Entwicklung kleinrussische Sprachen

Es hat gewiss Leute in der ukrainischen Oberschicht gegeben, die sich im 18. und 19. Jahrhundert als „Kleinrussen“ bezeichnet haben. Das war aber eine kleine, z.T. auch russifizierte Minderheit. Vielleicht war das auch nicht ihre einzige Selbstbezeichnung sondern eine, die mit anderen Identitäten koexistierte (etwa „Russynen“). Und selbst in diesen begrenzten Zirkeln ist der Begriff schnell aus der Mode gekommen, als er vom großrussischen Chauvinismus vereinnahmt wurde.

Es mag ja sein, dass das aus der Mode gekommen ist, dennoch wäre es schlicht eine Umdeutung ex post wenn man das unter den Tisch fallen ließe.
Freilich, vor allem im 18. Jahrhundert, wird "großrussisch" oder "kleinrussisch" für weite Teile der einfachen Bevölkerung unbedeutender gewesen sein, als orthodox oder katholisch zu sein.

Und sicherlichredet man hier über eine von mehreren Identitäten, die parallel koexistieren konnten. Allerdings das ist ja heute auch nicht anders, mit dem Unterschied vielleicht, dass eine nationale Identität heute vielfach eine größere Rolle spielt als eine Regionale.
Gerade aus diesem Umstand heraus wäre es allerdings ziemlich ahistorisch den Bewohnern des Gebiets zu unterstellen, dass da vor dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein dezidiert "ukrainisches" Selbstverständnis dominiert hätte.

Wenn wir nun jemanden, der im 18. Jhd. lebte und sich selbst als „Kleinrusse“ sah, heute als „Ukrainer“ bezeichnen, schreiben wir ihm doch nicht eine andere Identität zu. Seine Identität bleibt unverändert ukrainisch.

Natürlich schreiben wir ihm dann eine andere Identität zu, weil das Konzept einer ukrainischen Nation und vor allem auch dasjenige des Vorrangs einer nationalen Identität vor dem 19. Jahrhundert als raumgreifendes Phänomen nicht vorhanden war.

Wenn sich jemand im 18. Jahrhundert als "Kleinrusse" bezeichnete, war das ja unter den damaligen Gesichtspunkten nicht die Aneignung eines nationalen Konzepts sondern eine regionale Identität oder allenfalls die Negation anderer nationaler Ansprüche in dem dadurch postuliert wurde den "Russen" in bestimmten Dingen näher zu stehen, als den Polen, respektive Katholiken.

"Ukrainer" oder "Ukrainisch" hingegen ist von Anfang an ein nationales Konzept, dass eine andere politische Sphäre anspricht und in diesem Sinne auch einen reinen Abgrenzungsbegriff darstellt.
Diese Abgrenzung ist etwas, auf dass die heutigen Ukrainer großen Wert legen und dass ist angesichts russisch-imperialistischer Großmachtsphantasien in der Sache auch nur zu verstänlich.
Es macht allerdings wenig Sinn, dieses Abgrenzungskonzept auch Vorfahren und eine früheren Gesellschaft zuzuschreiben, die ein solches Abgrenzungsbedürfniss eben noch nicht hatten, sondern sich auf anderen Ebene definierten und abgrenzten oder auch anlehnten um sich von anderen Konzepten (Polen) abzugrenzen.

Es geht hier nur um die konventionelle Benennung von Volksgruppen bzw. Sprachen unter Berücksichtigung a) des kolonialen Kontexts (17. bis 20. Jhd) in dem die Begriffe „Kleinrussland“, „Kleinrussisch“ usw. gebraucht wurden, b) des aktuellen Kriegszustandes zwischen der Ukraine und der ehemaligen Kolonialmacht Russland und c) des Selbstverständnisses der heutigen Ukrainer, die sich schon lange nicht mehr „Ruthener“ oder „Kleinrussen“ nennen.

1. Der Umstand, dass bestimmte Begriffe in kolonialen Kontexten gebraucht wurden allein, sagt uns nichts über die Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit dieser Begrifflichkeiten.
2. Der Umstand, dass bestimmte Begriffe in kolonialen Kontexten gebraucht wurden, ist an und für sich relativ bedeutungslos, sofern es sich nicht um Neuschöpfungen handelt um irgendelche kolonialen Konstrukte zu rechtfertigen, sondern dabei nur Begriffe aufgegriffen wurden, die ohnehin bereits in der Welt waren und das ist hier der Fall.
3. Der Kriegszustand zwischen der Ukraine und Russland spielt hierbei so überhaupt keine Rolle. Der Umstand dieses Krieges als aktuelles Ereignis ändert an der Sinnhaftigkeit oder Unsinnigkeit der Verwendung bestimmter Begriffe um bestimmte historische Ereignisse oder Sachverhalte zu beschreiben, absolut nichts. Die Geschichte und ihre Interpretation als Disziplin hat sich damit zu befassen sich so nah als möglich den damaligen Umständen, so weit sie sich rekonstruieren lassen, beschreibend anzunähern.
Ihre Aufgabe ist es nicht aus aktualistischen politischen Gründen diesen oder jenen Nationalismus zu bauchpinseln, in dem bestimmte Kategorien dazugedichtet, weggenommen oder umgedeutet werden, dass ist Aufgabe der jeweiligen Propaganda der beteiligten Seiten.
4. Das Selbstverständnis der heutigen Ukrainerinnen und Ukrainer spielt allerdings im Bezug auf historische Themen, die sich auf Zeiträume beziehen, die Jahrhunderte lang zurückliegen keine Rolle.
Natürlich definieren sich die heutigen Ukrainer nicht mehr als "Kleinrussen" etc. und sie haben natürlich jedes Recht der Welt sich anders zu definieren.
Es ist aber niemandem geholfen, wenn aus diesem verständlichen Abgrenzungsbedürfnis heraus die heutigen Identitätskonzepte in eine Zeit rückdatiert werden, mit der sie historisch nichts zu tun haben.
"Ukrainer"/"Ukrainisch" ist ein nationales/nationalistisches Konzept, der Begriff "Kleinrusse/Kleinrussisch" im 18. Jahrhundert gehört nicht in diese Kategorie, sondern war eine vollkommen andere Form der Identitätskonstruktion (weswegen russische Ausdeutungen, dass dies der Beleg für nationale Zusammengehörigkeit wäre, vollkommener Unsinn ist, es handelt sich im wesentlichen um ein vornationales Identitätskonstrukt).



Die litauische (ursprünglich heidnische, später mehrheitlich katholische) Aristokratie bildete nur einen geringen Teil der Bevölkerung des Großfürstentums Litauen. Die Mehrheit sprach „ruthenisch“ (also altukrainisch und altbelarussisch) und war orthodox.

Nichts destoweniger kooperierte der litauische Adel allerdings recht stark mit der polnischsprachigen, katholischen Oberschicht, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Durchsetzung des Katholizismus und das Zustandebringen der Brester Kirchenunion und die zunehmende Abwertung der orthodoxen Bevölkerungsteile in der Sozialhierarchie des Polnisch-Litauischen Reiches.
Ein Umstand, der gerade die katholischen Litauer bei den orthodoxen Bevölkerungsteilen eher unbeliebt gemacht und der eher für Entfremdung, als für Anlehnung gesorgt haben dürfte.

Das sich vor dem 16. Jahrhundert viele Ukrainer als Untertanen der litauischen Krone definierten, dass mag sein.

Allerdings, nachdem die Ukrainischen Gebiete innerhalb des polnisch-litauischen "Doppelstaats" von der litauischen an die polnische Korne übergegangen waren und die katholischen Litauer inklusive des litauischen Adels letztendlich die polnisch-katholische Herrschaft abstützten, wird das kaum weiterhin der Fall gewesen sein.[/QUOTE]
 
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Das hatte dann aber (ab Ende des 18. Jhd.) nicht mehr viel mit den Kosaken zu tun…

So einfach kann man sich das nicht machen.
Der Umstand, dass das Kosakentum seinen sozialen Charakter im Laufe der Zeit vollkommen veränderte änndert nichts daran, dass "Kosaken" als Kategorie, Bevölkerungsschicht und soziale Klasse weiterhin vorhanden waren und zwar in einer Form, die mehr mit den russischen und polnischen Gutsherren und Niederadligen zu tun hatte, als mit irgendetwas anderem und die für den Großteil der Bevölkerung eher den persönlichen Feind, als ein Idol dargestellt haben dürfte.

"Kosak" dürfte ein Großteil der ukrainischen Bevölkerung im ausgehenden 19. Jahrhundert in Russland eher als Schimpfwort und mit gewaltätiger Willkührherschaft einer priviligierten Gruppe zu der sie nicht gehörte, assoziiert haben, als mit irgendetwas anderem.

Zumal die Stellung der Kosaken als hierarchisch abgehobene soziale Schicht gegenüber der einfachen Landbevölkerung ja nichts ist, was erst im russischen Reich erfunden worden wäre.

Neben dem wilden/freien Kosakentum, gab es ja bereits seit der frühen Neuzeit auch immer die "Registerkosaken", deren soziale Stellung derjenigen der Kosaken im 19. Jahrhundert relativ ähnlich war.
Und das war ja nicht irgendein abwegiges Konzept, sondern stellte offensichtlich auch unter der polnisch-litauischen Herrschaft einen erstrebenswerten sozialen Aufstieg dar, weswegen bei so ziemlich jedem Kosakenaufstand gegen die polnisch-litauische Krone die Erweiterung des Kosakenregisters ein Zentraler Punkt im Forderungskatalog der Aufständischen war.
 
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"Kosak" dürfte ein Großteil der ukrainischen Bevölkerung im ausgehenden 19. Jahrhundert in Russland eher als Schimpfwort und mit gewaltätiger Willkührherschaft einer priviligierten Gruppe zu der sie nicht gehörte, assoziiert haben, als mit irgendetwas anderem.
Das kommt darauf, ob sie Nikolai Gogols Erzählung "Taras Bulba" gelesen haben. Das idealisierte Kosakenleben besteht aus nichts anderem als Massakern an Polen, Juden und Tataren. Ob die Kosaken nun Klein- oder Großrussen oder Ukrainer waren, war völlig gleichgültig. Die bekannte Erzählung um Taras Bulba spielt jedoch im 17. Jahrhundert.
Obwohl Gogol in der Zentralukraine geboren wurde und über die Ukraine folkloristische Erzählungen verfasste, schrieb er selbstverständlich in russischer Sprache.
 
Das kommt darauf, ob sie Nikolai Gogols Erzählung "Taras Bulba" gelesen haben. Das idealisierte Kosakenleben besteht aus nichts anderem als Massakern an Polen, Juden und Tataren. Ob die Kosaken nun Klein- oder Großrussen oder Ukrainer waren, war völlig gleichgültig.
Obwohl Gogol in der Zentralukraine geboren wurde und über die Ukraine folkloristische Erzählungen verfasste, schrieb er selbstverständlich in russischer Sprache.

In diesem Fall definierten sie sich allerdings nicht über die real vorhandene Gruppe/soziale Klasse der Kosaken, sondern über Mythen über diese soziale Klasse/Gruppe.
Selbst wenn sie aber den Taras Bulba gelesen haben oder vorgelesen bekommen hatten, musste ihnen im realen Leben eine ziemlich frappierende Diskrepanz zwischen Gogols idealisierten Kosaken und den realen Kosaken als Schicht der lokalen Gutsherren, die mit allgemeiner "Freiheit" nicht viel zu tun hatten, sondern, die sich ihre persönliche Freiheit dadurch erkauften, dass sie letztendlich (so weit es nicht die habsburgischen Gebiete betrifft und ab dem 19. Jahrhundert) mit die verlässlichste Stütze der russischen Autokratie (neben den deutsch-baltischen Baronen) darstellten, auffallen.
Gerade dieser Umstand macht sie aber, wenn man das Bild der realen Kosaken im 19. und 20. Jahrhundert betrachtet zu einer hochproblematischen Gruppe, wenn es um nationale Identitässtiftung im Sinne einer Emanzipation von der russischen Herrschaft angeht.
 
Gerade aus diesem Umstand heraus wäre es allerdings ziemlich ahistorisch den Bewohnern des Gebiets zu unterstellen, dass da vor dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein dezidiert "ukrainisches" Selbstverständnis dominiert hätte.
Sagt doch keiner. Zu den verschiedenen Selbstbezeichnungen der Ukrainer hatte ich weiter oben bereits einiges geschrieben.
Wenn sich jemand im 18. Jahrhundert als "Kleinrusse" bezeichnete, war das ja unter den damaligen Gesichtspunkten nicht die Aneignung eines nationalen Konzepts sondern eine regionale Identität oder allenfalls die Negation anderer nationaler Ansprüche in dem dadurch postuliert wurde den "Russen" in bestimmten Dingen näher zu stehen, als den Polen, respektive Katholiken.
Genau. Deswegen ist der Begriff „kleinrussisch“ für die historische Beschreibung der ukrainischen Sprache und Kultur (wie auf diesem Diskussionsfaden stellenweise geschehen) untauglich.
"Ukrainer" oder "Ukrainisch" hingegen ist von Anfang an ein nationales Konzept, dass eine andere politische Sphäre anspricht und in diesem Sinne auch einen reinen Abgrenzungsbegriff darstellt.
Jein… zu Anfang bezog sich der Begriff „Ukraine“ auf ein Territorium, nicht auf eine Nation:
In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde der Name »Ukraine« mit dem Wirkungsbereich der Kosaken in Verbindung gebracht: Wilde Feldlandschaften und Zentren registrierter Kosakenregimenter (südlich der Kiewer Woiwodschaft). Das davon abgeleitete Wort »Ukrainer«, das gelegentlich in Quellen verwendet wird, hat eine territoriale, keine ethnische Bedeutung: es bezeichnet einen Bewohner der »Ukraine-Naddniprianshchyna«. Die Ukrainer nannten sich selbst weiterhin »Ruthener« (русин).
Historisches Institut der Ukraine
УКРАЇНЦІ
Es macht allerdings wenig Sinn, dieses Abgrenzungskonzept auch Vorfahren und eine früheren Gesellschaft zuzuschreiben, die ein solches Abgrenzungsbedürfniss eben noch nicht hatten, sondern sich auf anderen Ebene definierten und abgrenzten oder auch anlehnten um sich von anderen Konzepten (Polen) abzugrenzen.
Was nun: wollte man sich abgrenzen oder nicht?
Wie gesagt, die Bewohner der heutigen Ukraine haben sich in erster Linie als „Ruthenen“ betrachtet, teilweise auch als „Kosaken“. Ein kleiner Teil hat sich eine Weile, unter dem Einfluss Moskowiens, als „Kleinrussen“ bezeichnet. Es geht hier nicht darum, das abzustreiten. Es geht um die Frage, ob wir „kleinrussisch“ als synonym für „ukrainisch“ verwenden sollten.
Ihre Aufgabe ist es nicht aus aktualistischen politischen Gründen diesen oder jenen Nationalismus zu bauchpinseln, in dem bestimmte Kategorien dazugedichtet, weggenommen oder umgedeutet werden, dass ist Aufgabe der jeweiligen Propaganda der beteiligten Seiten.
Dass Geschichte und Geschichtsschreibung sowie die Deutung historischer Begebenheiten im Zentrum dieses Krieges stehen, sollte eigentlich allen hier klar sein. Die ukrainische Sprache und Kultur wurde jahrhundertelang unterdrückt, unter Anderem durch abwertende Terminologien wie „Kleinrussland“, es kann also keine Rede davon sein, den ukr. Nationalismus zu „bauchpinseln“. Putins Krieg ist nichts anderes als die letzte Etappe der Emanzipation der Ukrainer als Nation. Wer hier ukrainischen Nationalismus und russischen Chauvinismus gleichstellt, hat nicht begriffen worum es geht.
"Kosak" dürfte ein Großteil der ukrainischen Bevölkerung im ausgehenden 19. Jahrhundert in Russland eher als Schimpfwort und mit gewaltätiger Willkührherschaft einer priviligierten Gruppe zu der sie nicht gehörte, assoziiert haben, als mit irgendetwas anderem.
Dafür gibt es meines Wissens keinerlei Beleg.
Die von dir beschriebenen Verhältnisse wurden von der Bevölkerung schon lange nicht mehr als „Kosakentum“ wahrgenommen.
Neben dem wilden/freien Kosakentum, gab es ja bereits seit der frühen Neuzeit auch immer die "Registerkosaken", deren soziale Stellung derjenigen der Kosaken im 19. Jahrhundert relativ ähnlich war.
Und das war ja nicht irgendein abwegiges Konzept, sondern stellte offensichtlich auch unter der polnisch-litauischen Herrschaft einen erstrebenswerten sozialen Aufstieg dar, weswegen bei so ziemlich jedem Kosakenaufstand gegen die polnisch-litauische Krone die Erweiterung des Kosakenregisters ein Zentraler Punkt im Forderungskatalog der Aufständischen war.
Klar, und das ukrainische Kosakentum war generell ziemlich aristokratisch strukturiert. Dennoch kann man nicht bestreiten dass die Kosakenverbände ursprünglich sehr egalitär waren und dass alle sozialen Schichten vertreten waren, von Prinzen und Herzögen bis hin zu entlaufenen Leibeigenen. Der ukrainische Kosakenromantismus ist unter diesem Aspekt zu verstehen.
 
Genau. Deswegen ist der Begriff „kleinrussisch“ für die historische Beschreibung der ukrainischen Sprache und Kultur (wie auf diesem Diskussionsfaden stellenweise geschehen) untauglich.

Es ist untauglich um ihren heutigen Zustand zu beschreiben. Allerdings durchaus nicht (und darum ging es ja im Kern), wenn man sich mit den Anfängen der Entwicklung befassen möchte.
Von der Herausbildung einer "kleinrussischen Sprache" zu sprechen impliziert ja durchaus nicht, dass diese in allen ihren Fassetten mit der heutigen ukrainischen Sprache identisch wäre.

Was nun: wollte man sich abgrenzen oder nicht?
Ich würde meinen, die Frage ist von wem?
Auf Grund der aktuellen Ereignisse wird Russland fokussiert, dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass es ja durchaus auch einen historischen Abgrenzungsprozess zu Polen und der polnischen Kultur gab und in diesem Zusammenhang auch immer wieder annäherungen an die russische Kultur und den russischen Staat um dieses Abgrenzungsbedürfnis zu unterschreichen.

Die Geschichte der ukrainischen Nationsbildung einzig als eine Geschichte der Emanzipation von allem Russischen sehen betrachten zu wollen, wäre ja nun deutlich unterkomplex.

Es geht um die Frage, ob wir „kleinrussisch“ als synonym für „ukrainisch“ verwenden sollten.

Nein, genau darum geht es ja gerade nicht. Sondern es geht letztendlich darum ob es sinnvoll ist den Begriff "kleinrussisch" auf Kontexte anzuwenden, die zeitlich vor der Herausbildung eines ukrainischen nationalen Selbstverständnisses liegt.
Insofern wäre es unsinnig "kleinrussisch" hier als Konkurrenzbegriff für "ukrainisch" zu verwenden.

Der Begriff "Ruthenen/ruthenisch" als alternative Eigenbezeichnung zu "kleinrussisch" wäre da wohl schon wesentlich sinnvoller, bringt aber das Problem mit sich, dass ein zeitweiliges Verständnis als "Ruthenen" und die Bezeichnung der Sprache als "ruthenisch" dadurch, dass das ja nicht auf die ukrainischen Gebiete beschränkt war, sondern dieser Raum ja durchaus deutlich nach Norden ausgriff zu Abgrenzungsproblemen führt.

Insofern wäre "ruthenisch" sicherlich ein geeigneter Begriff für eine Abgrenzung von Russischen, aber nicht von der belarussischen Kultur und ihren Sprachtraditionen.
Wenn es aber im Kern um die Sprachentwicklung im ukrainischen Raum geht, müsste ein Begriff bemüht werden, der diese Abgenzung leisten kann.
Hierbei würde ich meinen, dass sich "Kleinrussisch", zumal zeitweise als Eigenbezeichnung verwendet anbietet, weil er die Abgrenzung zum belarussischen Raum leisten kann, die bei "ruthenisch" eben nicht gegeben ist.

Dass Geschichte und Geschichtsschreibung sowie die Deutung historischer Begebenheiten im Zentrum dieses Krieges stehen, sollte eigentlich allen hier klar sein.

Im Zentrum dieses, wie auch jeden anderen Krieges stehen die Interessen der beteiligten Kriegsparteien und das operative Geschehen.
Der Rest ist propagandistisches Getöse und mithin "schmückendes" Beiwerk, aber nichts von tatsächlicher Relevanz im Hinblick auf Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung.



Die ukrainische Sprache und Kultur wurde jahrhundertelang unterdrückt, unter Anderem durch abwertende Terminologien wie „Kleinrussland“

Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass der Begriff "kleinrussisch" zeitweise durchaus als Selbstidentität von Bewohnern der Ukraine eine Rolle spielte.
Insofern ist die Behauptung, es handle sich dabei grundsätzlich um eine abwertende Terminologie unzutreffend. Die russische Interpretation hat zunehmend versucht diese ursprünglich neutrale Terminologie in eine Abwertende umzuwandeln.
Ich persönlich sehe allerdings nicht ein, warum man in dieser Hinsicht russischen Interpretationen die Deutungshoheit überlassen und dadurch vor dem russischen Imperialismus kuschen sollte.

es kann also keine Rede davon sein, den ukr. Nationalismus zu „bauchpinseln“

Sofern beansprucht wird, dass Therminologien, die frühere Gruppen zur Selbstidentifikation verwendeten, im Bezug auf diese nicht mehr benutzt werden sollten, weil das gerade aus politischen gründen nicht ins Konzept passt, handelt es sich genau darum.
Weil dadurch einfach versucht wird, eine nationale Identität in eine Zeit zurück zu konstruieren, in der sie schlicht und ergreifend noch nicht vorhanden war.

Putins Krieg ist nichts anderes als die letzte Etappe der Emanzipation der Ukrainer als Nation.
Ich hatte für meinen teil die Ukrainer durchaus vorher schon für eine emanzipierte Nation gehalten. Spätestens die überwältigende Zustimmung der Bevölkerung zur Unabhängigkeit des ukrainischen Staates sollte das doch unterstrichen haben?

Wer hier ukrainischen Nationalismus und russischen Chauvinismus gleichstellt, hat nicht begriffen worum es geht.

Nur hat ja niemand den ukrainischen Nationalismus mit russischem Chauvinismus gleichgestellt, sondern es ist die Tendenz beider Strömungen sich die Geschichte so zurecht zu biegen, wie es ihren jeweiligen Konzeptionen gerade passt, kritisiert worden.

Putins Aggressionskrieg und inzwischen muss man es wohl durchaus als einen russischen Aggressionskrieg bezeichnen ist ohne Frage ein widerliches Verbrechen, darüber muss man sich nicht unterhalten und dafür mit den Russen, die gerade ihre Städte bombardieren und die Zivilbevölkerung terrorisieren nichts mehr zu tun haben zu wollen, haben die Ukrainer durchaus mein tiefstes Verständnis.
Und selbstverständlich haben die Ukrainer ein Recht darauf sich nach eigenen Vorstellungen zu definieren und ihre Geschichte in der Weise zu erinnern, wie sie das wünschen.

Allein der Umstand angegriffen zu sein, ist kein Blankoschek dafür von anderen zu verlagen die eigenen unter Ignoranz gewisser Fakten umgedeuteten Geschichtsbilder zu übernehmen.
Und anders herum ist der politische Wunsch einer Partei kein sinnvolles Argument bestimmte Narrative zu übernehmen, wenn diese lediglich eindimensionale Umdeutungen bestehender Bilder liefern, während eigentlich differenzierter Bilder vorliegen.

Von ukrainischer Seite her mag man ein Bedürfnis haben, die eigene Geschichte zu "de-russifizieren", sofern wir aber über historisch überlieferte Selbstzuschreibungen reden ist das nicht sinnvoll.
Und auch die Erklärung es handle sich um einen chauvinistisch-abwertenden Begriff, greift hier nicht, denn wäre dem seiem Ursprung nach so gewesen, wäre er niemals als Selbstbezeichnung verwendet worden.
 
Es ist untauglich um ihren heutigen Zustand zu beschreiben. Allerdings durchaus nicht (und darum ging es ja im Kern), wenn man sich mit den Anfängen der Entwicklung befassen möchte.
Wie bereits beschrieben, haben sich zu keiner Zeit alle Ukrainer oder auch nur eine Mehrheit der Ukrainer als „Kleinrussen“ betrachtet, sondern stets nur ein kleiner (soziologisch ziemlich festumrissener) Teil. Die Anfänge der ukrainischen Sprache liegen weit vor dem 17. Jahrhundert und es hat somit keinen Sinn, für das Mittelalter von einer „kleinrussischen“ Sprache zu schreiben.
Es hat eigentlich auch für das 17., 18. und 19. Jahrhundert keinen Sinn, auch dann nicht, wenn man sich auf jenen Teil der ukrainischen Oberschicht begrenzt, der sich u.A. als „kleinrussisch“ wahrnahm. Warum? Weil die meisten Leute, die das Wort „kleinrussisch“, „Kleinrussland“ usw. gebrauchten, russische Beamte oder russifizierte Ukrainer waren, die eben kein Ukrainisch (mehr) sprachen. Die Ukrainer (damit meine ich hier die Träger der ukrainischen Sprache) haben sich stets mehrheitlich „Ruthener“ genannt (zzgl diverser lokaler Angehörigkeiten). Im Ukrainischen bezeichnete man die eigene Sprache bis ins 19. Jahrhundert als русьска мова (russische Sprache).
Die Geschichte der ukrainischen Nationsbildung einzig als eine Geschichte der Emanzipation von allem Russischen sehen betrachten zu wollen, wäre ja nun deutlich unterkomplex.
Das hat hier niemand behauptet. Aber man kann auch nicht das Zarenreich und das Großfürstentum Litauen (bzw. die Rzeczpospolita) gleichstellen: Litauen war in vielerlei Hinsicht (institutionnell, juristisch) ein Nachfolgestaat der Kiewer Rus‘, wohingegen Moskowien (ab dem 17. Jahrhundert also) als Fremdherrscher aufgetreten ist. In sprachlicher Hinsicht haben die Polen auch nicht das Ukrainische als „Kleinpolnisch“ verunglimpft. (Das Kleinpolnische ist tatsächlich ein Dialekt des Polnischen.) Die Polonisierung ukrainischer Gebiete hat nie den systematischen Charakter gehabt, den die Russifizierung (besonders im 19. Jahrhundert) erreichte.
Daher ist die ukrainische Nationsbildung tatsächlich in allererster Linie ein Emanzipationsprozess von Russland, und nur sehr sekundär von Polen, Litauen oder Österreich.
Insofern wäre "ruthenisch" sicherlich ein geeigneter Begriff für eine Abgrenzung von Russischen, aber nicht von der belarussischen Kultur und ihren Sprachtraditionen.
Wie wäre es einfach mit „altukrainisch“, „altbelarussisch“ und „altrussisch“? Ich sehe hier das Problem nicht, ehrlich gesagt.
Im Zentrum dieses, wie auch jeden anderen Krieges stehen die Interessen der beteiligten Kriegsparteien und das operative Geschehen.
Der Rest ist propagandistisches Getöse und mithin "schmückendes" Beiwerk, aber nichts von tatsächlicher Relevanz im Hinblick auf Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung.
Wenn Putin sagt, es habe die Ukraine im Grunde nie gegeben, es sei ein künstlicher Staat der eigentlich zu Russland gehört usw., dann ist das sehr wohl von Relevanz im Hinblick auf Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung.
Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass der Begriff "kleinrussisch" zeitweise durchaus als Selbstidentität von Bewohnern der Ukraine eine Rolle spielte.
Insofern ist die Behauptung, es handle sich dabei grundsätzlich um eine abwertende Terminologie unzutreffend. Die russische Interpretation hat zunehmend versucht diese ursprünglich neutrale Terminologie in eine Abwertende umzuwandeln.
Ich persönlich sehe allerdings nicht ein, warum man in dieser Hinsicht russischen Interpretationen die Deutungshoheit überlassen und dadurch vor dem russischen Imperialismus kuschen sollte.
Es ist genau umgekehrt: von „Kleinrussland“ zu sprechen hieße (willentlich oder nicht) die Terminologie und Überlegenheitsfantasien zaristischer Beamter des 19. Jahrhunderts zu übernehmen. Genau darum geht es hier.
Nur hat ja niemand den ukrainischen Nationalismus mit russischem Chauvinismus gleichgestellt, sondern es ist die Tendenz beider Strömungen sich die Geschichte so zurecht zu biegen, wie es ihren jeweiligen Konzeptionen gerade passt, kritisiert worden.
Es ist meines Erachtens äußerst problematisch, rivalisierende Geschichtsdeutungen gleichzustellen, wenn es sich bei den beiden Kontrahenten um eine ehemalige Kolonialmacht und dessen ehemalige Kolonie handelt. Vor allem wenn sich beide Parteien obendrein in einem (für die ukrainische Seite) existentiellen Krieg befinden.
 
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Zu den Fakten gehört, dass diese Hungersnot nur in der Ukraine eine besondere Rolle in der Erinnerungskultur spielt. Tatsächlich waren weite Teile der Sowjet-Union betroffen.
Ja, das ist aber ein altes Argument aus der Sowjetzeit, das auch auf den Holocaust angewandt wurde: es wurden ja nicht nur Juden ermordet, deswegen könne keine Rede von Genozid sein. Tatsächlich hat sich die Sowjetunion während und nach dem Krieg geweigert, die Schoah als Genozid anzuerkennen. Der Nationalsozialismus wurde nicht aufgrund seiner kriminellen Natur verteufelt, sondern weil er die Sowjetunion angegriffen hatte.
Verfolgt wurden nicht die "Ukrainer" sondern die sogenannten "Kulaken". Das war also Klassenkampf.
Genau so argumentiert heute Putins Propaganda: es werden keine ukrainischen Zivilisten ermordet, sondern „Nazis“ (oder neuerdings „Satanisten“). Wir sollten uns nicht von den leeren Worthüllen der sowjetischen und russischen Propaganda einlullen lassen. „Kulaken“ und „Nazis“ sind Euphemismen. Sie bezeichnen den Ungehorsam all jener, die sich Moskau nicht unterwerfen wollen.

Die künstlich herbeigeführte Hungersnot der Jahre 1932-33 erfüllt alle Kriterien eines Genozids: die organisierte, systematisierte, gezielte und massenhafte Vernichtung einer Volksgruppe, ihrer Eliten, ihrer Kultur.
https://khpg.org/en/1286999251
 
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Die künstlich herbeigeführte Hungersnot der Jahre 1932-33 erfüllt alle Kriterien eines Genozids: die organisierte, systematisierte, gezielte und massenhafte Vernichtung einer Volksgruppe, ihrer Eliten, ihrer Kultur.
https://khpg.org/en/1286999251
Ich will gar nicht in Abrede stellen, dass die Hungersnot künstlich herbeigeführt und dies ein Verbrechen war, aber das Geschichtsnarrativ, dass es sich hier um einen Genozid an den Ukrainern handelt, ist falsch.

Dafür sprechen folgenden Tatsachen:
Die Hungersnot war keineswegs auf die Ukraine beschränkt, sondern betraff auch die russische und die kasachische Sowjetrepublik. Die Ereignisse in Kasachstan und Russland sind viel schlechter erforscht als in der Ukraine, unter anderem auch, weil Aufklärung über die Greuel der Stalin-Zeit politisch nicht so stark gewollt wurde wie in der Ukraine.
Die Hungersnot blieb auf die Landbevölkerung beschränkt, die Städte waren kaum betroffen, es sei denn dort tauchten hungrige Flüchtlinge aus den Dörfern aus.
Im ukrainischen Geschichtsnarrativ wird gern so getan, als wäre die Sowjet-Zeit nur eine russische Besatzung. Wenn man genauer sind, stammten zahlreiche wichtige Bonzen der KPdSU aus der Ukraine. Auch ukrainische Kommunisten sind für den Holodomor verantwortlich. Eine Unterscheidung von ethnischen Ukrainern und Russen und Juden aus der Ukraine habe ich jetzt bewusst nicht getroffen. Im Einzelfall ist es auch nicht möglich hier zu entscheiden, da diese Unterscheidung damals völlig unwichtig war. Personen wie Chruschtschow, Petrowski, Breschnew, Kaganowitsch, Woroschilow usw. sahen sich zuerst als Proletarier und Kommunisten und legten auf die kleinliche Unterscheidung von Ukrainern und Russen gar keinen Wert.

Sprachliche Einflüsse vom Balkan?
Teile der Ostukraine waren als Neuserbien (alternativ zu Neurussland) oder Slawenoserbien bekannt. Im 18. Jahrhundert gab es tatsächlich starke Zuwanderung vom Balkan. Neben Serben wurden auch Walachen im großen Stil angesiedelt, diese wurde jedoch bei der Benennung der Gegend nicht berücksichtigt. Soweit mir bekannt, gibt es dort heute keine serbische und keine rumänische Minderheit. Sie sind in der ostslawischen Bevölkerung aufgegangen ist bzw. haben diese erst herausgebildet hat. Da Serben und Walachen typischerweise ebenfalls dem orthodoxen Christentum angehören, bestanden hier auch keine konfessionellen Schranken zu Ukrainern oder Russen. Gibt es irgendwelche serbischen oder rumänischen Sprachreste in der Gegend?
 
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Wieso „selbstverständlich“?

Weil das die Schriftsprache war.

Die ruthenische Schriftsprache war damals schon außer Gebrauch, die im Entstehen begriffene ukrainische Schriftsprache befand sich noch quasi im Stadium der "Dialektdichtung"; zu einer Standardisierung kam es erst nach Gogols Tod (zunächst in Galizien, erst später in Russland). So etwas wie eine definierbare "jahrhundertealte ukrainische Sprache" gab es nicht. Es gibt - oder gab zumimfest bis ins 20. Jahrhundert - eigentlich nur ein einziges nordslawisches Dialektkontinuum, welches die tschechischen, sorbischen usw. Dialekte bis zu den russischen Dialekten umfasst. In einem Dialektkontinuum ändert sich die Mundart von Dorf zu Dorf, es gibt nirgends eine Sprachgrenze, wo die Nachbarn Mühe haben, sich miteinander zu verständigen. Unter diesen gibt es einige wenige Dialekte (bzw. Soziolekte), die irgendwann mal den Schritt zur Schriftsprache bzw. Amtssprache geschafft haben.

Solange die Standardsprache nur von einer kleinen gebildeten Schicht im täglichen Gebrauch verwendet wurde, konnten sich die lokalen Dialekte ungestört entwickeln; erst die Dominanz der Standardsprache auf allen Ebenen (eine bedeutende Rolle spielen die Massenmedien, politisch gewollte "Unterdrückung" ist eher selten) führt zum flächendeckenden Aussterben der Mundarten und damit zur Entstehung von Sprachgrenzen entlang der politischen Grenzen.

Die ruthenische Schriftsprache ist weder identisch mit der belarussischen noch mit der ukrainischen Schriftsprache. Im übrigen gibt es auch heute noch Dialekte, die mit dem Sammeletikett "Ruthenisch" versehen werden. Eine Hypothese besagt, dass die ruthenische Schriftsprache auf einem Dialekt basierte, der dem heute von den Poleschuken gesprochenen Dialekt nahe stand.

Nach ukrainisch-nationalistischer Lesart sind natürlich alle dieses Sprachvarietäten als "ukrainisch" zu bezeichnen. Durch die großrussisch-nationalistische Brille betrachtet wären sie "russisch"...
 
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Wie bereits beschrieben, haben sich zu keiner Zeit alle Ukrainer oder auch nur eine Mehrheit der Ukrainer als „Kleinrussen“ betrachtet, sondern stets nur ein kleiner (soziologisch ziemlich festumrissener) Teil.

Wie groß dieser Teil der Bevölkerung tatsächlich gewesen ist, wird man heute nicht mehr feststellen können, die analphabetischen Teile der Bevölkerung haben ja einmal keine Schriftzeugnisse hinterlassen, die Aufschluss darüber geben.

Tatsache ist und bleibt, dass es sich um eine Bezeichnung handelt, die durchaus auch als Eigenbezeichnung gängig war, dass lässt sich nicht wegdiskutieren.

Die Anfänge der ukrainischen Sprache liegen weit vor dem 17. Jahrhundert und es hat somit keinen Sinn, für das Mittelalter von einer „kleinrussischen“ Sprache zu schreiben.
Das Ukrainische als einzelne, abgrenzbare, fassbare Schriftsprache ist, wie @Sepiola dargelegt hat ein Produkt des 19. Jahrhunderts.
Natürlich hat es vorherige Stadien gegeben, aus denen sich diese Schriftsprache, die sich aber nicht in dieser Form abgrenzen lassen.

Es hat eigentlich auch für das 17., 18. und 19. Jahrhundert keinen Sinn, auch dann nicht, wenn man sich auf jenen Teil der ukrainischen Oberschicht begrenzt, der sich u.A. als „kleinrussisch“ wahrnahm. Warum? Weil die meisten Leute, die das Wort „kleinrussisch“, „Kleinrussland“ usw. gebrauchten, russische Beamte oder russifizierte Ukrainer waren, die eben kein Ukrainisch (mehr) sprachen.

Woher genau weißt du noch gleich wie groß der Anteil derer War, die sich selbst so identifizierten, nachdem wir bereits festgehalten haben haben, dass wird das auf Grund des damals verbreiteten Analphabetismus überhaupt nicht wissen können?
Deine Behauptung, dass sich der größte Teil der Bevölkerung mit dieser Zuschreibung nicht identifiziert hätte, ist in diesem Sinne weder nachgewiesen, noch überhaupt beweisbar.
Wir wissen es nicht.
Was wir aber wissen, ist dass "kleinrussisch" innerhalb der alphabetisierten Teile der Bevölkerung in Teilen eine durchaus gängige Selbstzuschreibung war.

Im Übrigen, möchte ich dann an dieser Stelle auch noch darauf hinweisen, wenn du hier auf einen Eliten-Diskurs abstellst, dass es in aller Regel die Bildungseliten waren, die die Grundlagen der späteren Hochsprachen geschaffen haben.
Insofern müsste, selbst wenn man nur von einer kleinen Elite ausginge, die sich als "kleinrussisch" verstand, der Diskurs ob die aus dieser Elite heraus entstehende Literatursprache in ihrem frühen Stadium als "kleinrussisch" bezeichnet werden kann, trotzdem geführt werden.

Die Ukrainer (damit meine ich hier die Träger der ukrainischen Sprache) haben sich stets mehrheitlich „Ruthener“ genannt (zzgl diverser lokaler Angehörigkeiten).
Wie gesagt, ich würde gerne von dir mal erklärt bekommen, woher du denn zu wissen meinst, als was sich die analphabetischen Massen, die uns davon keine Zeugnisse hinterlassen konnten, denn genau identifiziert haben?

Es gibt überhaupt keine Möglichkeit das nachzuweisen.
Das einzige was du hier vertrittst ist einer persönliche Glaubensauffassung, demgegenüber ist die gängige Verwendungs des Begriffs "kleinrussisch" als Selbstbezeichnung mindestens in den alphabetisierten Schichten in einem gewissen Zeitraum durchaus nachweisbar.

Ergo du versuchst Erkenntnis durch Glauben weg zu diskutieren.

Das hat hier niemand behauptet. Aber man kann auch nicht das Zarenreich und das Großfürstentum Litauen (bzw. die Rzeczpospolita) gleichstellen: Litauen war in vielerlei Hinsicht (institutionnell, juristisch) ein Nachfolgestaat der Kiewer Rus‘, wohingegen Moskowien (ab dem 17. Jahrhundert also) als Fremdherrscher aufgetreten ist.

Ja, das ist dann eine ganz hübsche schwarz-weiß-Malerei. Ist ja nicht so, als dass die Bevölkerung der ukrainischen Gebiete, im besonderen aber der Ansässige Adel innerhalb Polen-Litauens die zunehmenden Versuche den katholischen Glauben durchzusetzen und die zunehmende Tendenz nichtpolonisierte und nicht katholische Eliten sozial abzuwerten und auszubooten, mit offenen Armen begrüßt hätten.
Diese Fremdherrschaft und Repression war sicherlich anderer Art, als die Russische (sicherlich auch geschuldet der jeweiligen zeitlichen Periode und ihren Umständen), aber es ist zweifelsohne ebenso als eine solche zu betrachten.

Jedenfalls ist der Chmelnyzkyj-Aufstand ja durchaus ein deutlicher Hinweis darauf, dass größere Teile der ukrainischen Bevölkerungen mit den Zumutungen der polnisch-litauischen Herrschaft irgendwie nicht so ganz einverstanden war.
Zusätzlich ist er ein überliefertes Beispiel für die Breitschaft sich durchaus auch an das russische Zarentum anzulehnen, wenn es denn der Abschüttelung der polnisch-litauischen Herrschaft diente.

Die Tatsache, dass die derzeitige Russische Propaganda derlei im unzulässigen Maße überhöht und versucht Zweckbündnisse in eine Art kulturelle Einheit umzudeuten, sollte nicht den Blick darauf verstellen, dass es solche Bündnisse und Anlehnungen eben durchaus gegeben hat.
Und dementsprechend, dass die Einstellung der Bewohner dieser Regionen in Perioden, in denen es vor allem mit der polnisch-litauischen, der habsburgischen oder der polnischen Oberherrschaft Reibungen gab, möglicherweise russophilere Konjunkturen hervorbrachte, als sich das einige vor dem Hintergrund der derzeitigen Auseinandersetzungen möglicherweise wünschen würden.

Die Polonisierung ukrainischer Gebiete hat nie den systematischen Charakter gehabt
Dem würde ich mit Hinsicht auf die Zeit nach 1918 widersprechen wollen.
Die polnische Schulpolitik nach 1918 lief durchaus auf den Versuch einer systematischen Polonisierung hinaus.
Das waren weniger rabiate Methoden, als im Zarenreich, aber systematischen Charakter hatte es.

Im Hinblick auf den polnisch-litauischen Staat ist davon nicht zu reden, was die Gesamtbevölkerung betrifft, dass ist richtig, liegt aber mitunter auch einfach daran, dass es keinen institutionalisierten Staatsapparat gab, der das hätte leisten können, denn in dem Moment in dem diese Strukturen auftauchen verschwindet Polen-Litauen ja einmal von der politischen Landkarte.
Was sich aber durchaus herausstellen lässt ist ein zunehmender Druck auf die lokale Oberschicht sich an die polnische Kultur zu assimilieren und zum Katholizismus zu konvertieren.

Daher ist die ukrainische Nationsbildung tatsächlich in allererster Linie ein Emanzipationsprozess von Russland, und nur sehr sekundär von Polen, Litauen oder Österreich.
Und diese Einschätzung kann ich so überhaupt nicht teilen, zumal die Wurzeln der ukrainischen Nationalbewegung eben auf Grund der etwas liberaleren Politik Habsburgs in Kulturfragen ja doch zu einem veritablen Teil in Ostgalizien liegen.
In Ostgalizien hatte man keine Probleme mit einer russischen Oberherrschaft, denn die existierte dort nicht.


Wie wäre es einfach mit „altukrainisch“, „altbelarussisch“ und „altrussisch“? Ich sehe hier das Problem nicht, ehrlich gesagt.

Ja, was denn nun? "altukrainisch", "altbelarussisch" oder "altrussisch"? dem Kind einen anderen Namen zu geben, schafft die Abgrenzungsprobleme in der causa "Ruthenisch" nicht aus der Welt.

Im Übrigen verstehe ich nicht so ganz, warum "kleinrussisch" von dir als abwertend verstanden wird, "altrussisch" aber nicht, obwohl letzteres nochmal deutlich geeigneter wäre für chauvinistische Ansprüche aus der russischen Ecke ausgeschlachtet zu werden.
 
Wenn Putin sagt, es habe die Ukraine im Grunde nie gegeben, es sei ein künstlicher Staat der eigentlich zu Russland gehört usw., dann ist das sehr wohl von Relevanz im Hinblick auf Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung.

Nein, ist es nicht, ganz einfach aus dem Grunde, weil kein vernünftiger Mensch dieses Postulat teilt und Putin eine Einverleibung der Ukraine in den russischen Staat militärisch nicht wird durchsetzen können.
Insofern ist das die verspinnerte, abseitige Äußerung eine Staatsmanns, der sich machtpolitisch verkalkuliert hat, aber sicherlich nichts, was irgendwelche Aussicht darauf hätte in der allgemeinen Auffassung oder Geschichtsschreibung inhaltlich anerkannt zu werden.

Es ist genau umgekehrt: von „Kleinrussland“ zu sprechen hieße (willentlich oder nicht) die Terminologie und Überlegenheitsfantasien zaristischer Beamter des 19. Jahrhunderts zu übernehmen. Genau darum geht es hier.

Und ich sage nochmal, dass ist großer Unfug, denn sonstigenfalls hätte dieser Begriff nirgendwo als Selbstbezeichnung stattgefunden, was er aber eben getan hat.
"kleinrussisch" ist keine Abwertung im Sinne einer Hierarchie, es ist in seiem Ursprung nicht mal ein politischer Terminus.
"Kleinrussland" ist analog zu "Weißrussland" erst einmal nichts weiter, als die Bezeichnung einer historischen Landschaft, die sich letztendlich was die Benennung betrifft von der Kiewer Rus und nicht vom russischen Zarenreich ableitet.
Der Begriff ist keine Erfindung zaristischer Beamter, sondern er geht als Regionalbezeichnung bis ins 14. Jahrhundert zurück, also in eine Zeit, in der es ein Russisches Zarenreich dessen Vorherrschaftsanspruch man anerkennen hätte können, überhaupt noch nicht gab.
Und dementsprechend sind daraus auch zunächst erstmal keine Ansprüche einer Moskauer Suprematie abzuleiten.
Es mag richtig sein, dass man in der russischen Erzählung später versucht hat diese Begriffe umzudeuten.

Dadurch verändert sich aber aber nicht der Sinn dessen, was damit ursprünglich gesagt worden ist, auch wenn man das im Kreml vielleicht gerne so hätte.


Es ist meines Erachtens äußerst problematisch, rivalisierende Geschichtsdeutungen gleichzustellen, wenn es sich bei den beiden Kontrahenten um eine ehemalige Kolonialmacht und dessen ehemalige Kolonie handelt.

1. Hat ja niemand etwas gleichgestellt, sondern es sind lediglich Gemeinsamkeiten benannt worden, die in beiden Traditionen problematisch erscheinen.
2. Gleichstellungen sind immer problematisch, weil man keine zwei Dinge finden wird, die gleich sind, was allerdings an der grundsätzlichen Zulässigkeit von Vergleichen im Gegensatz zu Gleichstellungen nichts ändert.
3. Halte ich das im Kern für eine ziemlich krude Vorstellung. Würde ich das jetzt ernst nehmen, müsste für mich daraus folgen, dass ich z.B. keine historischen Darstellungen des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges oder des Krieges von 1812 aus der US-Amerikanischen und der Britischen Tradition miteinander vergleichen dürfte, bzw. die Schwächen der amerikanischen Historiographie in diesem Zusammenhang nicht bennenen dürfte, weil es sich ja um ein koloniales Verhältnis handelte.
Wärst du an dieser Stelle bitte bereit mir den Sinn eines solchen von dir beanspruchten Denkverbots zu erklären?


Vor allem wenn sich beide Parteien obendrein in einem (für die ukrainische Seite) existentiellen Krieg befinden.

Damit ich das recht verstehe:

Was genau ändern meine hier geäußerten Gedankengänge oder meine Kritik an bestimmten Tendenzen in der ukrainischen populären Betrachtung am derzeitigen Umstand des Krieges, dass es rechtfertigen würde sie in diesem Moment als unzulässig zu betrachten?
Ich bin recht zuversichtlich dass meine Einlassungen hier den operativen Verlauf des Krieges durchaus nicht zu Gunsten Russlands ändern werden.

Oder sollte damit beansprucht werden, dass ein sich in einer Auseinandersetzung befindlicher Akteur nicht kritisiert werden dürfte und Kritik an irgendetwas in der Ukraine generell unzulässig sei?
Demgegenüber könnte ich dann nur entgegnen, wenn man von ukrainischer Seite her weiterhin behaupten möchte in diesem Krieg für die Werte und die Freiheiten des Westens im Allgemeinen zu streiten (und nicht bloß für eigene nationale Interessen), wird man Kritik dieser Art aushalten müssen.
Zu diesen vielbeschworenen Freiheiten gehört selbstverständlich auch die Freiheit Teilaspekte zweier Phänomene mit einander zu vergleichen und das Ergebnis dieser Überlegungen kund zu tun.
 
Ja, das ist aber ein altes Argument aus der Sowjetzeit, das auch auf den Holocaust angewandt wurde: es wurden ja nicht nur Juden ermordet, deswegen könne keine Rede von Genozid sein.

Es gibt zunächst einmal einen ganz fundamentalen Unterschied zwischen dem Holocaust und dem Holodomor und der besteht darin, dass es meines Wissens nach bis heute keinen Hinweis daruf gibt, dass die sowjetische Führung um Stalin eine gezielte (Teil-)Vernichtung der ukrainischen Bevölkerung mutwillig angestrebt hätte.

Die Bezeichnung Genozid setzt aber ihrer Definition nach genau das voraus: Die Feststellbarkeit einer dezidierten Absicht eine bestimmte nationale, ethnische, religiöse etc. Gruppe physisch zu vernichten oder in Teilen zu vernichten.

Ein weiterer Unterschied besteht hier schon einfach darin, dass der Holocaust als Teilphänomen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in seiner Konzeption und Planung klar erfassbar ist und insofern auch als ein von der übrigen Vernichtungspolitik unabhängiges Phänomen betrachtet werden kann.

Betrachtet man ihn als ein eingrenzbares Phänomen innerhalb des Gesamtkomplexes der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik ist eine Einordnung als Genozid durchaus zulässig bzw. zwingend, da die Absicht der nationalsozialistischen Führung speziell diese Gruppe zu vernichten, nachweisbar ist.

Ein Genozid hört nicht auf ein Genozid zu sein, nur weil nebenher noch andere Massenmordverbrechen verübt wurden.

Genau so argumentiert heute Putins Propaganda: es werden keine ukrainischen Zivilisten ermordet, sondern „Nazis“ (oder neuerdings „Satanisten“). Wir sollten uns nicht von den leeren Worthüllen der sowjetischen und russischen Propaganda einlullen lassen. „Kulaken“ und „Nazis“ sind Euphemismen. Sie bezeichnen den Ungehorsam all jener, die sich Moskau nicht unterwerfen wollen.

Verzeihung mal bitte, das ist Unsinn.
Die Einschätzung, dass es sich beim Holodomor nicht um einen Genozid handelt, liegt nicht in Putins Propaganda begründet, sondern darin dass heerschaaren von Historikern, die die sowjetischen Archive zu dieser Frage durchforstet haben, bis heute keinen Nachweis für eine eindeutig bekundete Absicht des Stalinregimes haben finden können, nach der die Vernichtung der ukrainischen Bevölkerung im Speziellen dezidiert angestrebt worden wäre.

Genau das müsste für eine Klassifizierung als Genozid, der definition nach aber vorhanden sein.
Weder die Definition dessen, was ein Genozid ist, noch die Einschätzung der Historiker, die sich mit dem Quellen befasst haben, teils lange bevor Putin an die Macht kam sind Produkte der putin'schen Propaganda.
Tatsache ist einfach, dass die Definition des Begriffs Genozid dergestalt ist, dass sich der Holodomor darunter nicht fassen lässt, ob einem das nun gefällt oder nicht.

Was demgegenüber durchaus möglich wäre, wäre eine Einstufung des Holodomor als "Demozid" nach einer Begriffsdefinition die der amerikanische Politikwissenschaftler Rudolph J. Rummel einmal vorgeschlagen hat:

Demozid – Wikipedia

Dadurch, dass im Rahmen dieser Begriffskonzeption auch die Kategorie der sozialen Klasse eine Rolle spielt, was sie in der Definition eines Genozids nicht tut, wäre damit der Holodomor zu fassen, denn die dezidierte Absicht die "Kulaken" als Klasse zu vernichten, die ist durchaus nachweisbar.

Ansosten ist dein Einwand, dass der Begriff "Kulak" sehr indifferent und willkürlich gewesen ist zwar richtig.
Aber er ist eben keine dezidierte Chiffre für "Ukrainer" gewesen.
Deswegen ist es unter den Begriff "Genozid" nicht zu fassen, als "Demozid" ließe es sich allerdings durchaus fassen, zumal sich der Genozid auf den i.d.R. abgestellt wird, so wie ich das sehe, wenn man Rummels Vorschlag einmal ernst nimmt, durchaus als eine Sonderform des Demozids als eigentlicher Dachkategorie verstehen ließe.
 
Ich habe mir die "Vikings" Serie damals angeschaut ,da es von einem Historysender ausgestrahlt wurde dachte ich es lohnt sich.

Meine Frage passt wohl hier rein: In der letzten Episode musste es sich wohl am schwarzen Meer abgespielt (haben nachdem Scenen aus Andalusien und dem Mittelmeer ) wo sie auf Slaven(?) trafen und erst einander nicht verstanden dann wurde auf Norwegisch geswitcht,da sie sich an die Sprache ,die ihre Vorfahren Sprachen von früher noch erinnerten(??) Kommentare bitte:
 
Weil das die Schriftsprache war.
Es gab zu diesem Zeitpunkt bereits erste Werke in ukrainischer Schriftsprache, z.B. von Kotljarewsky.
Gogol hätte also durchaus auf Ukrainisch schreiben können. Die literarischen Fertigkeiten dazu dürften bei ihm vorhanden gewesen sein. Es ist also unangebracht, hier von einem "selbstverständlichen" Gebrauch des Russischen zu reden. Dass Gogol auf Russisch schrieb, ist die Konsequenz der kulturellen und linguistischen Russifizierungspolitik des Zarenreiches.
Die ruthenische Schriftsprache war damals schon außer Gebrauch
Genauer gesagt war die ruthenische Schriftsprache von den moskowitischen Besatzern verboten worden.
die im Entstehen begriffene ukrainische Schriftsprache befand sich noch quasi im Stadium der "Dialektdichtung"; zu einer Standardisierung kam es erst nach Gogols Tod (zunächst in Galizien, erst später in Russland).
Wie gesagt, der Prozess der Vereinheitlichung hatte bereits begonnen. Und nicht "zuerst in Galizien": die ukrainische Schriftsprache wurde von Schriftstellern neugegründet (Kotljarewsky, Schewtschenko) die sich vor allem südöstlicher Dialekte bedienten. Markian Schaschkjewitsch hingegen stammte aus Galizien und hat natürlich auch seinen Teil beigetragen, aber er war nicht der erste ukrainische Dichter.
So etwas wie eine definierbare "jahrhundertealte (...) Sprache" gab es nicht. Es gibt - oder gab zumimfest bis ins 20. Jahrhundert - eigentlich nur ein einziges (...) Dialektkontinuum (...). In einem Dialektkontinuum ändert sich die Mundart von Dorf zu Dorf, es gibt nirgends eine Sprachgrenze, wo die Nachbarn Mühe haben, sich miteinander zu verständigen. Unter diesen gibt es einige wenige Dialekte (bzw. Soziolekte), die irgendwann mal den Schritt zur Schriftsprache bzw. Amtssprache geschafft haben.
Ja. Wenn wir von einem Text sagen, er sei auf "altukrainisch"/ "ruthenisch", "mittelhochdeutsch" usw. verfasst, meinen wir damit "einen Dialekt des Altukrainischen /Ruthenischen o. Deutschen".
Nach ukrainisch-nationalistischer Lesart sind natürlich alle dieses Sprachvarietäten als "ukrainisch" zu bezeichnen. Durch die großrussisch-nationalistische Brille betrachtet wären sie "russisch"...
Nein:
Ознакою зростання мовної дистанції стала потреба в Москві 16 ст. у перекладачах з "білоруського наріччя" (рус. мови ВКЛ).
Ein Zeichen für die wachsende sprachliche Distanz war, dass im 16. Jahrhundert in Moskau Übersetzer aus dem »weißrussischen Dialekt« (= russische Sprache des Großfürstentums Litauen) benötigt wurden.
Historisches Institut der Ukraine
УКРАЇНЦІ
 
Zuletzt bearbeitet:
Es gab zu diesem Zeitpunkt bereits erste Werke in ukrainischer Schriftsprache, z.B. von Kotljarewsky.
Gogol hätte also durchaus auf Ukrainisch schreiben können. Die literarischen Fertigkeiten dazu dürften bei ihm vorhanden gewesen sein. Es ist also unangebracht, hier von einem "selbstverständlichen" Gebrauch des Russischen zu reden. Dass Gogol auf Russisch schrieb, ist die Konsequenz der kulturellen und linguistischen Russifizierungspolitik des Zarenreiches.
Die Spekulation, welcher Sprache(n) Gogol sich hätte bedienen können (falls nicht zwischen den Zeilen eine Forderung steckt: welche er hätte verwenden sollen), macht auf mich keinen günstigen Eindruck. Als erstes wäre zu fragen, was denn Gogols Muttersprache war: hier vermute ich russisch (mir sind keine ruthenischen oder ukrainischen Texte von Gogol bekannt). Zudem glaube ich nicht, dass dem angehenden Literaten Gogol Vorschriften von einer linguistischen Russifizierungspolitik gemacht worden sind - eher wahrscheinlich ist, dass er (von Puschkin protegiert) ohne jegliche national(istisch)e Hintergedanken schlichtweg die ihm geläufige gängige Literatursprache verwendet hat.
Der 1903 in der Ukraine geborene russische Virtuose Vladimir Horowitz wird voraussichtlich posthum nicht als ukrainisch eingeordnet - warum sollte das beim genialen Verfasser der toten Seelen und des Revisors anders sein?
 
Woher genau weißt du noch gleich wie groß der Anteil derer War, die sich selbst so identifizierten, nachdem wir bereits festgehalten haben haben, dass wird das auf Grund des damals verbreiteten Analphabetismus überhaupt nicht wissen können?
Es geht hier nicht darum, auf die Person genau herunterzurechnen, wer sich Ruthener nannte, wer Kleinrusse, usw.
Dass die schriftlosen Bauern kein Zeugnis davon hinterlassen haben, wie sie sich nannten, ist richtig. Es gibt aber indirekte Hinweise. Das historische Institut der Ukraine geht jedenfalls davon aus, dass sie sich generell als Ruthener sahen, auch wenn sie sich in erster Linie lokalen Zugehörigkeiten verbunden fühlten.
Was die schriftlichen Quellen angeht, deutet einiges darauf hin dass sich eine Mehrzahl der schriftkundigen Ukrainer als "Ruthener" identifizierte.
Етнічне визначення руський у розумінні «український» безперервно зберігалося протягом багатьох століть. Русинами називали себе українці у Великому князівстві Литовському, а у львівських міських книгах від 1599 р. навіть використовується термін «руська нація» (Natio Ruthenica). Тогочасні джерела переконливо засвідчують, що населення України та Білорусі чітко відокремлювало себе від московитів.

(...)

Навіть у XIX ст. прикметник руський (тобто «український») ще входив до назв різних західноукраїнських політичних партій, літературних і наукових угруповань, альманахів, окремих праць тощо. Наприклад: «Головна руська рада» — перша українська політична організація в Галичині, що виникла у Львові 2 травня 1848 р., просвітнє товариство «Галицько-руська матиця», «Собор руських учених» (1848 р.), «Руська трійця» (українські письменники М. Шашкевич, І. Вагилевич, Я. Головацький), чотиритомна «Історія літератури руської» (тобто української) О. Огоновського та ін.
Die ethnische Bedeutungs des Begriffs »ruthenisch« (руський) im Sinne von »ukrainisch« wurde über viele Jahrhunderte hinweg beibehalten. Die Ukrainer im Großherzogtum Litauen nannten sich selbst Ruthenen (русини), und in den Stadtbüchern von Lemberg aus dem Jahr 1599 wird sogar der Begriff »Ruthenische Nation« (Natio Ruthenica) verwendet. Die Quellen aus dieser Zeit zeigen überzeugend, dass sich die Bevölkerung der Ukraine und Weißrusslands deutlich von den Moskowitern abgrenzte.

(...)

Im 19. Jahrhundert wurde das Adjektiv руський (im Sinne von український) noch in den Namen verschiedener westukrainischer politischer Parteien, literarischer und wissenschaftlicher Gruppen, Almanache, einzelner Werke usw. verwendet. Zum Beispiel: »Hauptrat der Ruthenen«, die erste ukrainische politische Organisation in Galizien, die am 2. Mai 1848 in Lemberg gegründet wurde, die Bildungsgesellschaft »Galizisch-Ruthenische Mutter«, der »Rat der ruthenischen Wissenschaftler« (1848), »Ruthenische Dreifaltigkeit« (die ukrainischen Schriftsteller M. Schaschkewytsch, I. Wagilewytsch, J. Holowatskij), die vierbändige »Geschichte der russischen (d.h.: ukrainischen) Literatur« von O. Ogonowskij usw.
«Русь», «Росія», «Великоросія», «Малоросія». Григорій Півторак. Походження українців, росіян, білорусів та їхніх мов.
Diese Fremdherrschaft und Repression war sicherlich anderer Art, als die Russische (sicherlich auch geschuldet der jeweiligen zeitlichen Periode und ihren Umständen), aber es ist zweifelsohne ebenso als eine solche zu betrachten.
Sicherlich, aber mit dem Unterschied dass die litauische Periode institutionnell, juristisch und demographisch in weiten Teilen eine Kontinuität zur Kiewer Rus' aufweist. Das Siegel des Gediminas (1316-1341) trägt z.B. die Inschrift Letphanorum Ruthenorumque rex (König der Litauer und Ruthenen). Kasimir (1440-1492) nannte sich Beherrscher des gesamten litauischen Landes (...) und vieler ruthenischen Lande. Der aus dem 11. Jahrhundert stammende Gesetzeskodex der Русьская Правда (Russisches Recht) ist in Teilen der Ukraine und Weißrusslands bis 1842 gültig geblieben.

Es stimmt natürlich, dass sich nach der Union von Krewa (1385) die litauischen und ruthenischen Eliten zunehmend dem polnischen Katholizismus zuwandten. Das hatte aber keine Auswirkungen auf die Sprachpolitik (das Ruthenische blieb im Osten Amtssprache) und die ruthenische Bevölkerung durfte, weitgehend unbehelligt, orthodox beiben.
Und dementsprechend, dass die Einstellung der Bewohner dieser Regionen in Perioden, in denen es vor allem mit der polnisch-litauischen, der habsburgischen oder der polnischen Oberherrschaft Reibungen gab, möglicherweise russophilere Konjunkturen hervorbrachte, als sich das einige vor dem Hintergrund der derzeitigen Auseinandersetzungen möglicherweise wünschen würden.
Das ist zweifellos richtig, ändert aber nichts an der Feststellung dass die russische Fremdherrschaft in der Ukraine zusammengenommen tiefere Wunden hinterlassen hat und der Entfaltung der ukrainischen Nation insgesamt schädlicher war, als die Polens oder Österreichs.
Ja, was denn nun? "altukrainisch", "altbelarussisch" oder "altrussisch"? dem Kind einen anderen Namen zu geben, schafft die Abgrenzungsprobleme in der causa "Ruthenisch" nicht aus der Welt.
Es gibt Texte aus Wolhynien aus dem 14. Jahrhundert, die man bereits als archaisches Ukrainisch, also voll differenziertes Altukrainisch bezeichnen kann. Dass in den Chroniken immer nur von Ruthenisch die Rede ist, ist ja klar. Es gab aber schon ab dem 14. und 15. Jahrhundert drei verschiedene "ruthenische" Schriftsprachen, die wir heute als altrussisch, altukrainisch und altbelarussisch identifizieren können.
Insofern ist das die verspinnerte, abseitige Äußerung eine Staatsmanns, der sich machtpolitisch verkalkuliert hat, aber sicherlich nichts, was irgendwelche Aussicht darauf hätte in der allgemeinen Auffassung oder Geschichtsschreibung inhaltlich anerkannt zu werden.
Diese Aufassung ist leider - auch unter Historikern - weit verbreitet. Und nicht nur in Russland.
Es mag richtig sein, dass man in der russischen Erzählung später versucht hat diese Begriffe umzudeuten.
Dadurch verändert sich aber aber nicht der Sinn dessen, was damit ursprünglich gesagt worden ist, auch wenn man das im Kreml vielleicht gerne so hätte.
Was ursprünglich damit gemeint war, ist hier nebensächlich. "Neger" war ja ursprünglich auch kein Schimpfwort.
Was zählt ist, dass dieser Begriff heute von der russischen Propaganda gebraucht wird, um die Ukrainer zu schmähen und zu erniedrigen. Ich denke das ist ein ausreichender Grund, um diesen Begriff zu vermeiden.
Würde ich das jetzt ernst nehmen, müsste für mich daraus folgen, dass ich z.B. keine historischen Darstellungen des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges oder des Krieges von 1812 aus der US-Amerikanischen und der Britischen Tradition miteinander vergleichen dürfte
Das ist nicht vergleichbar. Die amerikanischen Kolonien hatten keine eigene Sprache, die verboten wurde, keine wirklich separate Kultur, die unterdrückt wurde, usw.
Der Vergleich funktioniert aber andersherum: ich halte es für problematisch, die historische Perspektive der amerikanischen Ureinwohner mit derjenigen der europäischen Siedler gleichzustellen. Denn auf der einen Seite haben wir einen Agressor, der ein Territorium in Besitz nahm, und auf der anderen eine (Vielzahl an) Kultur(en), die unterdrückt und weitgehend vernichtet wurde(n).
Das hat mit einem "Denkverbot" nichts zu tun. Ich bin aber durchaus kein moralischer Relativist und glaube schon, dass wir Gut und Böse bis zu einem gewissen Grade unterscheiden können. Es steht dir natürlich frei, das anzuzweifeln.
Oder sollte damit beansprucht werden, dass ein sich in einer Auseinandersetzung befindlicher Akteur nicht kritisiert werden dürfte und Kritik an irgendetwas in der Ukraine generell unzulässig sei?
Das habe ich hier nie behauptet. Es geht mir lediglich darum, nicht die grossrussische Propaganda zu nähren und zu kolportieren. Durch das Vermeiden des Wortes "kleinrussisch" als Synonym für "ukrainisch" (und einzig und allein darum geht es mir hier, nicht um soziokulturell spezifische Kontexte der Oberschicht des 19. Jhd) machen wir der Moskauer Propaganda einen Strich durch die Rechnung.
Hier wurde mehrmals von "kleinrussischen Sprachen" u.Ä. geschrieben. Das ist heutzutage nicht mehr nötig. Wir können getrost ein anderes, weniger problematisches Adjektiv benutzen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Die Spekulation, welcher Sprache(n) Gogol sich hätte bedienen können (falls nicht zwischen den Zeilen eine Forderung steckt: welche er hätte verwenden sollen), macht auf mich keinen günstigen Eindruck. Als erstes wäre zu fragen, was denn Gogols Muttersprache war: hier vermute ich russisch (mir sind keine ruthenischen oder ukrainischen Texte von Gogol bekannt).
Gogol ist, wie viele andere Ukrainer damals wie heute, zweisprachig aufgewachsen. Zu Hause sprach er Ukrainisch.
Es geht hier auch nicht darum, etwas von Gogol zu fordern (ich persönlich wünsche seiner Seele Frieden).
Zu behaupten, die Wahl der russischen Sprache sei für ukrainische Schriftsteller des 19. Jahrhundert "selbstverständlich" gewesen ist aber unangebracht, zumal die russische Literatursprache selbst erst kurz zuvor aus einer Fusion des Kirchenslawischen mit der Vernakulärsprache des russischen Adels hervorgegangen war. Puschkin war ein Zeitgenosse Gogols.
Zudem finden sich bei Gogol zahlreiche satirische Stellen, in denen die "schöne" Ukraine einem "hässlichen" Russland gegenübergestellt wird; auch seine berühmten "Toten Seelen" sind im Grunde eine Parodie des zaristischen Russland aus der Perspektive eines "Aussenseiters".

Näheres hier:
Гоголь виховувався у родині українських шляхтичів. Виховувався за обставин дуже складної мовної ситуації в Україні, яка вже досить давно була повністю політично інтегрована до російської імперії і де після невдалого повстання 1709 року (тобто за сто років до народження Гоголя) проти Росії під проводом гетьмана Івана Мазепи придушувалися будь-які прояви незалежного українського культурного життя.

Незважаючи на це, як це твердив у своїй статті 1924 року російський критик Василь Ґіппіус, у сім’ї Гоголя все ще спілкувалися українською мовою. Його батько Василь писав українські п’єси, а мати, як зауважує український вчений Володимир Звиняцьковський, «так ніколи й не опанувала чужої московської мови».

Сам Гоголь вважав українську мову рідною, і докази цього знаходимо у його листуванні з українським приятелем, ректором київського університету Михайлом Максимовичем. У листі від 20 квітня 1834 року Гоголь аналізує функціонування деяких слів, ужитих Максимовичем у російській та українській мовах. Другу з них Гоголь називає «нашою мовою».

Коли Гоголь народився 1809 року, українська розмовна мова вже мала низький статус у частині України, що входила до російської імперії. Багато українських аристократів, що сприйняли російський контроль, вважали українську мову лише мовою простолюдів. Тож якщо людина піднімалася на вищі соціальні щаблі, вона, як правило, припиняла вживати українську. Російська стала письмовою мовою в Україні після указу Петра I 1720 року, згідно з яким усі книжки, що видавалися в Україні, мали виходити російською мовою.

Низький статус розмовної мови означав, що найпершими творами, у яких вона вживалася, були бурлеск і комедії, тобто сценічні постановки для народу, в яких українська мова була прийнятною. Росіяни ж не сприймали літературу українською, бо вважали українську мовою неосвічених росіян, які просто походять зі специфічного регіону Росії.

Іншими словами, комедії, написані українською, росіянами не сприймалися як окрема література, але як якісь периферійні твори російської літератури. Так сприймали, зокрема, «Енеїду» Івана Котляревського, що її перший том вийшов українською мовою у столиці Росії Санкт-Петербургу 1798 року, тобто лише за 11 років до народження Гоголя.

До тодішнього сприйняття українських творів росіянами негативу додавало ще й те, що у той час ще не існувало українського правопису. Тож такі автори, як Іван Котляревський, Семен Гулак-Артемовський, батько Гоголя Василь та сам Микола Гоголь, коли писали українською, вдавалися до російського правопису, тобто просто записували українські слова російськими літерами. Таке написання було ще одним чинником, що через нього росіяни сприймали твори української літератури як щось написане діалектною формою російської мови, а не окремою мовою.

Коли Гоголь народився, багато освічених людей в Україні були двомовними. Ґіппіус пояснював, що рідна українська мова була мовою домашнього вжитку, а також мовою простонародних персонажів комедій, тоді як усе більш-менш серйозне: листи, щоденники й ліричні вірші – писалися російською. Відомо, що батько Гоголя писав п’єси українською, а вірші – російською.

Український учений Сергій Шелухин у написаній 1909 року статті «Гоголь та малоросійське суспільство» зазначав: «Навіть найбільш «українофільські» автори у час Гоголя і пізніше використовували обидві мови». Як приклади Шелухин наводить Миколу Костомарова, Данила Мордовцева, Григорія Квітку і Тараса Шевченка.

До цього списку можна додати й таких письменників, як Марко Вовчок, Євген Гребінка та Панько Куліш, що вважаються класиками української літератури. Наприклад, Куліш – автор історичного роману та віршів українською мовою, що був першим біографом Гоголя, – цю біографію написав російською. Сам Тарас Шевченко вдавався до російської для написання оповідань, листів і навіть щоденника.

Звідси можна зробити висновок, що коли Гоголь формувався як людина перед початком літературної кар’єри, українську мову не можна було використовувати для написання «серйозної» літератури.
Gogol wuchs in einer ukrainischen Adelsfamilie auf. Zu jener Zeit befand sich die ukrainische Sprache in einer schwierigen Situation: die Ukraine war bereits vollständig in das Russische Reich integriert und seit dem erfolglosen Aufstand von 1709 (hundert Jahre vor Gogols Geburt) gegen Russland unter der Führung des Hetmans Iwan Mazepa wurde jegliche Manifestation eines unabhängigen ukrainischen Kulturlebens unterdrückt.

Der russische Literaturkritiker Wassili Hippius vertrat 1924 in einem Artikel die Ansicht, dass in Gogols Familie jedoch weiterhin Ukrainisch gesprochen wurde. Gogols Vater Vasyl schrieb ukrainische Theaterstücke, und seine Mutter, so der ukrainische Gelehrte Volodymyr Zvynyatskovskyi, "beherrschte nie die Moskauer Fremdsprache".

Gogol selbst betrachtete die ukrainische Sprache als seine Muttersprache, was in seinem Briefwechsel mit seinem ukrainischen Freund, dem Rektor der Kiewer Universität Mykhailo Maksymovych, deutlich wird. In einem Brief vom 20. April 1834 analysiert Gogol die Funktion einiger Wörter, die Maksymovych auf Russisch und Ukrainisch verwendet. Zweitere nennt Gogol "unsere Sprache".

Als Gogol 1809 geboren wurde, hatte die ukrainische Sprache in dem Teil der Ukraine, der zum Russischen Reich gehörte, bereits einen niedrigen Status. Viele russifizierte ukrainische Adlige betrachteten das Ukrainische lediglich als die Sprache des einfachen Volkes. Wenn jemand also sozial aufsteigen wollte, hörte er in der Regel auf, Ukrainisch zu sprechen. Russisch war seit enem Dekret Zar Peters I. in der Ukraine die alleinige Schriftsprache : alle in der Ukraine veröffentlichten Bücher mussten auf Russisch verfasst sein.

Der niedrige soziale Status der Alltagssprache führte dazu, dass die ersten Werke auf Ukrainisch dem Genre des Burlesken und der Komödie angehörten, da solche Bühnenwerke für das Volk geschrieben wurden. Die russische Oberschicht hingegen rümpfte über ukrainischer Literatur die Nase, da sie das Ukrainische für die Sprache unbelesener Bauern hielt, die lediglich irgendeinen regionalen Dialekt verwendeten.

Mit anderen Worten: Komödien in ukrainischer Sprache wurden von den Russen nicht als eigenständige Literatur angesehen, sondern als periphere Sprösslinge der russischen Literatur. So wurde beispielsweise die "Aeneis" des Iwan Kotljarewski wahrgenommen, deren erster Band 1798, also nur 11 Jahre vor Gogols Geburt, in der russischen Hauptstadt St. Petersburg in ukrainischer Sprache erschienen.

Die negative Wahrnehmung ukrainischer Werke durch die russische Oberschicht wurde damals noch dadurch verstärkt, dass es noch keine einheitliche ukrainische Rechtschreibung gab. Daher griffen Autoren wie Iwan Kotljarewski, Semen Gulak-Artemowski, Gogols Vater Wassyl und Gogol selbst, wenn sie auf Ukrainisch schrieben, auf die russische Rechtschreibung zurück. Dieses Vorgehen bestätigte die Russen in ihrem Glauben, ukrainische Literatur sei nichts weiter als eine Dialektform des Russischen.

Als Gogol geboren wurde, waren viele gebildete Menschen in der Ukraine zweisprachig. Hippius erläuterte, dass das Ukrainische die Sprache des häuslichen Gebrauchs sowie die Sprache der Figuren des einfachen Volkes in den Komödien war, während alles mehr oder weniger Erhabene - Briefe, Tagebücher und lyrische Gedichte - auf Russisch verfasst wurde. Bekanntlich schrieb Gogols Vater Theaterstücke auf Ukrainisch, Gedichte aber auf Russisch.

Der ukrainische Wissenschaftler Serhij Scheluchin schrieb 1909 in seinem Artikel "Gogol und die kleinrussische Gesellschaft": "Selbst die 'ukrainophilsten' Autoren zur Zeit Gogols und später verwendeten beide Sprachen". Als Beispiele führt Shelukhin Mykola Kostomarov, Danylo Mordovtsev, Hryhoriy Kvitka und Taras Schewtschenko an.

Zu dieser Liste können Schriftsteller wie Marko Vovchok, Yevhen Hrebinka und Panko Kulish hinzugefügt werden, die als Klassiker der ukrainischen Literatur gelten. So schrieb Gogol-Biograf Kulisch - der Verfasser eines historischen Romans und von Gedichten in ukrainischer Sprache - genannte Biografie auf Russisch. Selbst Taras Schewtschenko griff auf die russische Sprache zurück, um Geschichten, Briefe oder sogar sein Tagebuch zu schreiben.

Daraus lässt sich schließen, dass die ukrainische Sprache zur Zeit der Persönlichkeitsbildung Gogols, vor dem Beginn seiner literarischen Karriere, noch nicht für das Verfassen "seriöser" Literatur geeignet war.
Микола Гоголь як провідник української культури у світ (ч. 1)
 
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Gogol ist, wie viele andere Ukrainer damals wie heute, zweisprachig aufgewachsen. Zu Hause sprach er Ukrainisch.
Woher weiß man das speziell bei Gogol? Wie schon gesagt: zumindest mir sind keine ukrainisch-sprachigen Texte Gogols bekannt.
Dass er, wie auch viele "russische" Schriftsteller, das Zarenreich des 19. Jhs. mit satirischem Spott karikiert hatte, ist kein Argument, denn dann müssten Dostojewski, Tolstoi, Turgenev usw auch irgendwas anderes als "russisch" sein...
Zweifel habe ich auch daran, dass russisch als Verwaltungssprache erst "kurz vor" dem 19. Jh. entstanden sein soll (oder habe ich da was missverstanden?)
 
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