Darf man über Auschwitz Geschichten erfinden?

Traklson

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Ich habe mir die Serie "Hunters" jetzt angeschaut. Die Serie zeigt eine Gruppe, die in den 1970er Jahren Jagd auf in den USA untergetauchte Nazis macht und einer Verschwörung zur Schaffung eines 4. Reichs auf der Spur ist.
Da einige der Figuren Holocaust-Überlebende sind, gibt es auch immer wieder Rückblenden auf das Lagerleben. Gleich in der ersten Episode gibt es die Szene mit dem Schachbrett. Ein Nazi soll in einem Waldstück bei Ausschwitz ein riesiges Menschen-Schach geschaffen haben. Die Lagerinsassen dienen als Spielfiguren. Wird eine Figur geschlagen, stirbt auch der, der sie spielt.

Ich hatte bei der Szene sofort ein ungutes Gefühl, das ich mir nicht zur Gänze erklären kann. Ich war eigentlich sofort davon überzeugt, dass die Szene nicht auf Fakten beruht, sondern ausgedacht ist. Was mir durch den Kopf schoss war:

Darf man über Ausschwitz Geschichten erfinden?

Eigentlich habe ich nichts gegen Fiktion. Ich liebe eine gute Geschichte. Wie sagt man so schön: Der Künstler lügt, um die Wahrheit zu sagen.

Um mich dem Gefühl anzunähern habe ich überlegt, wie ich denn zu Witzen über Ausschwitz stehe. Auch dem gegenüber bin ich eigentlich offen. Es kommt eben ganz auf den Witz an. Solange der Witz die Opfer nicht verhöhnt oder ähnliches, sehe ich darin nichts falsches. Humor ist ja auch sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene eine Strategie zur Verarbeitung von Ereignissen.

In der Comedy-Szene gibt es ja das Konzept "too soon" Sind Geschichten über Ausschwitz "too soon". Möglicherweise ja. Möglicherweise wird Ausschwitz immer "too soon" sein.

Vielleicht liegt es am Rahmen. Ich denke ich hätte weniger Probleme, wenn zum Beispiel Imre Kertész eine Geschichte um den Holocaust herum erfunden hätte. Denn die Serie ist eine Action-Serie und erhebt keinen dokumentarischen Anspruch. Für mich steht eigentlich das Rache-Motiv im Mittelpunkt der Serie. Sie erinnert mich wesentlich stärker an Quentin Tarantino als an "Schindlers Liste". Als solche nicht schlecht gemacht, aber der richtige Rahmen um den Holocaust zu behandeln? Ich denke eher nicht.

Ich habe dann überprüft, ob es die Schach-Szene vielleicht doch gegeben hat. Dabei bin ich über folgenden Artikel gestolpert:

Schachspiel mit Menschen: Auschwitz-Gedenkstätte kritisiert TV-Serie - Medien - Gesellschaft - Tagesspiegel


Also war ich mit meinem komischen Gefühl nicht allein:

"Das ist so nie passiert“, sagte Gedenkstättensprecher Pawel Sawicki am Montag der Deutschen Presse-Agentur in Warschau. „Auschwitz ist ein authentischer Ort. Und wir haben das Gefühl, dass das Schaffen einer Geschichte, die nicht stattgefunden hat, ein gefährlicher Missbrauch und ein Schlag gegen das Gedenken an die Opfer ist.“

Was denkt ihr?

Hunters (2020) – Wikipedia
 
Mir ging es bei der Szene genau auch so.

Ich habe auch nichts gegen Fiktion und bin für die künstlerische Freiheit - bei der Szene habe ich aber damit grosse Mühe. Denn es führt eher dazu, dass die Leugner damit Stoff bekommen, so in etwa das Schachspiel hat es ja in Wirklichkeit nicht gegeben - dann gab es die Gaskammern auch nicht.

Aber ja man kann auch eine Auschwitz-Geschichte erfinden (solche Filme gibt es ja bereits wie zum Beispiel: Der letzte Zug , der Junge im gestreiften Pyjama oder Auschwitz), sollte es da aber nicht auf die Spitze treiben.

https://de.wikipedia.org/wiki/Der_letzte_Zug_(2006)
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Junge_im_gestreiften_Pyjama_(Film)
https://de.wikipedia.org/wiki/Auschwitz_(Film)
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich habe das nicht gesehen, aber ich mag das nicht (ich mag auch in anderen Kontexten Hollywoods Freiheiten beim Erfinden nicht), aber ich finde es legitim. Aber einen sehr bitteren Beigeschmack hat es schon...!

Grüße
Peter
 
Wenn man fiktive Geschichten vor einem historischen Hintergrund erfindet, muss man das kenntlich machen.das genietet der Anstand.
 
Wenn man fiktive Geschichten vor einem historischen Hintergrund erfindet, muss man das kenntlich machen.das genietet der Anstand.
Ja, das finde ich auch, aber Anstand ist keine gesetzliche Verpflichtung. Und um Anstand schert sich die Film-Industrie wenig, finde ich.

Hat sich nicht auch "Operation Walküre" inhaltliche Freiheiten genommen?

Grüße
Peter
 
Aber ja man kann auch eine Auschwitz-Geschichte erfinden (solche Filme gibt es ja bereits wie zum Beispiel: Der letzte Zug , der Junge im gestreiften Pyjama oder Auschwitz), sollte es da aber nicht auf die Spitze treiben.
Die Frage für mich ist, was diese Filme von der Serie unterscheidet. Ich kenne die Filme leider nicht. Ich kann mir aber vorstellen, dass da der von mir erwähnte Rahmen auch eine Rolle spielt. Ein Film, der sich hautsächlich mit dem Holocaust beschäftigt, wird sich dems Thema wohl gleich seriöser nähern,. In der Serie ist es nur Nebensache, vornehmlich Rechtfertigung für das Handeln der Protagonisten.

. Aber einen sehr bitteren Beigeschmack hat es schon...!
Aber dieses Gefühl muss man irgendwie rational begründen können, denke ich. Und das ist es, womit ich mich etwas schwer tue.

Die Gedenkstätte hat die Szene als Karikatur bezeichnet. Das würde auch zu Ursis Aussage passen, man solle es nicht auf die Spitze treiben.
Ich kann mir vorstellen, dass der Versuch die Grausamkeit Ausschwitzs noch zu übertreffen, nur in einer Karikatur resultieren kann. Und auf Karikaturen reagiert man spontan emotional. Das könnte passen.


Wenn man fiktive Geschichten vor einem historischen Hintergrund erfindet, muss man das kenntlich machen.das genietet der Anstand.
Ich habe das noch einmal überprüft. Es gibt nämlich einen Disclaimer, aber der warnt nur vor Gewalt, drastischer Sprache und Nackheit. Man hätte also an dieser Stelle etwas schreiben können. Wie effektiv, d.h. wie oft gelesen das dann wird, ist eine andere Frage.
 
Aber dieses Gefühl muss man irgendwie rational begründen können, denke ich. Und das ist es, womit ich mich etwas schwer tue.
Ich tue mich auch schwer, genau sagen zu können, was es ist.

a) Vielleicht, dass man Verbrechensopfer zu Unterhaltungs-Figuren degradiert. Das ist aber irgendwie nicht so richtig greifbar. Wer oder was verbietet genau, so etwas zu tun? Ich weiß es nicht.

b) Auch eine Fairness gegenüber den Tätern scheint mir gerechtfertigt. Allerdings möchte ich das sofort wieder einschränken, denn die wahren Täter haben viel Schlimmeres getan als dieses Schachspiel, also haben sie auch irgendwie keinen Anlass (sofern sie überhaupt noch leben), sich zu beschweren.

Grüße
Peter
 
Hat sich nicht auch "Operation Walküre" inhaltliche Freiheiten genommen?
Das Problem ist, dass die Leute glauben, was sie in Romanen lesen und was sie in Filmen sehen. Ich hatte vor gut 20 Jahren mal eine Diskussion mit einer Frau, die behauptete, dass 30 Millionen Menschen von der Inquisition ermordet worden seien. Ich habe ihr gesagt, dass es die eine Inquisition nicht gebe und diese Zahlen sicher um 29.970.000 Menschen zu hoch seien (30.000 Menschen sind immer noch außerordentlich viele), ihre Antwort, das habe sie im Vorwort von Dan Browns Sakrileg gelesen und das stimme deshalb (ich weiß bis heute nicht, ob das bei D. Brown im Vorwort steht...). Ich wies mehrfach darauf hin, dass das ein Roman sei, aber keine Chance. Nun ist das ein Extremfall gewesen und die meisten Menschen wissen zwischen Roman und historischer Realität zu unterscheiden. Zumindest ist ihnen das einigermaßen klar, wenn der Roman (oder Film) weiter in die Vergangenheit reicht. Aber je näher der Historische Roman/Film der Aktualität auf die Pelle rückt, desto weniger Gestaltungsfreiheit hat der Autor/Regisseur und das weiß auch der Zuschauer. Es sei denn, der Autor/Regisseur überzeichnet (wie in Inglourious Basterds) oder er bewegt sich ganz offensichtlich im kontrafaktischen Bereich (Inglourious Basterds, Fatherland). Bei KZ-Szenen ist natürlich auch klar, dass die Akteure vollkommen fiktionale Charaktere sein können (La Vita e Bella, obwohl der Film überzeichnet ja auf seine Art auch, nehmen wir Holocaust). Alles, was in Holocaust gezeigt wird, entspricht, obwohl die Akteure fiktiv sind, absolut der historischen Wirklichkeit. Das ist okay.
Das menschliche Schach aber hätte es geben können. Wenn es aber nicht dokumentiert ist in hist. Belegen oder Zeugenaussagen, dann ist es eine unzulässige Fiktion, weil es historisch so nah ist, dass der Zuschauer es glaubt, es aber fiktiv ist. Hans Wurst wird demnächst vielleicht John Doe erzählen, in einem Vernichtungslager habe die SS bitterernstes Menschenschach gespielt, weil er das im Film gesehene für die Wahrheit hält. Und wozu dieses Menschenschach erfinden, es gibt hinreichend Gräueltaten, die tatsächlich verübt wurden. Etwa in Riga, wo sich SS mindestens einmal einen Spaß daraus machte, entkräftete Häftlinge in schmelzendem Schnee/Schmelzwasser Liegestützen machen zu lassen, bis sie liegen blieben. Oder das beliebte Häftlingsmütze in den Zaun werfen - lief ein Häftling ohne Mütze herum, war das das Todesurteil, ging er zum Zaun, würde er erschossen. Nur zwei von tausenden Grausamkeiten, wozu welche erfinden?
 
Nur zwei von tausenden Grausamkeiten, wozu welche erfinden?
Ja, das sehen wir hier im Forum so, weil uns Geschichte interessiert. Aber viele "Normalos" werden nur desinteressiert mit den Achseln zucken (zumindest befürchte ich das).
Und der Drehbuchautor, der Produzent und der Regisseur sind auf der Suche nach dem Kick für den Zuschauer. Denen ist so etwas völlig egal. Die interpretieren solche inhaltlichen Freiheiten als "Kunst".

Grüße
Peter
 
Und der Drehbuchautor, der Produzent und der Regisseur sind auf der Suche nach dem Kick für den Zuschauer. Denen ist so etwas völlig egal.
Wenn es nur um den „Kick“ geht, dann haben wir Geschichtspornos. Aber selbst dann bräuchten die Autoren so etwas nicht erfinden. Die dokumentierten Ereignisse sind grausam genug und sind längst nicht alle bereits verfilmt worden. Also selbst wenn Autoren und Regisseure Angst davor hätten, dass ihr Holocaustfilm redundant würde, weil man ja alles schon mal gesehen habe (Holocaust, Der Schrei nach Leben, Schindler, Der Pianist, Nackt unter Wölfen, Kornblumenblau....): es gäbe immer noch jede Menge in Spielfilmen ungezeigter historisch dokumentierter Grausamkeiten. Die Diskrepanz zwischen tatsächlichen historischen Verbrechen und dem, was ein Regisseur unter Auslassung aller ethischen Bedenken in Richtung Darstellbarkeit für ein Massenpublikum könnte zeigen wollen, gibt es nicht. Daher: Wozu Verbrechen erfinden?
 
Wenn es nur um den „Kick“ geht, dann haben wir Geschichtspornos. Aber selbst dann bräuchten die Autoren so etwas nicht erfinden. Die dokumentierten Ereignisse sind grausam genug und sind längst nicht alle bereits verfilmt worden. Also selbst wenn Autoren und Regisseure Angst davor hätten, dass ihr Holocaustfilm redundant würde, weil man ja alles schon mal gesehen habe (Holocaust, Der Schrei nach Leben, Schindler, Der Pianist, Nackt unter Wölfen, Kornblumenblau....): es gäbe immer noch jede Menge in Spielfilmen ungezeigter historisch dokumentierter Grausamkeiten. Die Diskrepanz zwischen tatsächlichen historischen Verbrechen und dem, was ein Regisseur unter Auslassung aller ethischen Bedenken in Richtung Darstellbarkeit für ein Massenpublikum könnte zeigen wollen, gibt es nicht. Daher: Wozu Verbrechen erfinden?
Jaja, genau! Sehe ich haargenauso! Es bräuchte das nicht. Es gab viele extreme Grausamkeiten. Es bleibt eben die Instinkt- und Geschmacklosigkeit der Macher als Grund. Wenn ich so etwas höre, interessiert mich schon der ganze Film/die ganze Serie nicht mehr.

Grüße
Peter
 
In einigen der Kritiken wurde damals auf einen Punkt hingewiesen der auch mir direkt in den Sinn kam als ich die Serie vor einigen Monaten anschaute:

Die Nazis und den Holocaust als comicartige Tat von karikaturhaften Sadisten darzustellen sagt im Grunde folgendes:
Das waren Irre und das kann sich so nicht wiederholen. Der "normale" deutsche hat damals nicht existiert oder war nicht involviert - nur diese sadistischen Psychopathen waren es - und die hat man ja besiegt. Ende aus MickyMaus.
 
Die Nazis und den Holocaust als comicartige Tat von karikaturhaften Sadisten darzustellen sagt im Grunde folgendes:
Das waren Irre und das kann sich so nicht wiederholen. Der "normale" deutsche hat damals nicht existiert oder war nicht involviert - nur diese sadistischen Psychopathen waren es - und die hat man ja besiegt. Ende aus MickyMaus.
Obwohl die Serie sich sicher auch als Warnung versteht. Denn in der letzten Folge wird die Brücke bis Charlottesville und dem Skandieren von "Jews will not replace us" geschlagen.
Außerdem basiert ja die ganze Staffel auf der Annahme, die alten Nazis seien eben nicht besiegt, sondern erfreuten sich bester Gesundheit und planten ihr 4. Reich.

Ich fand da ganz andere Punkte kritikwürdig. Mir schien in den letzten beiden Folgen, dass zwei Ideologien gegenübergestellt wurden. Die eine vertreten durch die Großmutter, die nicht möchte. dass ihr Enkel sich mit einem Mord belastet und die der Nazis, die nur das Überleben des stärkeren kennen und Gnadenlosigkeit fordern. Es sieht dann so aus als würde sich unsere Nazi-Jäger gerade dieser Nazi-Ideologie beugen.
 
Ich hab die Serie noch nicht zuende gesehen und verschließe meine Augen vor dem Spoiler ;)

Diese bezugnahme auf die Zeit des dritten Reichs wird ja in einigen Serien bemüht - oft auch ohne jegliche historische Korrektheit.
(Grimm - Hitler war ein Werwolf, Magicians - Hitler war Kampfmagier o_O , The Strain - SS waren Vampire etc)

Aber in Hunters ist es eben nicht fantasy sondern eher ein Szenario das real sei - nur eben dem normalen Bürger unbekannt.
Die Hunter bekämpfen ja Nazis von denen niemand weis.
 
Wenn es nur um den „Kick“ geht, dann haben wir Geschichtspornos. Aber selbst dann bräuchten die Autoren so etwas nicht erfinden. Die dokumentierten Ereignisse sind grausam genug und sind längst nicht alle bereits verfilmt worden. Also selbst wenn Autoren und Regisseure Angst davor hätten, dass ihr Holocaustfilm redundant würde, weil man ja alles schon mal gesehen habe (Holocaust, Der Schrei nach Leben, Schindler, Der Pianist, Nackt unter Wölfen, Kornblumenblau....): es gäbe immer noch jede Menge in Spielfilmen ungezeigter historisch dokumentierter Grausamkeiten. Die Diskrepanz zwischen tatsächlichen historischen Verbrechen und dem, was ein Regisseur unter Auslassung aller ethischen Bedenken in Richtung Darstellbarkeit für ein Massenpublikum könnte zeigen wollen, gibt es nicht. Daher: Wozu Verbrechen erfinden?


Die Grausamkeit, die sich in der historischen Realität abspielte, übertraf und übertrifft bei Weitem alles, was sich auch noch der abgebrühteste Geschichtsporno auch nur ausdenken mag, und im Grunde kann man das einem Publikum auch nicht mehr zumuten.

Kein auch nur halbwegs normaler Mensch würde sich ansehen wollen, wenn ein Baby gegen die Wand geschlagen wird, niemand würde sich ansehen wollen, wie Häftlinge von Hunden zerfleischt werden.

Dabei waren solche Szenen Alltag, vielleicht nicht gerade alltäglich- aber dennoch immer wieder geschehen, in Auschwitz wie in Treblinka, in Polen, in der Ukraine, im Baltikum, in Serbien.

Selbst noch das kleinste eigenständige KZ, Wewelsburg-Niederhagen, ein Arbeits-, kein Vernichtungslager, mitten in Deutschland, ein Dorf nahe Paderborn hat surrealistische Grausamkeiten erlebt, die kaum vorstellbar sind.

Als 1978 die Fernsehserie Holocaust ausgestrahlt wurde, als Filme wie Schindlers Liste die Öffentlichkeit erregten, wurde von Holocaust-Überlebenden die Kritik geäußert, dass so etwa wie Auschwitz im Grunde gar nicht darstellbar ist, dass menschliche Sprache, menschliche Ausdrucksmittel, dass auch die Mittel des Films bei Auschwitz an ihre Grenzen stoßen.

Ich habe mal eine DVD besessen von Schindlers Liste mit Zusatzmaterial, Interviews von Überlebenden und Beratern.

Dabei wurde auch die Szene in Plaszow besprochen, die wohl die meisten kennen, in der Amon Göth, sozusagen als Frühsport, vom Balkon seiner Villa Häftlinge mit einem Gewehr erschießt.

Steven Spielberg war von der Szene recht überzeugt, einige der Zeitzeugen überzeugte das wenig: Amon Göth hat weit grausamere Taten begangen, ließ seine Doggen Ralf und Rolf Häftlinge zerfleischen, freute sich, wenn diese sich auf die Genitalien konzentrierten. Einen an Durchfall leidenden Häftling zwang er seine eigenen Exkremente zu verzehren und erschoss ihn darauf.

Das aber kann man in einem Dokumentarfilm berichten, in einem Spielfilm kann man das nicht szenisch darstellen- es gibt Grenzen, was man einem Publikum zumuten kann.
 
Auf mich wirken derartige erfundene Zusätze/Handlungen nicht nur wenig überzeugend, sondern auch peinlich. Es schmeckt nach Anmaßung: da weiß ein ach so kreativer Wohlstandsheini, wie man Auschwitz optisch überzeugender, wirkungsvoller, actionlastiger aufbereiten kann als die historische Realität... ja wozu, will er Auschwitz etwa "verbessern"?...
 
Das Monströse am Holocaust ist in meinen Augen das Organisierte, das Industrielle daran; der Umstand, dass sich ein ganzer Staat dazu hergab, ein derartiges Verbrechen unter aktiver Beteiligung einer sechsstelligen Zahl von Amtsträgern, Soldaten und Arbeitern minutiös zu planen und durchzuführen. Monströs ist der unbedingte Wille, ein Volk bis auf das letzte Kind auszulöschen, sowie die Tatsache, dass sich ein solcher Wille im zwanzigsten Jahrhundert manifestierte, und nicht etwa in früheren Zeitaltern, als das Individuum wenig galt (oder besser: noch weniger galt). Insofern ist der Holocaust einzigartig und vielleicht nicht darstellbar, auch wenn ich 'Schindlers Liste' für einen überaus gut gemachten Film halte.

Man sollte jedoch nicht dem Glauben erliegen, dass der Massenmord an Millionen oder Grausamkeiten wie das Schlagen von Babys gegen Bäume einzigartig gewesen wären; sie sind es leider ganz und gar nicht. Vielleicht wäre es sogar sinnvoll, dergleichen auf der Leinwand zu zeigen, um die Menschen aufzurütteln, denn unsere Medien sind so übersättigt mit Gewaltdarstellungen, dass eine Kugel in den Hinterkopf vielfach längst nicht mehr als Grausamkeit registriert wird. Leider haben sich viel zu viele Filmemacher und Autoren vom Hitchcock'schen Eisbergprinzip verabschiedet, wonach nichts so schrecklich ist wie das, was auf der Leinwand bloß angedeutet wird und nur in unserer Phantasie passiert.

Die meines Erachtens eindrucksvollste Darstellung des Holocaust im Fernsehen kam gänzlich ohne Gräuelbilder aus. Ich denke dabei an jenen Funktionär auf der Wannseekonferenz in Kenneth Branaghs Film aus dem Jahr 2000 (Name und Funktion des Funktionärs sind mir gerade nicht erinnerlich), der vorschlägt, die Juden "nur" zu sterilisieren. Mehr noch als das Geschacher hat mich der Gedanke umgehauen, dass der Mann mit seinem weniger inhumanen Vorschlag zu einer Art Sympathieträger des Zuschauers wird. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.

Letzten Endes ist für mich die Intention derjenigen ausschlaggebend, die eine fiktive (aber denkbare) Geschichte vor dem Hintergrund des Holocausts erzählen wollen. Wollen sie dem Leid der Opfer ein Denkmal setzen und sich nicht bloß bereichern oder gar die Wahrheit obszön verdrehen, so habe ich nichts dagegen. Das Fiktive der Darstellung spricht für mich nicht dagegen, schließlich sind nach wie vor die Namen so vieler Opfer unbekannt.

Ich verstehe das Unbehagen der Shoa-Überlebenden sogar gegen weitgehend authentische Filmen wie Schindlers Liste', komme aber nicht umhin zu bemerken, wie sehr Rechtsextreme und antisemitische Muslime (bis hin zu zahlreichen Regierungen) bestrebt waren und sind, alle Darstellungen des Holocaust, ob authentisch oder fiktiv, aus der Öffentlichkeit zu tilgen. Das liegt an der Wirkmächtigkeit des Bildes. Wenn man daran denkt, wie wenige Menschen z.B. vom Völkermord an den Armeniern wissen, scheint mir daher klar, wohin die Reise ginge, wenn man auf Darstellungen des Holocaust verzichten würde.

Was geschehen ist, muss darstellbar sein.

Bisweilen kann ich mich nicht mal der (zugegebenermaßen äußerst kontroversen) Idee verweigern, dass es mehr Schaden als Nutzen bringt, sich den Holocaust als singuläres Verbrechen vorzustellen. Denn ich habe das Gefühl, dass Völkermord in vielen Köpfen (ob bewusst oder unterbewusst) zu einem Phänomen geworden ist, dass Nazis und einen Hitler braucht, um zu geschehen. Man denke nur daran, wie verächtlich-abwehrend so macher europäische Intellektuelle auf die ersten Augenzeugenberichte aus Kambodscha reagierte. Übrigens wieder so ein Fall, der mangels bekannter Darstellungen kaum in der breiten Masse präsent ist.
 
Zuletzt bearbeitet:
Bereits 1963 erfand Stan Lee den Superschurken Magneto für die X-Men-Comic-Reihe. Die fiktive Biografie wurde über Jahrzehnte immer weiter ausgebaut. In den 1980er wurde er zum Holocaust-Überlebenden erklärt. Der erste Kino-Film X-Men (2000) beginnt selbstverständlich im KZ Auschwitz mit völlig fiktiven Szenen in denen sich der junge Mutant mit Superkräften gegen die SS wehrt.

Der Grad an Fiktionalität ist nicht mehr zu überbieten. Dass hier der Holocaust zum Superschurken-Hintergrund wurde, wurde nach meiner Erinnerung nie groß thematisiert.
 
Die fiktiven Szenen aus Ausschwitz in dem oben genannten Film sind wahrscheinlich aus rechtlichen Gründen entstanden. Der Film behandelt u.a. auch Rache von Menschen, die in Ausschwitz waren. Würde man eine Szene nehmen, die sich tatsächlich zugetragen hatte, könnten Überlebende (oder ihre Nachkommen) solcher (realen) Szenen klagen mit dem Argument: Sie hätten keine Rachegefühle und überhaupt sind sie gegen Rache, egal in welcher Form, die Darstellung im Film ist daher eine Unterstellung, die ihre Würde verletze.

Im Übrigen bin ich für die Freiheit der Kunst, wie sie im Grundgesetz formuliert ist, d.h. ohne Einschränkungen. Dass die Kunst oft aneckt, ist völlig okay. Das muss sie sogar, denn dann berührt sie auch, ob angenehm oder unangenehm, das hängt vom Betrachter ab, nicht vom Künstler. Und Kunst, die nicht berührt, ist eine schlechte oder gar keine Kunst.

Deshalb ist dieser Kommentar
Das menschliche Schach aber hätte es geben können.
der einzig richtige, denn darauf kommt es bei einem Film oder Roman an: Fiktion ist dann gut, wenn es sie tatsächlich hätte geben können. Wenn wir anfangen, auf Menschen Rücksicht zu nehmen, die Geschehnisse in Filmen und Romanen für bare Münzen nehmen, dann können wir gleich einpacken und nur noch Dokumentationen drehen bzw. Sachbücher schreiben.
 
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