhalten der damaligen VIPs wie Christian I., Christian II. und Johann Georg I. von Sachsen wahrscheinlich auch zum Bild der versoffenen Deutschen beigetragen haben.

Deine Quelle von 1782 ist aber auch im Spiegel der Zeit zu betrachten. Im späten 18.Jh. waren zahlreiche typisch deutsche Riten wie das Zuprosten verpönt. Um die Jahrhundertmitte hatte es noch Sammlungen von Trinksprüchen gegeben.
 
Trinquons ensemble en Europe! Prosten wir uns gemeinsam zu in Europa! Trinquer im Französischen kommt vom deutschen „trinken“.
Die ersten Toasts zwischen den Königen Europas haben im Mittelalter letztendlich nach langen Perioden des Krieges den Frieden besiegelt.

Und beim Oktoberfest 2012 haben französische Gäste ein neues Wort erfunden in ihrer Sprache: „prositer!“, sich singend zuprosten:
Ah oui, nous avons rapporté encore autre chose dans nous bagages : un nouveau verbe franco-allemand ! Ce verbe, c’est « prositer », et ça veut dire trinquer en chantant. Ce sont évidemment les Français de l’équipe qui l’ont inventé.

Wie prostet Europa sich zu:

https://europeisnotdead.com/europe-is-not-deadfr/disco/mots-europeens/toasts-europeens/

Die Polen z.B. prosten sich zu: „Hundert Jahre!“
Warum die Slowenen mit „Stolicka!“ prosten ist bis heute nicht klar. Es heißt schlicht und einfach „Stuhl!“. - Vielleicht wünscht man sich nach langem Trinken eine feste Sitzgelegenheit.
 
In den seit dem 17. Jahrhundert beliebten Völkertypologien wird den Deutschen jedenfalls unisono eine überragende Trunkliebe bescheinigt.

Da ist möglicherweise schon was dran gewesen. Ich mag mich jedenfalls an eine Passage eines angeblichen spätmittelalterlichen Landsknechtslied erinnern, in dem es heisst "das Geld das wollen wir versaufen, was der Schweizer auf Handschuh gibt" - oder so ähnlich. Welches Lied das tatsächlich war ist mir allerdings nicht in Erinnerung geblieben.

PS.
Habe es gerade beim googlen gefunden (im "das deutsche Volkslied" von Georg Winter). Dort heisst es:
"Und wird mir dann geschossen
ein Flügel von meinem Leib,
so darf ich's niemand klagen,
es schadt mir nid ein Meit
und nit ein Kreuz an meinem Leib;
das Geld wöll wir verdemmen,
das der Schweizer um Handschuh geit."

Wie historisch das Lied tatsächlich ist, resp. ob es tatsächlich bereits aus der Zeit von Frundsberg stammt, kann ich nicht verifizieren.
 
In grauer Vorzeit hatten wir in Göttingen mal ein hochinteressantes HS zum Thema "Kulturgeschichte des Fleischgenusses". Statistische Erhebungen und wirklich belastbare Zahlen wie sich das Pro-Kopf auf die verschiedenen deutschen Länder auswirkte, sind schwer ermittelbar. Was man hat, sind oft recht reizvoll lesbare "Menükarten" von festlichen Empfängen und was da so aufgetischt wurde an Speisen und Getränken, und regionale Besonderheiten. In Süddeutschland war zumindest die Zeit zwischen der Reformation und dem Vorabend des Dreißigjährigen Krieges die Blütezeit der großen Vieh- und Ochsentrecks. Die gab es zwar noch im 18. Jahrhundert, aber der angegebene Zeitraum markiert schon so etwas wie einen Höhepunkt. Die Fress- und Sauflust war fast immer schon ein dankbares Thema von protestantischen und katholischen Predigern, die gegen unmäßige Völlerei und Trunksucht wetterten, und es gibt zahlreiche Genreszenen aus der Malerei wo Künstler wie Breughel, Bauernhochzeiten, bürgerliche Feste, Stillleben von braten oder auch ein fiktives Kaukanien malten. Fleischkonsum war eben auch ein Statussymbol, und im Gegensatz zu Tulpenzwiebeln wusste man da doch wenigstens, was man hatte. Gäste einzuladen, aufzutischen, was Küche und Keller hergaben war eben auch eine Form der Repräsentation, ein äußeres und für alle sichtbares Zeichen, dass man es zu etwas gebracht hatte. Fleisch war ein Statussymbol, und das galt natürlich auch für Wein, teure Gewürze Gewürze und Zucker. Die Produktion von Schweinefleisch war dank der noch regional üblichen Waldweide nicht übermäßig teuer. Es dürfte in den Wäldern noch relativ viele verwilderte Hausschweine gegeben haben, ähnlich wie noch heute die sogenannten Razorbacks in manchen US-Bundesstaaten, und auch Zutaten der feineren Küche wie Schnepfen, Rebhühner und Singvögel wie die berühmten "Krammetsvögel" (Wacholderdrosseln), Amseln, die schon die Römer schätzten und die heute noch z. B. auf Korsika und manchen Gegenden Sardiniens verzehrt werden, waren verfügbar.
Auch wenn sich heute Vogelschützer darüber mokieren, haben auch unsere Vorfahren natürlich Singvögel gefangen. Der Gebrauch von Leimruten war nicht nur dem Adel vorbehalten. Viele Lokalitäten künden heute noch von "Vogelherden" oder "Vogelkojen" oder "Entenfangen" Meine Uroma erzählte, dass ihr Vater sich ein Zubrot mit Vogelfang verdiente.
Gute Sänger wie Amseln und Finken wurden verkauft. In meiner Kindheit als noch mit dem Luftgewehr auf alles was kreuchte und fleuchte geschossen werden durfte, wurde mein Opa im Spätsommer/Herbst zum wilden Jäger, so manche Wacholderdrossel, Taube und Ente wanderte dann in den Kochtopf, und der Italiener von nebenan bereitete sie zu.

Doch zurück zum Thema! "Wildbret wie" Krammetsvögel", Bekassinen, die zum Niederwild gehörten, waren verfügbar, und Rind- oder Schweinefleisch war so etwas wie ein "sinkendes Kulturgut" im 16. und 17. Jahrhundert, ähnlich wie heutzutage Champagner oder Cognac, die bei Aldi verfügbar sind.
 
Zur Ergänzung von Scorpio:

Die Landesherren sahen dieses gute Leben des Volkes gar nicht gern. Es wurden Vorschriften erlassen, wie viele Gäste zu einer Hochzeit oder Taufe eingeladen werden durften. Auch die Anzahl der gereichten Speisen wurden beschränkt. Die wiederholten Erlasse deuten darauf hin, dass sich das Landvolk nicht wirklich an die Vorgaben des Hochwohlgeboren hielten. Ist auch schräg, wenn der Herrscher Schokoladenbrunnen im Schloss aufstellt, aber seinen Untertanen den Schweinebraten zur Hochzeit verbietet.
 
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