Wie weit in den Alltagleben reichte die Macht der Kirche(n)?

Menschen im Schatten der Kathedrale. S. 180 (Abschnitt „Bestattungsriten“) – das Buch ist geschrieben 1998 von Historikern Ernst Schubert, Gerd Althoff und Hans-Werner Goetz

Hast Du es gelesen?

Nein, aber ich werde es demnächst lesen.

Du hast es noch nicht gelesen, stimmt's?

"Daß die Kirche als Institution gar nicht in dem Maße auf die Menschen einwirken konnte, wie es seit der Aufklärungszeit Gelehrte behaupteten, stellt nicht in Frage, daß die Menschen fromm waren oder zumindest das Bedürfnis nach Frömmigkeit verspürten. Ihre Frömmigkeit jedoch entsprach einer Welt, in der personale Strukturen noch weit wichtiger genommen wurden als die nur ansatzweise ausgebildeten institutionellen. Gott ist in dieser Welt des Spätmittelalters nicht eine entrückte Größe, sondern eine überall mithandelnde Person." (S. 275)

"Zu den zählebigsten Vorurteilen über das Mittelalter gehört, daß die Kirche in jener Zeit eine unbestrittene Macht über die Menschen und deren Denken und Seelenleben ausgeübt habe und daß die Abschwächung und dann anschließende Befreiung von dieser Macht geradezu ein Charakteristikum der Neuzeit sei." (S. 288)
 
Man könnte vielleicht auch fragen, inwieweit "Kirche" und "Gesellschaft" im Denken der jeweiligen Zeitgenossen überhaupt getrennt waren? Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit in katholischen Gebieten spielte natürlich die Trennung zwischen Klerus und Laien - manchmal auch zwischen Mönchen, Weltklerikern und Laien - eine bedeutende Rolle. Andererseits gab es vor dem Trienter Konzil - teils wohl auch noch danach - nicht selten Bischöfe, die gar nicht dem Klerikerstand angehörten und/oder mehrere Bistümer erwarben. Es ging diesen (natürlich adligen) Oberhirten also vermutlich mehr um die Einkünfte, die ein solches Amt abwarf, während die praktische Seelsorge dann von Bischofsvikaren übernommen werden musste. Es gibt zudem immer wieder Klagen darüber, dass Klosterbesitz von den Mönchen faktisch aufgeteilt oder eine Pfründe von einem Eigenkirchenherrn für sich verwendet wurde.

Müsste man in diesen Fällen dann konsequenterweise danach fragen, wie weit die Macht des Adels in das Alltagsleben der Kirche oder der Gläubigen hineinreichte?
 
Die Geschichte hat immerhin, denke ich, Hand und Fuß und klingt plausibel.
Auf mich macht die Geschichte einen außerordentlich unplausiblen Eindruck. Ich habe mich aber zugegebenermaßen noch nicht näher damit befasst und lasse mich gern eines Besseren belehren. Warum das Verbot von Ehen zwischen Cousin und Cousine 1. Grades den Zusammenhalt der Großfamilie torpedieren soll, ist mir zum Beispiel nicht recht klar. Zum anderen sind mir aus dem konfuzianischen Kulturkreis noch viel weiter gehende Restriktionen bekannt, was Ehen zwischen Verwandten betrifft. Warum hatten diese nicht denselben Effekt?
 
Es sollen ja Ehen zwischen noch viel weitläufigeren Verwandten verboten worden sein. Dahinter steht wohl die Vorstellung, dass man in einer Clan-Gesellschaft in der Regel nur innerhalb des eigenen Clans heiratet, und dass dem das Verbot von Heiraten unter Verwandten entgegenstand.

Zu China kann ich kaum was sagen. Aber ist nicht ein zentraler Inhalt der Lehre des Konfuzius, dass sich der Einzelne dem bestehenden Sozialsystem ein- oder unterordnen soll? Da haben dann etwaige Verwandtenehenverbote vielleicht nicht mehr individualisierend wirken können.
 
Da wird argumentiert und mit einer ganzen Menge Empirie untermauert, dass das von der Kirche in Früh- und Hochmittelalter extensiv ausgelegte Inzestverbot bis heute Folgen für die sozialen Einstellungen in den damals von der Kirche dominierten Gesellschaften hat. Das Argument geht so: Um die Stabilität der christlichen Reiche gegen Sippen- und Clanverbände zu stützen, wurden Verwandtenheiraten untersagt. Als verwandt galten zum Teil Personen, die in der siebten Generation gemeinsame Vorfahren hatten. Damit, so die Autoren, gelang es der Kirche, sippenorientierte Loyalitäten stark zurückzudrängen.
Das setzt einen monströs ausufernden Daten/Aktenbestand voraus, wenn man bedenkt, dass Sippen/Clans immer am eigenen prosperieren lag und sie gegebenenfalls heikle Verwandtschaftsverhältnisse vertuschten/verschwiegen, wenn diese ungünstig waren. Dieser gigantische Datenberg - bis in die 7. Generation jeder Sippe! - müsste doch ein El Dorado für jeden Genealogen sein: wo sind sie hin, die riesigen Aktenberge?
Ich halte den Schluß "sippenorientierte Loyalitäten zurückdrängen" - als geplantes aktives Handeln - für unrealistisch. Betrachtet man die oftmals kuriosen Burgfrieden, kann man sehen, dass es innerhalb verzweigter Sippen/Clans/Adelsfamilien alles andere als loyal und gemeinschaftlich zuging.
Was es, insbesondere im Frühmittelalter, einzudämmen galt (und was Jahrhunderte brauchte aber nicht völlig gelang) das war die Blutrache - und hier mäßigend zu wirken, war ein Kampf gegen gewachsene Traditionen und Wertvorstellungen, die sich zäh hielten.
 
Um die Details kennenzulernen, müsste man wohl Karl Ubl (2008), Inzestverbot und Gesetzgebung, Die Konstruktion eines Verbrechens (300 - 1100) lesen. Die extensive Auslegung, die Schulz et al (2019) erwähnen, wird es schon gegeben haben, kann natürlich nur dann und wann angewendet worden sein, um bedeutende Heiraten zu hintertreiben.
Die Verhinderung von Blutrachefehden zwischen verfeindeten Clans mag schon auch ein Grund für so eine Familienpolitik gewesen sein.
 
Nun, wie in diesem Forum schon gesagt wurde, ist Rom im Frühmittelalter fast zu einem Dorf verkommen, die Macht der Päpste beschränkte sich wohl nur noch auf Selbsterhalt. Aber im Hochmittelalter änderte sich das, was man u.a. auch an dem Investiturstreit sehen kann, den die Kirche gewann.
Man muss unterscheiden zwischen der weltlichen Macht der Päpste in und um Rom und ihrer Macht als Oberhaupt der katholischen Christenheit. Beides korrelierte keineswegs miteinander.

Im späten 6. bis frühen 8. Jhdt. war Rom eine byzantinische Provinzstadt und stand unter der Kontrolle des Exarchats Ravenna. Aber Ravenna war fern, die Langobarden nah, und so konnte der Papst in Rom durchaus seinen Einfluss geltend machen. In der Zeit vom späten 9. bis ins 14. Jhdt. hinein war Rom die meiste Zeit eine Adelsrepublik, in der der Papst oft kaum etwas zu sagen hatte.

Die Macht als Oberhaupt der katholischen Christenheit ist davon losgelöst zu betrachten. Aber auch hier war seine Macht gerade auch im Hochmittelalter recht fragil, musste er bei Konflikten mit dem Kaiser doch stets fürchten, dass ein Gegenpapst eingesetzt würde - etwas, was im Frühmittelalter zwar auch, aber deutlich seltener vorkam. Diese Gegenpäpste waren mitunter zumindest zeitweise durchaus erfolgreich, z. B. konnte Clemens (III.) Gregor VII. weitgehend verdrängen.
 
Dieser gigantische Datenberg - bis in die 7. Generation jeder Sippe! - müsste doch ein El Dorado für jeden Genealogen sein: wo sind sie hin, die riesigen Aktenberge?
Die gab es nicht. Und die zeitweise Ausweitung des Inzestverbots bis zum 7. Grad war auch aus kirchlicher Sicht ein echtes Problem; man konnte sich nämlich bei keiner Eheschließung sicher sein, ob man mit dem Ehepartner nicht doch irgendwo eine gemeinsame Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßmutter hatte und die Ehe damit möglicherweise ungültig war.

"Im späten 12. Jahrhundert nahmen daher die Theologen die ausgedehnten Inzestverbote nur mehr als Ärgernis wahr. Als Papst Innocenz III. selbst mehrfach und besonders eindringlich im Fall Philipps II. von Frankreich mit dieser Tatsache konfrontiert worden war, entschloss er sich zur Reduktion des Inzestverbots auf dem IV. Laterankonzil von 1215." (Karl Ubl, Inzestverbot und Gesetzgebung, S. 489)​

Ich halte den Schluß "sippenorientierte Loyalitäten zurückdrängen" - als geplantes aktives Handeln - für unrealistisch. Betrachtet man die oftmals kuriosen Burgfrieden, kann man sehen, dass es innerhalb verzweigter Sippen/Clans/Adelsfamilien alles andere als loyal und gemeinschaftlich zuging.

Die fränkischen Bischöfe sahen im Jahr 535 den Ehemann sogar als "Feind und Überwinder der Keuschheit", der seiner Verwandten "Gewalt zufügt", wenn er sie heiratet und ihr nicht mit der geschuldeten "Hochachtung und Zuneigung" begegnet. Die Verknüpfung zwischen Inzestverbot und Verwandtenmord in der Lex Ribuaria sowie in den Gesetzen Karls des Großen zeigt an, dass dieses Argumentationsmuster weiterhin Bestand hatte. Beide Verbrechen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Familiensolidarität untergraben. (Ubl, S. 491)​
 
Ubl kann ich nicht direkt zitieren, nur über eine Rezension in der HZ: "Gesetze zur Ausdehnung von Exogamie ... standen dort im Mittelpunkt der Gesetzgebung, wo Großreiche ... an der Intensivierung überregionaler Kommunikation innerhalb des Adels interessiert waren."
Etwas missverständlich finde ich die Verwendung des Begriffs Kommunikation, es ging ja um die Herstellung von Verwandtschaftsbanden. Die Kehrseite ist, dass regionale Bande nach Ubl geschwächt wurden. Jedenfalls wurde verhindert, dass bestehende (häufig sicher regionale) Verwandtschaftsbande durch neue Heiraten noch verstärkt wurden.
 
Exogame Clans verschwinden zudem woanders auch nicht. (geschrieben ohne Kenntnis der letzten Beiträge)

Das Problem ist, dass der Anfang des Übergangs noch in die dunkle Zeit des 10. Jahrhunderts fällt. Das Bild wird gängigerweise so dargestellt, dass zunächst die Herrscherfamilien Probleme mit der weiteren Verwandtschaft bekam.

Gutes Beispiel sind die Ottonen. Schwertmage des minderjährigen, aber schon gekrönten Ottos III. war z.B. Heinrich von Bayern. Doch wegen der empfundenen Zurücksetzung diesen Teils der Sippe versuchte er das Königtum selbst zu gewinnen. Zudem galt hinsichtlich des Königtums schon das Erbrecht vom Vater auf den Sohn und erst danach der Übergang in der Sippe.

Beim Adel geht dann etwas später die Entwicklung mit der geographischen Schwerpunktbildung Hand in Hand. Die Erblichkeit der Lehen, zunächst noch umstritten, sicherte den Besitz zwar, aber eben nicht in der alten Form, dass es in der Sippe weitergegeben wurde, sondern in der neuen der Erbschaft.

Hier kommt dann die Kirche tatsächlich in zweierlei Hinsicht ins Spiel:

1- Bischöfe und Klöster konkurrierten beim Ausbau von Machtbereichen mit dem Adel.
2- Während Arnulf von Kärnten der letzte - in kirchlicher Hinsicht - illegitime Erbe an der Spitze war, wurde das jetzt auch beim Adel durchgesetzt. Das brachte dann die Sippen zusätzlich in Schwierigkeiten, weil es damit und mit der Erblichkeit der Lehen ein Argument gab, die Lehen dann nicht an einen Angehörigen der gleichen Sippe zu vergeben.

Insgesamt verloren die Sippen an Einfluss.

Ein Weg wie Sippen zuvor zusätzlichen Einfluss gewinnen konnten, waren demgegenüber Heiraten in andere Sippen. Sprich: Das waren Sachen, die im Adel längst gut geplant wurden. Und Exogamie war geradezu ein Mittel zur Stärkung der Sippe.

Es wird vermutet, dass Freibauernsippen keinen genügenden Überblick hatten, dass das Gebot eine große Rolle spielte.

Dann ist da noch der Fakt, dass auch noch nach dem 11. Jahrhundert, alte Sippenzugehörigkeiten und Verwandten-Verhältnisse tradiert wurden. Mitunter mündete das noch in ähnlichen Wappen. Es war offensichtlich möglich so etwas mündlich zu tradieren. Arrogante Historiker billigem dem manchmal nur Quellenwert zu, wenn es ihnen in den Kram passt. Aber auch, wenn die Immedinger das genaue Verwandtschaftsverhältnis zu Widukind nicht mehr kannten, dürfte die Überlieferung, dass er zu ihrem Verwandtenkreis gehörte, korrekt sein. (Mal abgesehen davon, dass Widukind ein Kampfname sein kann und der Sachsenherzog in einem Stammbaum unerkannt unter seinem richtigen Namen gelistet sein kann, was die Immedinger nicht mehr wissen mussten.)

7 Generationen zu 25 Jahren, was in dieser Zeit für den Adel vielleicht eher hinkommt als 30 Jahre, sind nur 175 Jahre. Doch damit würden wir das Pferd von hinten aufzäumen. Es wäre in den Quellen zum Recht zu den Verwandschaftsverhältnissen in der Sippe zu recherchieren. Denn Verwandtschaft galt nicht unendlich weit als Sippe, was aber in jeder Gesellschaft unterschiedlich geregelt sein kann.

Am Schicksal der Haolde*, der viel zitierten Arrondierung der Rechte der Paderborner Kirche durch Bischof Meinwerk, einer der erwähnten Immedinger, und der zahlreichen späteren Adelsfamilien (z.B. Lippe, Padberg, Itter), die darauf zurückgeführt wurden, zeigen wie vielfältig die Gründe für die Marginalisierung der Sippen war.

Ich nenne diese Sippe nicht nur, weil sie mit Ostwestfalen zu tun hat, sondern weil sie sich um kirchliche Heiratsvorschriften wenig kümmerte, und zwar mit Ludolfingern, Billungern und Immedingern verwandt und gräflich war, aber eher in dritter oder vierter Reihe stand. Ihre Heiratsgewohnheiten ergaben zwar Argumente für den Bischof, dennoch erbten auch die kirchlich gesehen illegitimen Nachkommen.

Vielmehr führten einige Unglücksfälle, die Erwerbspolitik der Bischöfe von Paderborn und Köln und die wankelhafte Gunst der Kaiser, die erst die verschwägerte Adelssippe, die ihnen in den frühen Fehden half, belohnte, dann aber die Bischöfe stärken wollte, zum Niedergang. Aufgrund der etwa zu der Zeit einsetzenden Erblichkeit der Lehen entstanden dann aus der Sippe mehrere Adelssippen, die zunächst noch Rücksicht auf diese Verwandtschaft nehmen und sie tradieren, bevor sie in Vergessenheit gerät. Es entwickeln sich aber keine Sippen als Machtfaktoren auseinander, sondern die Familien werden Träger des Einflusses.

Während also noch 'illegitime' Ehen eingegangen wurden, wurden die Sippen schon marginalisiert.

Das Verbot hat also nicht die Sippen abgeschafft, da wir ein Gegenbeispiel haben. Solche Auseinandersetzungen mit der Kirche als Gewinner aufgrund der herrscherlichen Gunst dürften eher Verbot und Vorschriften hinsichtlich der Ehe gefördert haben.

(Zudem hat hier offensichtlich Herkommen im Verein mit Realpolitik einen größeren Einfluss als die Kirche, die eher zufällig den größeren Gewinn erhält.)

* Der Wikipedia-Artikel ist nicht so toll und gibt nicht alle Informationen.
 
das halte ich für etwas übertrieben und verkürzt dargestellt.
Zitat aus Wikipedia: Um 800 betrug die Einwohnerzahl gerade noch 20.000 Einwohner.

Wie es in dieser Stadt zuging, zeigte diese Episode – Zitat (Fettschreibung durch mich):

Eine der wohl bizarrsten Episoden stellte die kurze Amtszeit von Papst Stephan VI. der Jahre 896 bis 897 n. Chr. dar. Dieser ließ den bereits verwesenden Leichnam seines Vor-Vorgängers Papst Formosus exhumieren und vor Gericht stellen. Die Anklage lautete auf Meineid und widerrechtliche Aneignung des Papststuhls. Der bereits tote Formosus wurde verurteilt, seine Schwurhand abgeschlagen und die Leiche in den Tiber geworfen.
Hintergrund für das als „Leichensynode“ in die Geschichte eingegangene Verfahren waren Machtkämpfe zwischen verfeindeten römischen Adelsfamilien. Diese bestimmten über die Papstwahl, was oft mit „extremen Gewaltexzessen“ einherging, so Reinhardt.
(…)

In dieser Zeit sank das Papsttum, laut Volker Reinhardt, „zu einer lokalen Größe ab. Der Anspruch auf den Stuhl wird zwischen zwei bis drei Dutzend römischen Adelsfamilien ausgehandelt. Es ist ein Tiefpunkt für das Ansehen der Institution.“ Dafür sind nicht nur die blutigen Machtkämpfe zwischen den rivalisierenden Familien verantwortlich, sondern auch zahlreiche Skandale.

Du hast es noch nicht gelesen, stimmt's?
Stimmt. Aber ich darf mich bei dir bedienen – Zitat aus dem Buch:

Gott ist in dieser Welt des Spätmittelalters nicht eine entrückte Größe, sondern eine überall mithandelnde Person.

Und genau darauf kommt es an: Gott ist überall präsent und sieht alles – und wenn man irgendein der 10 Gebote übertrat, drohte die Kirche zumindest mit Fegefeuer, wenn nicht mit ewiger Verdammnis. Aber durch die Beichte konnte man diesem Schicksal teilweise entgehen. Und wenn man nur einmal im Jahr beichtete, konnte es passieren, dass man ohne Beichte starb. Also lebten Menschen des Mittelalters in ständiger Angst vor der Strafe Gottes. Daraus entsteht Macht für denjenigen, der in der Lage war, diese Angst zu minimieren. Und konsequenterweise machte die Kirche ein Geschäft daraus: Ablasshandel war geboren, denn mit einem Ablass konnte man – je nach Höhe der Summe, so und so viele Jahre (das wurde in Hunderten von Jahren gemessen, und es gab ein ganzes Katalog, welch Sünde wie viel kostete) – den Aufenthalt im Fegefeuer verkürzen.

Weil man aber nie sicher sein kann, ob man alle Sünden gebeichtet hat, gibt es immer ein gewisses Risiko, für ein paar hundert Jahre im Fegefeuer zu landen. Und auch dafür hat die Kirche bis heute ein Hilfsangebot parat – natürlich gegen Bezahlung: Totenmesse oder wie es neumodisch heißt: „Messe für die Verstorbenen“ bzw. für die „Arme Seelen“.

Und weil viel hilft viel, kann man schon zu Lebzeiten selbst bestimmen und vorausbezahlen, dass diese Messe jährlich für einen am jeweiligen Todestag gelesen werden soll. Diese Gelder waren im Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert ein Teil des Einkommens der Priester. Auch heute noch muss man trotz Kirchensteuer dafür extra bezahlen.

Das ist auch völlig in Ordnung, denn kleine Sünder zahlen nur für wenige Messen, wenn überhaupt, größere entsprechend mehr, schließlich ist das Beten für einen Gestorbenen auch Arbeit, die bezahlt gehört, nicht wahr? :D
 
Nach der Internationalen Statistikkonferenz von 1887 in Mexiko City bedeuten

2000 Einwohner eine Landstadt,
5000 eine Kleinstadt,
20000 eine Mittelstadt und
100000 eine Großstadt.

Und das ist für jede Zeit anders einzuteilen, obwohl hier Unterschiede für die politische, soziale und infrastrukturelle Organisation berücksichtigt wurden. Daher wurde das vor einigen Jahren an unsere Zeit angepasst, ohne dass ich die neuen Zahlen im Kopf habe.

Nach mittelalterlichen Standarts war Rom immer eine Stadt und 20000 Einwohner bedeuteten für die damaligen Verhältnisse schon eine Großstadt.

Da wir schon dabei sind:

Um 1500 war Köln nach Wikipedia mit 45.000 Einwohnern größte deutsche Stadt und Prag hatte 70.000 Einwohner.
 
Die Erblichkeit der Lehen, zunächst noch umstritten, sicherte den Besitz zwar, aber eben nicht in der alten Form, dass es in der Sippe weitergegeben wurde, sondern in der neuen der Erbschaft.
Ist das denn so klar, dass vor Erblichkeit der Lehen diese an Sippen gebunden waren, und nicht beispielsweise nach dem Kriterium persönlichen Verdienstes vergeben wurden? Ansonsten würde man denken, dass Erblichkeit die Rolle von Verwandtschaftsbanden und auch die Rolle von Großfamilien gerade erhöht und nicht mindert.
 
1. Lies nochmal genau. ("sicherte den Besitz zwar")

2. Die Macht des Herrschers wurde ja durch die Sippen begrenzt, er musste dabei ein Gleichgewicht erzielen. Wurde jemand vor den Kopf gestoßen, gab es schnell Aufstände und Fehden. Es mögen die Lehen gewechselt haben, aber es war sicher, dass die jeweilige Sippe berücksichtigt wurde. Ohne weiteres wird auch nicht ignoriert worden sein, wen die Sippe ausgestattet haben wollte.

3. Ich werde nicht müde zu betonen, dass das Mittelalter mit für uns haarsträubenden Widersprüchen lebte. Da stritten sich verschiedene Verfahrensweisen, wie bei der Nachfolge auf dem Thron lange Erbrecht, Designation und Kur miteinander stritten.

4. Letztlich entstand zudem die Erblichkeit der Lehen aus der sich verengenden Praxis.

(Die Frage nach der Umsetzung der Grafschaftsverfassung östlich des Rheins spielt da natürlich rein. Eine fragmentierte Grafschaftsverfassung erleichterte sowohl die Versorgung der einzelnen Sippenangehörigen als auch ein Teile-und-Herrsche-Spiel des Herrschers. Bei der anderen Sichtweise kann die Fragmentierung der Grafschaftsrechte eben aufgrund der Dippenstrukturen geschehen sein.)
 
Stimmt. Aber ich darf mich bei dir bedienen – Zitat aus dem Buch:

Gott ist in dieser Welt des Spätmittelalters nicht eine entrückte Größe, sondern eine überall mithandelnde Person.

Und genau darauf kommt es an: Gott ist überall präsent und blablablablubblubblubbfaselfaselfabulier
Ich sehe schon, Du brauchst das Buch nicht.

Ich will trotzdem noch ein paar Zeilen zitieren, selbe Seite und noch eine weiter:

Höllenangst? Wir verweisen auf die Aussage der spätmittelalterlichen geistlichen Schauspiele, die so viele Zuschauer anzogen. Obwohl hier die Hölle den Menschen "mit vil gruwelichen und helschen duveln" vorgestellt wurde, obwohl die Teufel in Ketten und Stricken die klagenden Sünder mit sich schleiften, beweisen die Teufelsszenen - eine der Attraktionen des geistlichen Spiels - letztlich eine Vermenschlichung von Luzifer und Satanas. Selbst der Höllenfürst kann als der Übertölpelte erscheinen. Seine Untergebenen werden durch Aussehen - etwa wie ein schwarzer Kessel - oder durch Spottnamen von "Crummnase" bis "Rattenzahn" lächerlich gemacht. Die Höllenfahrtsszenen bersten vor Komik im mittelalterlichen Verständnis. Bisweilen steckt der Teufel selbst in großer Not: Der sittenlose Pfaffe im Wiener Passionsspiel ist so verworfen, daß er noch einmal die Hölle betreten darf und vom Satan in einer Pfütze mit Kot bedeckt wird.
Noch mehr als in ihren Beziehungen zu Gott und Teufel sahen die Menschen in ihrem Verhältnis zu den Heiligen eine personale Verbindung. [...] Die Bevölkerung des Heiligenhimmels gab den Menschen im Spätmittelalter auch die Möglichkeit der Wahl ihres Heiligen. Von 'Moden' der Heiligenverehrung ist gesprochen worden, um etwa in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die zunehmende Popularität der Eltern Marias, Joachim und Anna zu erklären. [...]
Die Menschen wähllen sich ihre Schutzheiligen nicht nach institutionellen Vorgaben, sondern nach ihren eigenen Bedürfnissen. Der Goldschmied verehrt den hl. Eligius, der Wirt betet zu Martha oder Zachäus, die einst den Herrn bewirtet hatten, der Soldat, der Dachdecker und der Bauarbeiter verehren die hl. Barbara, die Patronin derjenigen, die ein rascher Tod bedroht. [...]

Die "Institution Kirche" wurde aus Sicht der Landbevölkerung vom Dorfpfarrer repräsentiert, dieser war keineswegs ein Gott, sondern hatte seine Aufgaben zu erfüllen, also die jeweils anfallenden Messen, Tauf- und Begräbniszeremonien etc. abzuliefern (S. 279):

Die "Alterleute", die "Oldermänner", die "Kirchgeschworenen" überwachen nicht im Auftrag der Kirche, sondern im Auftrag der Gemeinde das Kirchenvermögen, sie wachen darüber, daß der Dorfkirche nichts an ihren Rechten und Besitzungen verlorengeht. Konflikte mit dem Pfarrer waren an der Tagesordnung. Der Pfarrer war Gemeindegenosse. Mochte er auch Messe lesend, vielleicht sogar predigend als Autoritätsperson verstanden worden sein, als Person, welcher der Titel "Herr" gebührte, so bestand doch auf dem Land seine Besoldung teils in Abgaben der Bauern, teils in Stolgebühren, wie sie bei Hochzeiten, Taufen und Begräbnissen anfielen, teils in Erträgen, welche die Grundstücke abwarfen, die der Dorfkirche gehörten. Waren Pfarrers Äcker, war Pfarrers Vieh vor Schabernack sicher, wenn dieser den Bauern allzu hohe Bußen auferlegte?

Vielleicht sogar predigend - zu diesem Stichwort blättere ich noch ein paar Seiten zurück, S. 271:

Allen überlieferten Ordnungen ist alles gemeinsam: Niemals, noch nicht einmal indirekt, werden irgendwelche Qualifikationsmerkmale aufgestellt, die für ein "Indoktrinieren" geeignet waren. Berücksichtigt man, daß die Pfarrer doch die Basisinstitution der Kirche sind, ist das ein zentraler Hinweis darauf, daß die so oft behauptete Macht der mittelalterlichen Kirche über die Seelen der Menschen, ihre übergroße Autorität über die Laien noch nicht einmal eine Karikatur der bestehenden Verhältnisse, sondern ein Konstrukt darstellen, ein Konstrukt, das letztlich erst in der Aufklärungszeit entstand.

 
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Ubl kann ich nicht direkt zitieren, nur über eine Rezension in der HZ:
Dann hast Du bestimmt folgendes gelesen:

Dass das Inzestverbot der Kirche darauf angelegt war, „die germanischen Sippenverbände zu zerschlagen“ (S. 114), entlarvt Ubl als eine Mär der älteren Forschung.

Auf dieser Mär scheint ja Joseph Henrichs Argumentation aufzubauen:

Das Argument geht so: Um die Stabilität der christlichen Reiche gegen Sippen- und Clanverbände zu stützen, wurden Verwandtenheiraten untersagt. Als verwandt galten zum Teil Personen, die in der siebten Generation gemeinsame Vorfahren hatten. Damit, so die Autoren, gelang es der Kirche, sippenorientierte Loyalitäten stark zurückzudrängen.

Dagegen Ubl (S. 488):

Die Radikalisierung des Inzestverbots wurde nicht durch eine maliziöse Strategie der Kirche herbeigeführt, sondern sie ergab sich aus der Kombination des west- und ostfränkischen Kirchenrechts sowie aus den spezifischen Bedingungen des Thronwechsels von 1002. Kurzfristig konnte König Heinrich II. Vorteile daraus ziehen. Er stellte seine monarchische Herrschaft unter Beweis, inszenierte sich als Herr über die Reichskirche und monopolisierte die für seine Legitimation so wichtige Herkunft von König Heinrich I. Langfristig war jedoch weder dem Königtum noch der Kirche damit gedient: Der Monarch gefährdete mit der radikalen Ausweitung der Exogamie die Grundlagen seines auf Adelsherrschaft beruhenden Königtums; die Kirche musste Verstöße gegen das biblische Prinzip der Unauflösbarkeit der Ehe in Kauf nehmen, da mit einem Mal alle Ehen unter Inzestverdacht standen.

Die Kehrseite ist, dass regionale Bande nach Ubl geschwächt wurden.
Inwiefern geschwächt? Wo liest Du das?
 
Ich denke, wenn die reichsweiten verwandtschaftlichen Netzwerke gestärkt werden, nimmt die Bedeutung der regionalen verwandschaftlichen Netzwerke relativ ab. Allerdings behinderten die Heiratsverbote natürlich auch die Stabilisierung von reichsweiten verwandtschaftlichen Netzwerken.
Von explizit germanischen Sippenverbänden lese ich bei Henrichs nichts, in dem Science-Artikel wird der Kirche natürlich auch keine maliziöse Strategie im Jahr 1002 unterstellt.
 
Die Verwaltung auf Gemeindeebene muss genauer betrachtet werden.

Die Einkünfte aus dem Besitz einer Dorfkirche, einer Kapelle oder eines Altares ging in den Erhalt und den Schmuck des Gegenstands und wurde von den "Templierern" oder wie sie jeweils hießen verwaltet.

Der zum Pfarrhof oder zu einer Pfründe gehörende Besitz kam dem entsprechenden Geistlichen zu Gute und wurde vom Geistlichen verwaltet.

Beides wurde grundsätzlich vom Bischof kontrolliert. Im Einzelfall, je nach betrachtetem Besitz und regional hatten Gemeindegremien oder der Pfarrer Aufsichtsrechte.

Dann konnte es - modern ausgedrückt - noch weitere Vermögen der Kirchengemeinden geben. Etwa für den Küster, den Organisten, die Schule, die Armen und (später) sogar die Kirchturmuhr. Diese wurden in der Regel von den Gremien kontrolliert. Aber es gab Ausnahmen, wenn etwa der Stifter / die Stifterin anderes festlegte.

Meinungsverschiedenheiten gab es natürlich dennoch. Das ist auch nicht der Grund für diese doch selbst grobe Präzisierung. Ich führe das auf, weil es ein durch die Gläubigen weitgehend selbst gestalteter Bereich war. Der Einfluss ging in beide Richtungen.

Edit: Hier vor Ort wurden vermögensrechtlich Kirchenschiff und Turm unterschieden. Am Turm war die Gemeinheit des Ortes (~ politische Gemeinde) beteiligt.
 
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