Ich habe Thanepower nur Joas näher gebracht, da er mit ihm zwar nur "Ad hoc" begründete, Joas verneine den Anspruch der Religion auf die Menschenrechte.
Sakralisierung und Profanität sind zwei Unterscheidungen in der Theologie, die von Emilé Durkheim geprägt wurden. Sakralität, bzw. Heiligtum, bedeutet einer Person oder einem Gegenstand transzendentale Werte nahezubringen. Wenn nun jeder Mensch heilig ist, dann ist er, platt gesagt, gleich und "unanatastbar". Dies ist eine metaphysische Vorstellung, also einer letztlich nicht empirisch oder sozial zu verstehenden Kategorie. Hans Joas übrigens hat dafür das Beispiel der Liebe.
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Auch der Mensch der unter der Vernunft des Weltnaturgesetzes steht, ist, ebenso platt gesagt - wenn nicht unbedingt heilig so doch ebenfalls gleich und unanatstabar. Die Vorstellung der Stoiker würde ich jetzt auch nicht als soziale Kategorie bezeichnen.
Insofern ist die stoische Weltsicht mindestens so ausschlaggebend für "Demokratie" - wenn nicht sogar mehr. Es ist m.M nicht von ungefähr, dass Demokratie in antiken Griechenland erfunden wurde und nicht in der jüdisch-christlich geprägten Welt (wie gesagt, da dauerte es mehr als 1'700 Jahre).
[QUOTE="ervie, post: 791887, member: 23069"
Huntington oder Larry Siedentop zeigen die Demokratiekompatibilität von Religionen auf (Huntington 1996: 307-315) oder die christlichen Wurzeln der liberalen Demokratie (Siedentop 2002). Den Zusammenhang zwischen Religion und Demokratie stellt Wolfgang Merkel fest, dass die meisten Demokratien es im christlich geprägten Kulturkries gibt. (Merkel 2002a: 109, 2002b).
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Genau so richtig - oder genau so falsch - ist meine Aussage, dass es die meisten (funktionierenden) Demokratien im aufklärerisch geprägten Kulturkreis gibt. Die "meisten Demokratien" ist zudem ein vager Begriff. Gelten die dank Missionierung christlichen afrikanischen Staaten als "christlich geprägt" oder nicht ? Jedenfalls haben viele von ihnen immer wieder Schwierigkeiten mit der Demokratie. Im Gegensatz zu den "missionierten" Staaten ist Äthiopien ganz bestimmt christlich geprägt, eine Demokratie ist das Land erst seit kurzer Zeit. Japan und Indien sind Demokratien, aber sicher nicht christlich geprägt. Die südamerikanischen Staaten sind ganz bestimmt christlich geprägt, haben aber auch immer wieder Mühe mit der Demokratie.
[QUOTE="ervie, post: 791887, member: 23069"
Den Zusammenhang zwischen der Menschenwürde, der Demokratie und der Trennung von Kirche und Staat zeigt Tine Stein auf. Selbst die Kirche ist nicht statisch und durchlebt einen fortlaufenden Prozess. Sakralisierung bedeutet auch Schutz und Anerkennung der Menschenwürde. In den biblischen Erzählungen ist dies so grundgelegt: in der Schöpfungsgeschichte; in der Geschichte des Brudermordes; im Exodus-Geschehen; in der Erzählung der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und dem Erlösungsversprechen durch den Opfertod. Wie dieses Botschaft in die begrifflichen Hüllen der Würde und der Person eingeflossen ist und wie schließlich diese religiös-metaphysische Würdebestimmung bei Kant zu einer vernunftmetaphysischen transformiert wurde, bildet das Muster eines Weltverständnisses, das zu einem der Fundamente der europäischen Entwicklung geworden ist. (Stein 2007: 338).
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Die "vernunfmetaphysiche" Würdebestimmung Kants kann gerade so gut auf die Stoiker bezogen werden.
Für den "gestirnten Himmel über mir" und das "sittliche Gesetz in mir" brauchte Kant keinen Brudermord und keine Menschwerdung Gottes.
Hinsichtlich Sakralisierung und Anerkennung der Menschenwürde fallen mir - auf die Schnelle -
die Unlogik im Begriff "Gott und die Freiheit des Menschen" wie sie Bakunin ausführt, ein. Dies möchte ich
aber hier nicht weiter vertiefen, denn das geht Richtung Weltanschauung (oder wenigstens
Philosophie) was hier im Geschichtsforum nicht gern gesehen wird.
[QUOTE="ervie, post: 791887, member: 23069"
Wozu es die Trennung von Kirche und Staat braucht, hatte ich versucht in meinem Beitrag darzulegen. Der moderne legitime Staat darf seine Herrschaft nicht auf eine Religion stützen. Das demokratische Menschenbild wurde durch die biblischen Erzählungen über die Erschaffung des Menschen, über dessen Sündenfall, seine Versklavung und Befreiung, über das dann einzigartige Erlösungsversprechen durch die Menschwerdung Gottes geprägt, wie wir uns als Menschen sehen. Es ist im Prinzip das Bild vom Menschen, der gleich und frei ist und mit einem unbedingten Anspruch auf Anerkennung seiner Würde auftreten kann. Zu Beginn des Grundgesetzes steht der Satz: "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und dem Menschen (...) hat sich das Deutsche Volk (...) dieses Grundgesetz gegeben." Ein wechselseitig abgeschlossener Vertrag, dass der Bürger nicht nur vor der denkbar allgemeinsten weltlichen Instanz, der Menschheit, gerechtfertigt werden, sondern auch vor Gott, dem in der menschlichen Vorstellung absolut Anderen als dem Schöpfer allen Seins (Stein 2007: 12).
Da wir aber in einem modernen Staat leben mit vielen verschiedenen Religionen, die diese Aussage und dessen metaphysischen Gehalt nicht wahr nehmen, muss sich der Staat doch legitimieren. Und hier kommt Joas ins Spiel, der genau diese Ansicht vertritt, dass der moderne Staat sich nicht auf die eine Religion stützen darf (Joas 2015: 13).
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Wenn ich Dich richtig verstehe darf sich die moderne Demokratie nur deshalb nicht auf eine Religion stützen, weil die Anhänger anderer Religionen den "metaphysischen Gehalt", welche die Demokratie offenbar benötigt, nicht wahr nehmen ?
Immer vorausgesetzt, ich habe das richtig verstanden, kann ich dieser Sichtweise mit historischer Argumentation (nicht weltanschaulicher) widersprechen. Um eine liberale Demokratie ins Leben zu rufen,
musste sich die "Aufklärung" gegen die Kirche durchsetzen. Als die Schweiz in den 1840er zu einer "modernen Demokratie" wurde, konnte dies nur in einem (kurzen, fast unblutigen) Bürgerkrieg (Sonderbundskrieg) gegen die katholischen Orte geschehen. Die katholischen Orte waren u.a. gegen den liberalen demokratischen Staat, weil sie eben keine Trennung von Staat und Kirche wollten. Selbstverständlich hat sich auch die katholische Kirche ("angeführt" von den Jesuiten) und etwas weniger stark auch die protestantische Kirche, gegen diese Absicht gewehrt. Die - gewaltsam herbeigeführte - Trennung von Kirche und Staat war im vorliegenden Fall also deswegen nötig, um die liberale moderne Demokratie überhaupt zu ermöglichen und nicht etwa, um sie gegenüber den in der damaligen Schweiz noch kaum vorhandenen Muslimen, Buddhisten und Hindus zu legitimieren.