Darf man über Auschwitz Geschichten erfinden?

Dieses Thema im Forum "Dokumentarfilme/Spielfilme" wurde erstellt von Traklson, 3. Juli 2020.

  1. Traklson

    Traklson Aktives Mitglied

    Ich habe mir die Serie "Hunters" jetzt angeschaut. Die Serie zeigt eine Gruppe, die in den 1970er Jahren Jagd auf in den USA untergetauchte Nazis macht und einer Verschwörung zur Schaffung eines 4. Reichs auf der Spur ist.
    Da einige der Figuren Holocaust-Überlebende sind, gibt es auch immer wieder Rückblenden auf das Lagerleben. Gleich in der ersten Episode gibt es die Szene mit dem Schachbrett. Ein Nazi soll in einem Waldstück bei Ausschwitz ein riesiges Menschen-Schach geschaffen haben. Die Lagerinsassen dienen als Spielfiguren. Wird eine Figur geschlagen, stirbt auch der, der sie spielt.

    Ich hatte bei der Szene sofort ein ungutes Gefühl, das ich mir nicht zur Gänze erklären kann. Ich war eigentlich sofort davon überzeugt, dass die Szene nicht auf Fakten beruht, sondern ausgedacht ist. Was mir durch den Kopf schoss war:

    Darf man über Ausschwitz Geschichten erfinden?

    Eigentlich habe ich nichts gegen Fiktion. Ich liebe eine gute Geschichte. Wie sagt man so schön: Der Künstler lügt, um die Wahrheit zu sagen.

    Um mich dem Gefühl anzunähern habe ich überlegt, wie ich denn zu Witzen über Ausschwitz stehe. Auch dem gegenüber bin ich eigentlich offen. Es kommt eben ganz auf den Witz an. Solange der Witz die Opfer nicht verhöhnt oder ähnliches, sehe ich darin nichts falsches. Humor ist ja auch sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene eine Strategie zur Verarbeitung von Ereignissen.

    In der Comedy-Szene gibt es ja das Konzept "too soon" Sind Geschichten über Ausschwitz "too soon". Möglicherweise ja. Möglicherweise wird Ausschwitz immer "too soon" sein.

    Vielleicht liegt es am Rahmen. Ich denke ich hätte weniger Probleme, wenn zum Beispiel Imre Kertész eine Geschichte um den Holocaust herum erfunden hätte. Denn die Serie ist eine Action-Serie und erhebt keinen dokumentarischen Anspruch. Für mich steht eigentlich das Rache-Motiv im Mittelpunkt der Serie. Sie erinnert mich wesentlich stärker an Quentin Tarantino als an "Schindlers Liste". Als solche nicht schlecht gemacht, aber der richtige Rahmen um den Holocaust zu behandeln? Ich denke eher nicht.

    Ich habe dann überprüft, ob es die Schach-Szene vielleicht doch gegeben hat. Dabei bin ich über folgenden Artikel gestolpert:

    Schachspiel mit Menschen: Auschwitz-Gedenkstätte kritisiert TV-Serie - Medien - Gesellschaft - Tagesspiegel


    Also war ich mit meinem komischen Gefühl nicht allein:

    "Das ist so nie passiert“, sagte Gedenkstättensprecher Pawel Sawicki am Montag der Deutschen Presse-Agentur in Warschau. „Auschwitz ist ein authentischer Ort. Und wir haben das Gefühl, dass das Schaffen einer Geschichte, die nicht stattgefunden hat, ein gefährlicher Missbrauch und ein Schlag gegen das Gedenken an die Opfer ist.“

    Was denkt ihr?

    Hunters (2020) – Wikipedia
     
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  2. ursi

    ursi Moderatorin Mitarbeiter

    Mir ging es bei der Szene genau auch so.

    Ich habe auch nichts gegen Fiktion und bin für die künstlerische Freiheit - bei der Szene habe ich aber damit grosse Mühe. Denn es führt eher dazu, dass die Leugner damit Stoff bekommen, so in etwa das Schachspiel hat es ja in Wirklichkeit nicht gegeben - dann gab es die Gaskammern auch nicht.

    Aber ja man kann auch eine Auschwitz-Geschichte erfinden (solche Filme gibt es ja bereits wie zum Beispiel: Der letzte Zug , der Junge im gestreiften Pyjama oder Auschwitz), sollte es da aber nicht auf die Spitze treiben.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Der_letzte_Zug_(2006)
    https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Junge_im_gestreiften_Pyjama_(Film)
    https://de.wikipedia.org/wiki/Auschwitz_(Film)
     
    Zuletzt bearbeitet: 3. Juli 2020
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  3. PeterWestfale

    PeterWestfale Mitglied

    Ich habe das nicht gesehen, aber ich mag das nicht (ich mag auch in anderen Kontexten Hollywoods Freiheiten beim Erfinden nicht), aber ich finde es legitim. Aber einen sehr bitteren Beigeschmack hat es schon...!

    Grüße
    Peter
     
  4. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Wenn man fiktive Geschichten vor einem historischen Hintergrund erfindet, muss man das kenntlich machen.das genietet der Anstand.
     
  5. PeterWestfale

    PeterWestfale Mitglied

    Ja, das finde ich auch, aber Anstand ist keine gesetzliche Verpflichtung. Und um Anstand schert sich die Film-Industrie wenig, finde ich.

    Hat sich nicht auch "Operation Walküre" inhaltliche Freiheiten genommen?

    Grüße
    Peter
     
  6. Traklson

    Traklson Aktives Mitglied

    Die Frage für mich ist, was diese Filme von der Serie unterscheidet. Ich kenne die Filme leider nicht. Ich kann mir aber vorstellen, dass da der von mir erwähnte Rahmen auch eine Rolle spielt. Ein Film, der sich hautsächlich mit dem Holocaust beschäftigt, wird sich dems Thema wohl gleich seriöser nähern,. In der Serie ist es nur Nebensache, vornehmlich Rechtfertigung für das Handeln der Protagonisten.

    Aber dieses Gefühl muss man irgendwie rational begründen können, denke ich. Und das ist es, womit ich mich etwas schwer tue.

    Die Gedenkstätte hat die Szene als Karikatur bezeichnet. Das würde auch zu Ursis Aussage passen, man solle es nicht auf die Spitze treiben.
    Ich kann mir vorstellen, dass der Versuch die Grausamkeit Ausschwitzs noch zu übertreffen, nur in einer Karikatur resultieren kann. Und auf Karikaturen reagiert man spontan emotional. Das könnte passen.


    Ich habe das noch einmal überprüft. Es gibt nämlich einen Disclaimer, aber der warnt nur vor Gewalt, drastischer Sprache und Nackheit. Man hätte also an dieser Stelle etwas schreiben können. Wie effektiv, d.h. wie oft gelesen das dann wird, ist eine andere Frage.
     
  7. PeterWestfale

    PeterWestfale Mitglied

    Ich tue mich auch schwer, genau sagen zu können, was es ist.

    a) Vielleicht, dass man Verbrechensopfer zu Unterhaltungs-Figuren degradiert. Das ist aber irgendwie nicht so richtig greifbar. Wer oder was verbietet genau, so etwas zu tun? Ich weiß es nicht.

    b) Auch eine Fairness gegenüber den Tätern scheint mir gerechtfertigt. Allerdings möchte ich das sofort wieder einschränken, denn die wahren Täter haben viel Schlimmeres getan als dieses Schachspiel, also haben sie auch irgendwie keinen Anlass (sofern sie überhaupt noch leben), sich zu beschweren.

    Grüße
    Peter
     
  8. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Das Problem ist, dass die Leute glauben, was sie in Romanen lesen und was sie in Filmen sehen. Ich hatte vor gut 20 Jahren mal eine Diskussion mit einer Frau, die behauptete, dass 30 Millionen Menschen von der Inquisition ermordet worden seien. Ich habe ihr gesagt, dass es die eine Inquisition nicht gebe und diese Zahlen sicher um 29.970.000 Menschen zu hoch seien (30.000 Menschen sind immer noch außerordentlich viele), ihre Antwort, das habe sie im Vorwort von Dan Browns Sakrileg gelesen und das stimme deshalb (ich weiß bis heute nicht, ob das bei D. Brown im Vorwort steht...). Ich wies mehrfach darauf hin, dass das ein Roman sei, aber keine Chance. Nun ist das ein Extremfall gewesen und die meisten Menschen wissen zwischen Roman und historischer Realität zu unterscheiden. Zumindest ist ihnen das einigermaßen klar, wenn der Roman (oder Film) weiter in die Vergangenheit reicht. Aber je näher der Historische Roman/Film der Aktualität auf die Pelle rückt, desto weniger Gestaltungsfreiheit hat der Autor/Regisseur und das weiß auch der Zuschauer. Es sei denn, der Autor/Regisseur überzeichnet (wie in Inglourious Basterds) oder er bewegt sich ganz offensichtlich im kontrafaktischen Bereich (Inglourious Basterds, Fatherland). Bei KZ-Szenen ist natürlich auch klar, dass die Akteure vollkommen fiktionale Charaktere sein können (La Vita e Bella, obwohl der Film überzeichnet ja auf seine Art auch, nehmen wir Holocaust). Alles, was in Holocaust gezeigt wird, entspricht, obwohl die Akteure fiktiv sind, absolut der historischen Wirklichkeit. Das ist okay.
    Das menschliche Schach aber hätte es geben können. Wenn es aber nicht dokumentiert ist in hist. Belegen oder Zeugenaussagen, dann ist es eine unzulässige Fiktion, weil es historisch so nah ist, dass der Zuschauer es glaubt, es aber fiktiv ist. Hans Wurst wird demnächst vielleicht John Doe erzählen, in einem Vernichtungslager habe die SS bitterernstes Menschenschach gespielt, weil er das im Film gesehene für die Wahrheit hält. Und wozu dieses Menschenschach erfinden, es gibt hinreichend Gräueltaten, die tatsächlich verübt wurden. Etwa in Riga, wo sich SS mindestens einmal einen Spaß daraus machte, entkräftete Häftlinge in schmelzendem Schnee/Schmelzwasser Liegestützen machen zu lassen, bis sie liegen blieben. Oder das beliebte Häftlingsmütze in den Zaun werfen - lief ein Häftling ohne Mütze herum, war das das Todesurteil, ging er zum Zaun, würde er erschossen. Nur zwei von tausenden Grausamkeiten, wozu welche erfinden?
     
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  9. PeterWestfale

    PeterWestfale Mitglied

    Ja, das sehen wir hier im Forum so, weil uns Geschichte interessiert. Aber viele "Normalos" werden nur desinteressiert mit den Achseln zucken (zumindest befürchte ich das).
    Und der Drehbuchautor, der Produzent und der Regisseur sind auf der Suche nach dem Kick für den Zuschauer. Denen ist so etwas völlig egal. Die interpretieren solche inhaltlichen Freiheiten als "Kunst".

    Grüße
    Peter
     
  10. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Wenn es nur um den „Kick“ geht, dann haben wir Geschichtspornos. Aber selbst dann bräuchten die Autoren so etwas nicht erfinden. Die dokumentierten Ereignisse sind grausam genug und sind längst nicht alle bereits verfilmt worden. Also selbst wenn Autoren und Regisseure Angst davor hätten, dass ihr Holocaustfilm redundant würde, weil man ja alles schon mal gesehen habe (Holocaust, Der Schrei nach Leben, Schindler, Der Pianist, Nackt unter Wölfen, Kornblumenblau....): es gäbe immer noch jede Menge in Spielfilmen ungezeigter historisch dokumentierter Grausamkeiten. Die Diskrepanz zwischen tatsächlichen historischen Verbrechen und dem, was ein Regisseur unter Auslassung aller ethischen Bedenken in Richtung Darstellbarkeit für ein Massenpublikum könnte zeigen wollen, gibt es nicht. Daher: Wozu Verbrechen erfinden?
     
  11. PeterWestfale

    PeterWestfale Mitglied

    Jaja, genau! Sehe ich haargenauso! Es bräuchte das nicht. Es gab viele extreme Grausamkeiten. Es bleibt eben die Instinkt- und Geschmacklosigkeit der Macher als Grund. Wenn ich so etwas höre, interessiert mich schon der ganze Film/die ganze Serie nicht mehr.

    Grüße
    Peter
     
  12. corto

    corto Aktives Mitglied

    In einigen der Kritiken wurde damals auf einen Punkt hingewiesen der auch mir direkt in den Sinn kam als ich die Serie vor einigen Monaten anschaute:

    Die Nazis und den Holocaust als comicartige Tat von karikaturhaften Sadisten darzustellen sagt im Grunde folgendes:
    Das waren Irre und das kann sich so nicht wiederholen. Der "normale" deutsche hat damals nicht existiert oder war nicht involviert - nur diese sadistischen Psychopathen waren es - und die hat man ja besiegt. Ende aus MickyMaus.
     
  13. Traklson

    Traklson Aktives Mitglied

    Obwohl die Serie sich sicher auch als Warnung versteht. Denn in der letzten Folge wird die Brücke bis Charlottesville und dem Skandieren von "Jews will not replace us" geschlagen.
    Außerdem basiert ja die ganze Staffel auf der Annahme, die alten Nazis seien eben nicht besiegt, sondern erfreuten sich bester Gesundheit und planten ihr 4. Reich.

    Ich fand da ganz andere Punkte kritikwürdig. Mir schien in den letzten beiden Folgen, dass zwei Ideologien gegenübergestellt wurden. Die eine vertreten durch die Großmutter, die nicht möchte. dass ihr Enkel sich mit einem Mord belastet und die der Nazis, die nur das Überleben des stärkeren kennen und Gnadenlosigkeit fordern. Es sieht dann so aus als würde sich unsere Nazi-Jäger gerade dieser Nazi-Ideologie beugen.
     
  14. corto

    corto Aktives Mitglied

    Ich hab die Serie noch nicht zuende gesehen und verschließe meine Augen vor dem Spoiler ;)

    Diese bezugnahme auf die Zeit des dritten Reichs wird ja in einigen Serien bemüht - oft auch ohne jegliche historische Korrektheit.
    (Grimm - Hitler war ein Werwolf, Magicians - Hitler war Kampfmagier o_O , The Strain - SS waren Vampire etc)

    Aber in Hunters ist es eben nicht fantasy sondern eher ein Szenario das real sei - nur eben dem normalen Bürger unbekannt.
    Die Hunter bekämpfen ja Nazis von denen niemand weis.
     

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