Amiens, März 1918: Als der Wein die Briten rettete

Wenn ich mir den oben schon mehrfach genannten (und übrigens sehr interessanten!) Aufsatz genau durchlese, so bestätigt sich mir eigentlich nur meine Vermutung, dass "der Wein" im speziellen und die eroberten feindlichen Nachschubdepots im allgemeinen eben nur ein weiterer Faktor für den letztendlichen Mißerfolg der Frühjahrsoffensive waren, nicht aber unbedingt der Hauptgrund oder auch nur einer der entscheidenden Gründe.
Nicht nur die Autoren des Reichsarchivs kommen zu dieser Einschätzung, sondern auch immerhin General Groener. Die Zitate von Thaer sind verkürzt wieder gegeben, hier muß man in dem angegebenen Werk erst einmal den Zusammenhang der Äußerungen feststellen. Ich habe da nämlich den Eindruck, dass Thaer sich in seinen Gesprächen mit Luddendorff ganz allgemein auf die psychische Verfassung des Feldheeres, also den "Kampfgeist" der Truppe, bezieht.
Noch einmal zum Verständnis: es ist sicherlich unstrittig, dass derartige Vorkommnisse vorkamen. Unstrittig ist auch, dass dies nachteilig auf den deutschen Angriffsschwung gewirkt hat. Kein Wunder, dass die Franzosen dies als Mittel zur Verzögerung von feindlichen Angriffen ihren Truppen nahelegen - so wie man auch Brücken sprengt und Verkehrsknotenpunkte zerstört, um den Vormarsch des Feindes aufzuhalten. Ob das dann entscheidende Wirkung hat, ist eine andere Frage. Ich habe da so meine Zweifel...

Um wirklich ernsthaft festzustellen, ob die Zeitverluste aufgrund des Aufenthalts bei den eroberten Nachschubdepots schlachtenentscheidend waren, muß man meiner Meinung nach folgende Fragen näher untersuchen:

Welche Truppenteile waren eigentlich von diesen Erscheinungen betroffen?
Hier ist nicht nur die Anzahl und die Stärke der betroffenen Truppenteile von Interesse, sondern auch die Truppengattung, ihre Funktion und ihr Auftrag, insbesondere im Rahmen des Angriffs. Es ist etwas gänzlich anderes, ob einzelne Bataillone einzelner Regimenter zu verschiedenen Zeitpunkten betroffen waren oder ganze Divisionen (wobei mir Luddendorffs Zitat in dem Artikel zu salopp und allgemein daher gesagt erscheint, als dass man daraus automatisch nähere Erkenntnisse ableiten könnte). Es ist auch etwas anderes, ob Kampftruppe in vorderster Front betroffen war oder eine Etappeneinheit mit einem vergleichsweise nachrangigen Auftrag. Auch bei der Kampftruppe ist wieder zu unterscheiden: handelte es sich um einen Verband im Angriffsschwerpunkt? Oder um nachgeordnete Verbände, zum Beispiel nachfolgende Reserveverbände?

Wie groß war der durch die Plünderungen aufgetretene Zeitverlust?
Nehmen wir einmal an, das primär Kampftruppe betroffen war, dann stellt sich die Frage, wie groß der Zeitverlust war. Ein paar Stunden? 24 Stunden? Mehrere Tage?

Und die beiden eingangs genannten Fragen münden dann in eine dritte, vielleicht die überhaupt wichtigste Frage:

Welchen militärischen Vorteil hatte der Gegner durch den eingetretenen Zeitverlust, den er ansonsten nicht gehabt hätte und welche Auswirkungen hatte das für den deutschen Angriff?
Wenn beispielsweise mehrere Regimenter im Angriffssschwerpunkt ausfallen und es gelingt dem Gegner durch die eingetretene Verzögerung im Vormarsch eigene Reserven heranzuführen, die es den deutschen Verbänden nunmehr unmöglich machen, ihr Zwischenziel für den Angriff zu erreichen, dann ist die Verzögerung in der Tat gravierend, wahrscheinlich sogar schlachtenentscheidend. Die selbe Wirkung kann eintreten, wenn Reserveverbände auf diese Weise ausfallen und daher der militärischen Führung in den entscheidenden Momenten, wo sie gebraucht werden, nicht zur Verfügung stehen. Oder wenn Nachschubverbände ihren Versorgungsauftrag nicht mehr zeitgerecht ausführen können und deshalb die Truppe in vorderster Front den Angriff wegen fehlender Munition unterbrechen muß - und der Gegner dadurch eine Stärke gewinnen kann, die ein weiteres erreichen der Ziele unmöglich macht.
Dagegen sind die Zeitausfälle unerheblich oder nachrangig, wenn man nach Lage der Dinge annehmen muß, dass die deutschen Verbände die gesteckten Ziele entweder ohnehin nicht erreichen konnten, auch wenn sie rechtzeitig in voller Stärke an bestimmten Stellen zur Verfügung gestanden hätten, oder aber ihre Ziele auch trotz eingetretener Zeitverzögerung wahrscheinlich erreicht hätten. Nicht jeder Zeitverlust bedeutet ja gleich das Scheitern einer Angriffsoperation. Wenn ein Reserveverband für 24 Stunden ausfällt, aber in diesen 24 h nicht gebraucht wird, hat das schließlich keine nachteilige Auswirkungen auf den Angriffsverlauf. Wenn eine Nachschubeinheit ausfällt, aber die Truppe mit den zur Verfügung stehenden Beständen ausreichend für die Dauer des Ausfalls versorgt ist, so hat diese Zeitverzögerung auch eher geringe Auswirkung. Hat der Gegner aber bereits entscheidende Schlüsselpunkte im Gelände oder Zwischenziel des Angriffs so rechtzeitig nachhaltig besetzt, dass auch ohne Unterbrechung eine Einnahme nicht mehr möglich gewesen wäre, so hat die Zeitverzögerung auch in diesem Fall keine Auswirkung gehabt - und war dann bestenfalls ein weiterer Nagel zum Sarg für den Angriffserfolg.

Um all diese Fragen zu beantworten, müsste man sich meiner Meinung nach die Regimentsgeschichten der beteiligten Verbände mal näher anschauen (so vorhanden) und vor allem auch entsprechende Kriegstagebücher, sowohl der beteilgten Verbände und Großverbände als auch der OHL. Anders als die für die Öffentlichkeit bestimmten offiziellen Meldungen geben Kriegstagebücher in der Regel recht offen die Tatsachen und nüchternen Beurteilungen der Beteiligten wieder - sie sind eben nur für den internen Dienstgebrauch bestimmt gewesen und daher frei von überschwenglicher Beschönigung oder Propaganda bedingter Unterschlagung von Unanehmlichkeiten. Ein Scheitern der Offensive aufgrund von Zeitverlusten infolge Plünderung dürfte dort akribisch festgehalten worden sein.

Ich muß allerdings feststellen, dass ich selber da keinen Quellenzugang habe. Vielleicht kann ja jemand weiterhelfen, der sich schon einmal damit befasst hat??

Bis dahin bleibe ich erst einmal bei meiner Vermutung, dass für das Scheitern der deutschen Angriffe die neue Flexibilität im Bereich der Alliierten aufgrund des neu gebildeten Oberkommandos unter Foch viel entscheidender war als der Zeitverlust bei den Nachschubdepots. Auch das Auftreten der amerikanischen Truppenteile dürfte hier entscheidende Wirkung gehabt haben. Aber vielleicht führt die Beantwortung der oben genannten Fragen ja dann doch zu neuen Erkenntnissen...
 
Ludendorff sagte sinngemäß "wir hauen ein Loch hinein und sehen dann weiter".

So erinnert sich Generalfeldmarschall Rupprecht von Bayern:


Als Kronprinz Rupprecht, Befehlshaber der 17. und 2. Armee, im Frühjahr 1918 bei Ludendorff nach dem operativen Ziel der Aktionen anfragen läßt, antwortet Ludendorff, wie gewohnt, telefonisch: "Das Wort 'Operation' verbitte ich mir. Wir hauen ein Loch hinein. Das Weitere findet sich."

Schlachtfelder: Codierung von Gewalt im medialen Wandel
 
So erinnert sich Generalfeldmarschall Rupprecht von Bayern:


Als Kronprinz Rupprecht, Befehlshaber der 17. und 2. Armee, im Frühjahr 1918 bei Ludendorff nach dem operativen Ziel der Aktionen anfragen läßt, antwortet Ludendorff, wie gewohnt, telefonisch: "Das Wort 'Operation' verbitte ich mir. Wir hauen ein Loch hinein. Das Weitere findet sich."

Schlachtfelder: Codierung von Gewalt im medialen Wandel

In Zabeckis brillanter operativen Studie, The German 1918 Offensives, ist dazu noch weiter ausgeführt, da Ludendorff den Gedanken zuspitzte:

"Ludendorff responded with his famous quip about blowing a hole in the middle and the rest following of its own accord. At another conference at Rupprecht’s headquarters on 21 January 1918, Ludendorff said:

We talk too much about operations and too little about tactics. I have been involved in many operations. I never knew before, however, how an opera- tion in fact turned out. Decisions had to be made on a daily basis. It cannot be predicted whether you will be able to direct a thrust in the desired direc- tion or if you will be forced to change your course to somewhere else. It is not even predictable three or four days in advance. Meanwhile, the picture can change so much that the original intent cannot be implemented. Thus I warn you to commit your thoughts to one certain direction, the best one. That is why all measures have to concentrate on how to defeat the enemy, how to penetrate his front positions. Follow-on measures are in many cases a matter of ad hoc decisions. Then the decision must be correct. I therefore advise you to deal more with tactical problems."

Army Group Bavarian Crown Prince Rupprecht, War Diary, “Minutes of a Conference held with Ludendorff, 18–21 January 1918—Recorded by Thilo,” (23 January 1918), Bundesarchiv/Militärarchiv, File PH 5 I/45.

Es gab kein "operatives Ziel" auch weil jede Möglichkeit fehlte, den operativen Durchbruch einer deep battle überhaupt ausnutzen zu können.
 
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