Wie weit in den Alltagleben reichte die Macht der Kirche(n)?

Ich sehe schon, Du brauchst das Buch nicht.
Doch - schon allein, um zu sehen, ob du hier nur Stellen zitierst, die dir in den Kram passen. ;)

Wir verweisen auf die Aussage der spätmittelalterlichen geistlichen Schauspiele, die so viele Zuschauer anzogen.
Ja, ich kenne diese Fastnachtspiele, die Bestandteil des Karneval waren. Sie waren derb und hatten oft die sonst verbotene Sexualität zum Inhalt, aber auch Gott und Teufel. Man kann diese Spiele auch als Kompensation für die reale Welt sehen, die alles andere als lustig war. Diese verkehrte Welt war, wie auch der Karneval selbst, der Kirche immer ein Dorn im Auge, weil sie die Ordnung der Welt und damit auch Gott und Teufel infragestellte. Dieses Ventil des Volkes musste anscheinend geduldet werden, doch am Aschermittwoch war Schluss – wer da noch weiter feierte, wurde hart wegen Gotteslästerung bestraft.

Die Protestanten, die ja als die ernsthafteren, um nicht zu sagen freudlosen Christen galten und gelten, haben diese Lustbarkeiten fast gänzlich abgeschafft, deswegen finden sich diese heute praktisch nur noch in katholischen Gegenden.
 
Ja, ich kenne diese Fastnachtspiele, die Bestandteil des Karneval waren. Sie waren derb und hatten oft die sonst verbotene Sexualität zum Inhalt, aber auch Gott und Teufel.
in dem von @Sepiola zitierten Text geht es nicht einzig um Fastnachtsspiele (als Ausnahme-Ereignisse), das solltest du bedenken.
Übrigens sehr weltlich und enorm komisch ist die Messe-Parodie der Carmina Burana, die mit Karneval nichts zu tun hat.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das ist aber auch kein Mittelalterthread. Und es war, wie ich schrieb, nicht als Widerspruch präzisiert, sondern um aufzuzeigen, dass nicht alles von oben gestaltet wurde, einiges gar von unten gesetzt.

Zu kritisieren hätte ich die sehr protestantische Sicht des Zitats, was aber für das Thema keine Rolle spielt.
 
Den Organisten habe ich nachträglich hinzugefügt und das später übersehen.

Hier ist taucht Öl für die Turmuhr 1654 in den ersten erhaltenen Kirchenrechnungen auf.

In anderen Dörfern haben sich recht alte Turmuhrwerke erhalten. Allerdings fragt sich, ob die irgendwann von einer städtischen Gemeinde gekauft wurden. In einem Nachbarort hat sich ein Uhrwerk mit Bestandteilen aus dem 15. Jh. erhalten. Nur gab es dort bis ins 19. Jh. keinen Turm.

Die alte, 1698 ersetzte, Orgel hier stammte laut einer Inschrift aus dem 16. Jahrhundert.

Für beides bin ich kein Experte, berichte nur meine begrenzte Erfahrung dazu, ich werde die Tage mal nachschlagen, das interessiert mich beides selbst.

Wer schließt die Neuzeit aus?

So ward dein Beitrag verstanden.
 
... in dem Science-Artikel wird der Kirche natürlich auch keine maliziöse Strategie im Jahr 1002 unterstellt.

Ihr wird nicht speziell für das Jahr 1002, sondern vielmehr für das ganze Mittelalter (beginnend ab ca. 500) eine destruktive Strategie unterstellt ("Western Church systematically undermined Europe’s intensive kin-based institutions during the Middle Ages").
 
In anderen Dörfern haben sich recht alte Turmuhrwerke erhalten. Allerdings fragt sich, ob die irgendwann von einer städtischen Gemeinde gekauft wurden. In einem Nachbarort hat sich ein Uhrwerk mit Bestandteilen aus dem 15. Jh. erhalten. Nur gab es dort bis ins 19. Jh. keinen Turm.

Die alte, 1698 ersetzte, Orgel hier stammte laut einer Inschrift aus dem 16. Jahrhundert.

Es dürfte öfter vorgekommen sein, dass ausrangierte Orgeln und Uhrwerke aus Klöstern oder Stadtkirchen (die technisch noch in Ordnung bzw. reparabel waren, aber den jeweiligen Repräsentationsbedürfnissen nicht mehr genügten) in Dorfkirchen transferiert wurden und dort noch lange Zeit ihren Dienst taten.
Beispiele gibt es noch aus dem 19. Jahrhundert.

So ward dein Beitrag verstanden.
Das Missverständnis glaubte ich in Beitrag 46 ausgeräumt zu haben.
 
in dem von @Sepiola zitierten Text geht es nicht einzig um Fastnachtsspiele (als Ausnahme-Ereignisse), das solltest du bedenken.

Übrigens sehr weltlich und enorm komisch ist die Messe-Parodie der Carmina Burana, die mit Karneval nichts zu tun hat.
Die meisten Spiele, in denen Gott, Teufel, Papst und Kirche durch den Kakao (gab es damals schon Kakao?) gezogen wurden, konnten nur in der fünften Jahreszeit öffentlich aufgeführt werden, ansonsten drohten, wie ich schon schrieb, Anklagen wegen Gotteslästerung.

Und Carmina Burana besteht größtenteils aus lateinischen Texten, die nur Kleriker und vielleicht Gelehrte auf Fürstenhöfen verstanden. Die Einsprengsel in deutscher Sprache waren wahrscheinlich für die Lateinunkundige gedacht, damit sie wenigstens das Refrain mitsingen konnten. Das Zielpublikum war nicht das einfache Volk, sondern gebildete Leute – eine Minderheit. Man kann sagen: Carmina Burana war von Gebildeten für Gebildete geschrieben, denn manche Texte sind nur zu verstehen, wenn man Kenntnis hat von dem, was antiken Dichter einst geschrieben – Beispiel: https://turba-delirantium.skyrocket...a-burana_cb191_archipoeta_vagantenbeichte.htm
 
Ihr wird nicht speziell für das Jahr 1002, sondern vielmehr für das ganze Mittelalter (beginnend ab ca. 500) eine destruktive Strategie unterstellt ("Western Church systematically undermined Europe’s intensive kin-based institutions during the Middle Ages").
Wenn man als Produkte von "kin-based institutions" Personengruppen versteht, die wesentlich durch multiple verwandtschaftliche Verbindungen zusammengehalten werden, kommt man ja zwangsläufig zu dem Ergebnis, dass extensive Verbote von Verwandtenheiraten diese Institutionen schwächten. Oder gab es solche kin-based institutions im Frümittelalter vielleicht gar nicht?
Aber ich fürchte, dass ich mich zu dem Thema jetzt nur noch wiederhole.
 
Die meisten Spiele, in denen Gott, Teufel, Papst und Kirche durch den Kakao (gab es damals schon Kakao?) gezogen wurden, konnten nur in der fünften Jahreszeit öffentlich aufgeführt werden, ansonsten drohten, wie ich schon schrieb, Anklagen wegen Gotteslästerung.
Dem entgegen stehen Oster- und Weihnachtsspiele, Mysterienspiele - einfach als erster Überblick: Mittelalterliches Theater – Wikipedia
Fastnachtsspiele tauchen erst ab dem 15.Jh. auf.
 
Dem entgegen stehen Oster- und Weihnachtsspiele, Mysterienspiele - einfach als erster Überblick: Mittelalterliches Theater – Wikipedia
Fastnachtsspiele tauchen erst ab dem 15.Jh. auf.

Interessanter Artikel...

"Am Ende des vierten Jahrhunderts scheinen die Theater geschlossen und große Teile der Schriften für und über das Theater vernichtet worden zu sein (vgl. Bücherverluste in der Spätantike)."

Dann hat die Kirche also doch gezielt Bücher vernichted, aus einer bigotten Haltung aus, wenn auch "nur" Bücher über Theater?
 
Interessanter Artikel...
Das finde ich auch, speziell in dieser Diskussion erhellend im Hinblick auf diese Behauptung:
Die meisten Spiele, in denen Gott, Teufel, Papst und Kirche durch den Kakao (gab es damals schon Kakao?) gezogen wurden, konnten nur in der fünften Jahreszeit öffentlich aufgeführt werden, ansonsten drohten, wie ich schon schrieb, Anklagen wegen Gotteslästerung.
Das scheint nicht richtig zu sein, wenn man den Wikipedia-Artikeln über Fastnachtsspiele (erst ab dem 15. Jh.) und über mittelalterliches Theater trauen kann. Klerikale "Theater"-aufführungen ("geistliche Spiele" wie Osterspiele, ab dem 11. Jh. Weihnachtsspiele) im Rahmen der Liturgie, in lateinischer Sprache, sind schon für das 10. Jh. belegt.
Aus überlieferten Regieanweisungen des Bischofs Ethelwood von Winchester um etwa 970 geht hervor, dass der Dialog auch von Mönchen gespielt wurde.
https://de.wikipedia.org/wiki/Mittelalterliches_Theater
im 12. Jh. volkssprachiges Theater vor den Kirchen/Kathedralen/Münstern:
Ab dem 12. Jahrhundert ist volkssprachliches Theater mit Spielanweisungen vor den Kirchen bekannt (etwa das Adamsspiel 1150). Träger dieser Spiele waren die mächtiger werdenden Städte, deren Bevölkerungsstruktur sich mit dem Aufblühen der Märkte und des Handwerks veränderte. In lateinischer Sprache existieren Klerikerspiele, die einen Disput um die Weltherrschaftsordnung austragen. Die Antichrist-Spiele jener Zeit haben eine starke politisch-soziale Komponente.
Zudem scheint es an humorigen Inhalten in der geistlichen wie auch in der weltlichen mittelalterlichen Theaterpraxis nicht gemangelt zu haben, z.B. in den https://de.wikipedia.org/wiki/Osterspiel :
Zu den Szenen, die oft auch sehr derb sein konnten, gehörten etwa: Pilatus- und Judenszene, Auferstehung, Grabwächterszene, Höllenfahrt, Teufelsszene mit Sünderrevue, Marienklage, Krämerszene, Visitatio, Apostellauf. Oft verlor sich der belehrende Aspekt, und die Freude am Spektakel, etwa bei den Teufelsszenen, trat hervor.
Sie sind in Hunderten von Varianten erhalten, auch mit komödiantischen und derben Passagen wie dem Wettlauf der Apostel oder der Salbenkrämerszene, in denen Konkurrenz und Eitelkeit thematisiert werden.
(aus dem oben erwähnten und zitierten "mittelalterliches Theater")
Fazit: Theater im Mittelalter war bei weitem nicht begrenzt auf schriftkundige Gelehrte a la "von Intellektuellen für Intellektuelle", war zeitlich nicht auf die "fünfte Jahreszeit" begrenzt und die oft derben, respektlosen Einsprengsel humorigen Charakters führten zu keiner Gotteslästerei-Klagewelle.

Dass das Gewerbe des Schauspielers mit Anrüchigkeit konnotiert war, ist keine klerikale Indoktrination: https://de.wikipedia.org/wiki/Theater_der_römischen_Antike#Die_einfachen_Schauspieler_und_ihre_Rechte - interessant ist natürlich, dass sich diese Haltung durch etliche Zeiten und Kulturen weiter tradiert hatte: der spießbürgerliche Erzähler in Buschs "frommer Helene" verortet Sittenlosigkeit im Theater, die dünkelhaften Standesgenossen von Christian Buddenbrook, dem Bruder des Senators Thomas, ebenso.
 
Zuletzt bearbeitet:
Diese verkehrte Welt war, wie auch der Karneval selbst, der Kirche immer ein Dorn im Auge, weil sie die Ordnung der Welt und damit auch Gott und Teufel infragestellte.

War sie das und tat sie das?

Dieses Ventil des Volkes musste anscheinend geduldet werden, doch am Aschermittwoch war Schluss – wer da noch weiter feierte, wurde hart wegen Gotteslästerung bestraft.

Wenn grundsätzlich wegen Gotteslästerung bestraft worden wäre, wer in irgendeiner Form für allgemeine Bespaßung zuweilen auf Kosten der Orbigkeeiten sorgte, wundert mich, dass wir so überhaupt keine Überlieferungen über Massenexekutionen von Spielleuten und Narren haben, die sich mitunter genau damit ihren Lebensunterhalt verdienten.

Die Protestanten, die ja als die ernsthafteren, um nicht zu sagen freudlosen Christen galten und gelten,
Hier wäre allerdings zu fragen, ob zurecht.
Die protestantischen Liturgien wirken möglicherweise etwas steriler, weil auf Prunk und großes Brimborium in der Regel verzichtet wird, in anderen Fragen, wie etwa im Hinblick auf die Sakramente wird man die Haltung der protstantischen Konfessionen durchaus auch als laxer betrachten können, als die katholischen Traditionen.
Vollständig weltabgewandtes Leben im Form klösterlicher Gemeinschaften etc. findet sich in den meisten protestantischen Konfessionen durchaus auch seltener als im Katholizismus zumindest wenn man sich damit auf Europa beschränkt.

haben diese Lustbarkeiten fast gänzlich abgeschafft, deswegen finden sich diese heute praktisch nur noch in katholischen Gegenden.
Haben sie sie abgeschafft, oder findet sie einfach weniger Anklang, weil diese Art von Festivitäten in ihrer tradierten Form, einfach nicht mehr in die gesellschaftliche Realität passten?
Im Hinblick darauf die geistliche Obrigkeit durch den Kakao zu ziehen, mit welcher geistlichen Obrigkeit hätten die Protestanten, die ihre geistliche Obrigkeit gerade weitghend abgeschafft hatten und sehr darum bemüht waren, die Hierarchie zwischen Priestern und Laien einzuebnen, das denn anstellen sollen?

Insofern einige protestantische Gegenden, wie Großbritannien oder die Niederlande, die Macht ihrer Monarchen, sofern sie die überhaupt noch beibehielten, radikal beschnitten und sich im Zuge des Aufkommenden Handelskapitalismus und später der Industrialisierung die gesellschaftlichen Hierarchien ohnehin stark verschoben, würde ich meinen, dass der Sinn dieser Festivität einfach irgendwann verloren gegangen ist.

Wozu Päpste und Bischöfe auf die Schippe nehmen, wenn man selbst keinen Papst anerkennt, teilweise (presbyterianisches Schottland) weitgehend auch auf Bischöfe ganz verzichtet oder ihneen nur noch einen Bruchteil der Autorität einräumt, die sie im Katholizismus genossen?
Wozu Könige praodieren wenn die Realität bereits so aussieht, dass der König um irgendetwas für diverse Dinge, die er gern umsetzen würde, erstmal zunehmeend von Bürgerlichen dominierte parlamentarische Veranstaltungen befragen muss, ob eer überhaupt darf und Geldmittel dafür erhält, oder irgendwelche uradeligen, die de facto längst von den Industriebaronenen, Banken und vom Handelskapital abhänige, wirtschaft unbeedeutende Größen sind, wenn nicht sogar Bankrotteure oder wenn sich, wie im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wie in Großbritannien und Deutschland die Grenzen zwischen Adel und Großbürgertum so weit erodiert waren, dass sich im Grunde genommen jeder, der genügend Geld hatte und seinem Monarchen etwas davon zukommen ließ, zum Ritter der Kokosnuss schlagen lassen konnte, wenn es ihm spaß macht.

Welchen Sinn ergibt es eine überkommene hierarchische Ordnung vermittels einer Festlichkeit zu parodieren, die längst aufgehört hat zu existieren, bzw. deren Überbleibsel quasi permanent durch die gesellschaftliche Realität parodiert werden?
Dass sich der Brauch in einigen Gegenden stärker erhalten hat (sofern er sich nicht bereits vorher verabschiedet hatte und im 19. Jahrhundert wie so viele wiederentdeckt und wiederbelebt wurde), mag einfach damit zusammenhängen, dass bestimmte Gegenden den Bruch mit der alten Ordnung stärker erlebten als andere.
 
Die meisten Spiele, in denen Gott, Teufel, Papst und Kirche durch den Kakao (gab es damals schon Kakao?) gezogen wurden, konnten nur in der fünften Jahreszeit öffentlich aufgeführt werden, ansonsten drohten, wie ich schon schrieb, Anklagen wegen Gotteslästerung.
Das scheint nicht richtig zu sein, wenn man den Wikipedia-Artikeln über Fastnachtsspiele (erst ab dem 15. Jh.) und über mittelalterliches Theater trauen kann. Klerikale "Theater"-aufführungen ("geistliche Spiele" wie Osterspiele, ab dem 11. Jh. Weihnachtsspiele) im Rahmen der Liturgie, in lateinischer Sprache, sind schon für das 10. Jh. belegt.
Ich bezweifle sehr, dass in "geistlichen Spielen" im Rahmen der Liturgie „Gott, Teufel, Papst und Kirche durch den Kakao“ gezogen worden sind – egal ob auf Deutsch oder Latein.

Insofern entbehrt deine auf diesen "geistigen Spielen" basierende Argumentation der Grundlage.
 
Zurück
Oben