Ich möchte an dieser Stelle aufgrund der hier vorgebrachten Beiträge ein paar Thesen aufstellen, auf deren Grundlage vielleicht weitere Beiträge folgen können. Die Thesen geben meine Sicht zu diesem Thema wieder, so wie ich die Dinge nach dem Durchlesen der hier vorgebrachten Beiträge und anderer mir zur Verfügung stehender Literatur sehe.
Die Eroberung von Nachschubdepots, die neben Proviant aller Art auch Weinvorräte enthielten, war ein Grund für Verzögerungen beim Vormarsch einzelner Truppenteile, aber keineswegs kriegsentscheidend, nicht einmal feldzugsentscheidend.
Diese Vorfälle, die von verschiedenen militärischen Führern geschildert wurden, betrafen einzelne Regimenter zu einzelnen Zeitpunkten, nicht aber die gesamte Armee. Bezeichnenderweise werden diese Vorfälle von den betreffenden Führern auch stets als ein Grund von vielen angegeben, nicht aber als der Hauptgrund oder die entscheidende Ursache für das Scheitern der Offensive. Es ist aus meiner Sicht auch unwahrscheinlich, dass ein verzögerter Vormarsch einzelner Regimenter bei einer Offensive, die mehrere Armeen umfasste hier feldzugsentscheidend gewirkt haben dürfte. Fest steht aber zweifelsohne, dass diese Verzögerungen alles andere als vorteilhaft für den Angriffsverlauf waren. Insofern dürfte es sich bei dem Zeitverlust durch Plünderung der Nachschubdepots durch die ausgehungerte Truppe um eine weitere Erschwernis bei dem Angiff gehandelt haben. Sie ist mit als einer von vielen Gründen für das Scheitern der Offensive zu nenen, aber eben nicht als der ausschlaggebende Grund.
Ich gehe davon aus, dass die deutschen Truppen auch ohne diese Zeitverzögerungen bei den Angriffen im Frühjahr aufgrund der alliierten Reaktionen eine Niederlage erlitten hätten. Umgekehrt hätten sie wahrscheinlich auch trotz dieser Zeitverluste die Offensiven erfolgreich fortsetzen können, wenn den Alliierten keine zweckmäßigen Maßnahmen auf die deutschen Offensiven eingefallen wären.
Ein maßgeblicher Grund für das Scheitern der deutschen Frühjahrsoffensiven im Jahre 1918 nach anfänglichen herausragenden Erfolgen ist in einer zweckmäßigen Reaktion der Alliierten auf die deutschen Angriffe zu sehen.
Durch die Bildung eines gemeinsamen alliierten Oberkommandos unter dem französischen Marschall Foch konnten die Alliierten verhindern, dass die deutschen taktischen Erfolge operativ feldzugsentscheidend und damit möglicherweise sogar kriegsentscheidend wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten Briten und Franzosen eigentlich stets ihre eigenen, parallel laufenden Kriege in Frankreich geführt. Es gab bestenfalls lose Absprachen zwischen den militärischen Oberkommandos der beiden Nationen. Oft genug wurden diese auch noch halbherzig umgesetzt. Durch das gemeinsame Oberkommando wurde jedoch erreicht, dass zum ersten mal in diesem Krieg britische Truppen in nennenswertem Umfang einem französischen Oberbefehlshaber unterstellt wurden und französische Truppen außerhalb der zusammenhängenden französischen Frontlinie im britischen Frontabschnitt als Reserve eingesetzt werden konnten. Später wiederholte sich ähnliches mit umgekehrten Vorzeichen, als sich die Offensive gegen die französische Armee richtete. Die bereits angelandeten amerikanischen Truppen wurden divisionsweise (oder laienhaft ausgedrückt: "scheibchenweise") als Reserve in die Frontlinie eingeführt. Das war angesichts der bis dahin üblichen Praxis der alliierten Kriegsführung und der Absicht des amerikanischen Oberbefehlshabers, eine "amerikanische" Offensive zu führen, keineswegs selbstverständlich. Diese neue Fexibilität ist einer der entscheidenden Gründe dafür, warum sich die deutsche Offensive fest lief, nicht aber weil es zu Verzögerungen im Vormarsch einzelner Regimenter infolge der vorgefundenen Nachschubdepots kam.
Ein weiterer entscheidender Grund für das Scheitern der Offensiven, und zwar speziell der Juli-Offensive, ist die nachlassende Kampfmoral als Ergebnis der fehlgeschlagenen voran gegangenen Angriffe im Frühjahr.
Das Kaiserliche Feldheer befand sich Anfang 1918 in einer schwierigen materiellen und personellen Situation. Personalausfälle konnten nach 3 ½ Kriegsjahren immer schwerer ersetzt werden, die einzelnen Rekrutenjahrgänge wurden bereits seit Jahren zunehmend früher eingezogen. Hier zeichnete sich ein Ende der Möglichkeiten ab. Die Kampfmoral sowohl der Bevölkerung in der Heimat als auch der Truppe an der Front nahm zunehmend ab. Dies war ganz entscheidend eine Folge der schlechten Versorgungslage aufgrund der alliierten Seeblockade. Auch die Eroberung der Kornkammer Ukraine im Jahre 1918 konnte hier keine schnelle Lösung des Problems bringen. Ein weiterer Grund war der sich in die Länge ziehende Krieg mit seinen steigenden Verlusten ohne Aussicht auf ein baldiges Ende. Vor diesem Hintergund führte die von deutscher Seite im Rahmen der Frühjahrsoffensiven ausgegebene Losung, dass dies die letzte, den alles entscheidenden Sieg bringende Offensive sein sollte, zu einer hohen Erwartungshaltung bei Bevölkerung und Truppe. Es gelang durch diese Losung der deutschen Führung, bei der Truppe noch einmal eine außerordentliche Bereitschaft zum persönlichen Einsatz zu erzeugen – mit fatalen Konsequenzen als diese Offensiven scheiterten und die Soldaten erkannten, dass auch diese Opfer umsonst gewesen waren. Daher nahm die Kriegsbereitschaft ab dem Sommer deutlich ab. Dies drückt sich unter anderem in hohen Gefangenenzahlen nach der Augustoffensive der Alliierten aus, aber auch in zunehmender "Drückebergerei" von Soldaten, die sich in der Etappe befanden und eigentlich an die Front hätten zurückkehren sollen. Eine offene Meuterei wie bei den Franzosen im April, Mai 1917 gab es zwar nicht, aber der Umfang der sich in der Etappe unberechtigt aufhaltenden Frontsoldaten nahm im September 1918 derartig gravierende Züge an, dass die Fronttruppe nachhaltig geschwächt wurde.
Insofern bestand ab dem Scheitern der Juli-Offensive dann auch keine Möglichkeit mehr, den Krieg siegreich zu beenden. Dies war deshalb der Fall, weil sich jetzt die strategische Lage auch in allen anderen Bereichen sehr rasch zuungunsten des Reiches entwickelte.
Nahezu zeitgleich scheiterte eine österreichische Offensive am Piave bereits in den Anfängen. Das Osmanische Reich war nicht mehr in der Lage, den britischen Vormarsch in Palästina aufzuhalten. Nach dem Abzug deutscher Truppenteile war Bulgarien kaum noch in der Lage, die Saloniki-Armee der Alliierten auf dem Balkan aufzuhalten. Alle Verbündeten zeigten noch gravierendere Auflösungserscheinungen als das Deutsche Reich und es ist daher auch kein Zufall, dass Bulgarien der erste Staat der Mittelmächte war, der Ende September 1918 aus dem Krieg ausscheiden musste. Dadurch verschlechterte sich die Kriegslage jedoch für Deutschland weiterhin.
Hinzu kam, dass ab dem Sommer 1918 amerikanische Truppen in derartig großer Zahl zur Verfügung standen, dass sie nicht mehr nur einzeln divisionsweise eingesetzt werden konnten, sondern der amerikanische Oberbefehlshaber Pershing für den Herbst zum ersten mal eine rein amerikanische Offensive plante. Dem hatte die deutsche Westfront nichts entgegen zu setzen.
Zur See war der deutsche uneingeschränkte Unterseeboot-Krieg längst gescheitert und musste durch die alliierten Anstrengungen zur Bildung einer Minensperre zwischen Schottland und Norwegen ("Northern Barrage") in absehbarer Zeit endgültig zum erliegen kommen.
Aber natürlich: das Bild von besoffenen deutschen Truppen als Grund für das Scheitern der Offensive im Frühjahr regt die Phantasie des Lesers an und eignet sich wegen seiner Einfachheit daher geradezu zu einer unsachlichen reißerischen Schlagzeile im "Bild-Zeitungs"- Niveau: "Als der Wein die Engländer rettete"... Ganz so bildhaft einfach ist die historische Wirklichkeit dann eben doch nicht gewesen.