Emperor_Antonius
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Hallo zusammen,
kürzlich gab es hier im Forum die Diskussion zur Frage: „Defensivstellung im Westen statt Frühjahrsoffensive 1918 möglich?“. Manch einer mag solche Diskussionen für unsinnig halten, ich finde „Was-wäre-wenn-Szenarien“ dagegen äußerst spannend. Ich halte es durchaus für möglich, wahrscheinliche Entwicklungen (zumindest für einen kurzen Zeitraum) bei veränderten Prämissen vorherzusagen und darüber hinaus auch zu lernen, welche Fehler damalige Entscheidungsträger begingen und ob es an mancher Stelle sinnvoller gewesen wäre, den Dingen ihren Lauf zu lassen, anstatt vorzupreschen. Natürlich nicht aus einer heutigen „Danach-ist-manklüger-Sicht“, sondern möglichst auf Basis des Wissens, über das die damaligen Akteure verfügten und mit den Möglichkeiten der damaligen Zeit, als auch mit der Berücksichtigung, dass doch jeder ein Kind seiner Zeit ist.
Die Frage, die mich beschäftigt ist die, wie die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts verlaufen wäre, wenn der Erste Weltkrieg nicht ausgebrochen wäre. Dabei als Voraussetzung die Prämisse, dass Franz Ferdinand nicht ermordet worden und auch in den ersten Jahren nach 1914 kein Krieg ausgebrochen wäre. Wobei sich hierbei gleich die erste Frage zur Diskussion stellt, ob die Lage nicht so angespannt war, dass der Krieg zu einem späteren Zeitpunkt mit hoher Wahrscheinlichkeit (mit einem anderen Auslöser) ausgebrochen wäre.
Bleiben wir zunächst bei Österreich-Ungarn. Betrachtet man den Großteil der Kapitelüberschriften in Konrad Canis Werk „Die bedrängte Großmacht – Österreich-Ungarn und das europäische Mächtesystem 1866/67 – 1914“ kommt man allein dadurch schon zum Schluss, dass das Schicksal der Donaumonarchie am seidenen Faden hing und keine noch so geänderte Prämisse das Habsburgerreich noch retten konnte:
Außenpolitisch war Österreich-Ungarn isoliert, sogar die Politik des deutschen Bündnispartners lief den Interessen des Juniorpartners zuwider. Es existierten divergierende wirtschaftliche Interessen auf dem Balkan, Österreich-Ungarn wurde von Deutschland aus Gebieten verdrängt, die bis dato im wirtschaftlichen Einflussgebiet der Donaumonarchie gelegen hatten. Zudem lies Deutschland Österreich-Ungarn während der Balkankriege im Stich, um seine (angebliche) Annährung an Großbritannien nicht zu gefährden. Die deutsche Politik führte zur Schwächung des Drei(Zwei)bunds, die Großbritanniens zur Stärkung der Entente. Die britische Diplomatie erwies sich der deutschen als haushoch überlegen, wenngleich sie eine Gemeinsamkeit aufwiesen: Die Deutschen unternahmen alles, um den Briten zu gefallen, die Briten alles, um den Russen zu gefallen. Ob deutscherseits eine Besserung in Sicht war, ist fraglich, schrieb doch Albert Ballin (der Generaldirektor der HAPAG (Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft / Hamburg-Amerika-Linie), die dieser zur damals größten Reederei der Welt gemacht hatte (heute fusioniert mit dem Norddeutschen Lloyd (damals zweitgrößte Reederei der Welt) zu Hapag-Lloyd))) über die damalige politische und diplomatische Führung Deutschlands:
Reichskanzler Bethmann-Hollweg „besaß alle Eigenschaften, die den Menschen ehren und dem Staatsmann schaden.“
„Die Torheit des Auswärtigen Amtes lässt sich nur mit dessen österreichischen Gegenstück vergleichen.“
„Die Leitung der Wilhelmsstraße war gefährlich verantwortungslos und engstirnig bis an die Grenze des Schwachsinns.“
„Für Bethmann hätte ich in der HAPAG kaum eine Stelle gehabt, höchstens als Bibliothekar; Jagow kaum Laufbursche. Zimmermann allenfalls Hausknecht, Stumm als Grenzfall und halb unzurechnungsfähig, sogleich zu entlassen.“ (1)
Auch Vizeadmiral Hopmann erlaubt uns in seinem Tagebuch „nette“ Einblicke auf die deutsche Führung (kurz nach Ausbruch des Krieges):
„Mein Gefühl sagt mir, dass auch jetzt noch, genau wie vor dem Krieg, ein einheitlicher Geist und Wille fehlt, der die gesamte Situation übersieht und beherrscht. S.M. spielt nach wie vor, erfreut sich an Kleinigkeiten und Anekdoten anstatt den Ernst der Lage überhaupt nur zu begreifen zu versuchen, der Kanzler und sein Anhang lassen sich weiter treiben ohne Ziel und ohne Gedanken, Moltke denkt nur rein militärisch, und meinem Gefühl nach ist er nicht das Genie, das die jetzige, in vieler Hinsicht für die Kriegsführung doch neuartige Ära braucht, Tirpitz kommt nicht heran und ist doch immer noch etwas zu sehr Ressortpolitikus, der in erster Linie an sein Lebenswerk denkt. Müller ist weich, Pohl eitel, von den übrigen Persönlichkeiten, die um S.M. sind, ragt auch keiner hervor. Demgegenüber auf der anderen Seite Kerle 1. Ordnung. Mir wird weh und wund ums Herz, male ich mir die Zukunft weiter aus.“ (2)
„Dann lässt er [Tirpitz] sich sehr hart über S.M. und seinen geradezu unheilvollen Einfluss auf die Geschichte unserer letzten 25 Jahre aus. Leider hat er Recht. Ich habe auch das Gefühl, dass nun die Sühne kommt und die Weltgeschichte ihr Gericht mit uns abhalten wird. Wir haben, wie ich es Tirpitz gegenüber ausdrückte, 25 Jahre lang in einem spielerischen, gedankenlosen Absolutismus gelebt, der in leerem Schein und eitler Großmannssucht seine Befriedigung gefunden hat, und die Nation hat das leider zu lange ertragen. Die Mehrzahl der Menschen hat es nicht gefühlt. Aber dieses absolutistische Regiment ist der Grund gewesen, dass wir in unserem gesamten Staatswesen keine Männer produziert haben, sondern nur Bürokraten und Lakaien. Da wo die freie Entwicklung der Kräfte möglich war, in allen freien Berufen, haben wir viele tüchtige hervorragende Männer produziert. Auch sie haben zu sehr nach dem Thron geschielt. Das Beispiel ist sehr kontagiös, das unseres Kaisers hat unheilvoll gewirkt. Hoffentlich müssen wir nicht zu sehr dafür büßen, eine innere Erneuerung ist uns aber unbedingt notwendig.“ (3)
Mein Eindruck hat sich verfestigt, dass gerade die deutsche Führung um Bethmann eigentlich keinen Krieg anstrebte, aber äußerst pessimistisch war. Die Frage ist, ob man deutscherseits einen Krieg vom Zaum gebrochen hätte, wenn das Attentat von Sarajewo nicht stattgefunden hätte, oder ob man einen anderen Anlass gefunden hätte (oder in eine andere so empfundene ausweglose Situation geraten wäre), durch die ein Krieg ausgelöst worden wäre. Ich unterstelle der deutschen Führung keine Böswilligkeit, aber eine gewisse Inkompetenz, sich der Einkreisung, oder der empfundenen Einkreisung erfolgreich zu entziehen. Die Diplomatie der Entente war hier m.E. deutlich überlegen. Eine wichtige Rolle hätte sicher auch weiterhin die Außenpolitik Österreich-Ungarns gespielt und diese wiederum von der Fähigkeit innerer Erneuerung und äußerer Stabilisierung des Landes abgehangen. Hierzu wollte ich eigentlich auf das mögliche Reformprogramm Franz Ferdinands eingehen, aber da der Abend weit fortgeschritten ist, folgt das voraussichtlich erst morgen.
Als nächstes möchte ich auch auf das Thema „Wiederaufflammen des Great Game ab 1914?“, sowie natürlich auf eine „mögliche Entwicklung Deutschlands ohne Krieg" eingehen.
(Fortsetzung folgt)
(1) Cecil, Lamar: Albert Ballin – Wirtschaft und Politik im Deutschen Kaiserreich 1888 – 1918, Hamburg 1969, S. 113 ff.
(2) Epkenhans, Michael: Das ereignisreiche Leben einen Wilheminers - Tagebücher, Briefe, Aufzeichnungen von Albert Hopman, München 2004, S. 433
(3) ebenda S. 441
kürzlich gab es hier im Forum die Diskussion zur Frage: „Defensivstellung im Westen statt Frühjahrsoffensive 1918 möglich?“. Manch einer mag solche Diskussionen für unsinnig halten, ich finde „Was-wäre-wenn-Szenarien“ dagegen äußerst spannend. Ich halte es durchaus für möglich, wahrscheinliche Entwicklungen (zumindest für einen kurzen Zeitraum) bei veränderten Prämissen vorherzusagen und darüber hinaus auch zu lernen, welche Fehler damalige Entscheidungsträger begingen und ob es an mancher Stelle sinnvoller gewesen wäre, den Dingen ihren Lauf zu lassen, anstatt vorzupreschen. Natürlich nicht aus einer heutigen „Danach-ist-manklüger-Sicht“, sondern möglichst auf Basis des Wissens, über das die damaligen Akteure verfügten und mit den Möglichkeiten der damaligen Zeit, als auch mit der Berücksichtigung, dass doch jeder ein Kind seiner Zeit ist.
Die Frage, die mich beschäftigt ist die, wie die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts verlaufen wäre, wenn der Erste Weltkrieg nicht ausgebrochen wäre. Dabei als Voraussetzung die Prämisse, dass Franz Ferdinand nicht ermordet worden und auch in den ersten Jahren nach 1914 kein Krieg ausgebrochen wäre. Wobei sich hierbei gleich die erste Frage zur Diskussion stellt, ob die Lage nicht so angespannt war, dass der Krieg zu einem späteren Zeitpunkt mit hoher Wahrscheinlichkeit (mit einem anderen Auslöser) ausgebrochen wäre.
Bleiben wir zunächst bei Österreich-Ungarn. Betrachtet man den Großteil der Kapitelüberschriften in Konrad Canis Werk „Die bedrängte Großmacht – Österreich-Ungarn und das europäische Mächtesystem 1866/67 – 1914“ kommt man allein dadurch schon zum Schluss, dass das Schicksal der Donaumonarchie am seidenen Faden hing und keine noch so geänderte Prämisse das Habsburgerreich noch retten konnte:
- Fragiles Dreikaiserverhältnis (1871 – 1875)
- Orientkrise (1875 – 1878)
- Brüchige Bündnisse (1880 – 1885)
- Die internationale Krise (1885 – 1888)
- Badenikrise, Bündnisstörungen und Balkanentente (1897 – 1901)
- Halbheiten: Dreibundverlängerung, Mürzstegentente und Neutralitätsvertrag mit Russland (1902 – 1906)
- Aehrenthals Offensive. Die Bosnische Annexionskrise (1906 – 1909) (Hierzu empfehle ich die Beiträge Turgots zu diesem Thema: Die Bosnische Annexionskrise von 1908/09 )
- Prekärer Status quo (1909 – 1912)
- Geschwächt ins Abseits. Die Balkankriege (1912 – 1913)
- Machtverfall bei Hochspannung (1913 – 1914)
- Die Julikrise und der Kriegsbeginn 1914
Außenpolitisch war Österreich-Ungarn isoliert, sogar die Politik des deutschen Bündnispartners lief den Interessen des Juniorpartners zuwider. Es existierten divergierende wirtschaftliche Interessen auf dem Balkan, Österreich-Ungarn wurde von Deutschland aus Gebieten verdrängt, die bis dato im wirtschaftlichen Einflussgebiet der Donaumonarchie gelegen hatten. Zudem lies Deutschland Österreich-Ungarn während der Balkankriege im Stich, um seine (angebliche) Annährung an Großbritannien nicht zu gefährden. Die deutsche Politik führte zur Schwächung des Drei(Zwei)bunds, die Großbritanniens zur Stärkung der Entente. Die britische Diplomatie erwies sich der deutschen als haushoch überlegen, wenngleich sie eine Gemeinsamkeit aufwiesen: Die Deutschen unternahmen alles, um den Briten zu gefallen, die Briten alles, um den Russen zu gefallen. Ob deutscherseits eine Besserung in Sicht war, ist fraglich, schrieb doch Albert Ballin (der Generaldirektor der HAPAG (Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft / Hamburg-Amerika-Linie), die dieser zur damals größten Reederei der Welt gemacht hatte (heute fusioniert mit dem Norddeutschen Lloyd (damals zweitgrößte Reederei der Welt) zu Hapag-Lloyd))) über die damalige politische und diplomatische Führung Deutschlands:
Reichskanzler Bethmann-Hollweg „besaß alle Eigenschaften, die den Menschen ehren und dem Staatsmann schaden.“
„Die Torheit des Auswärtigen Amtes lässt sich nur mit dessen österreichischen Gegenstück vergleichen.“
„Die Leitung der Wilhelmsstraße war gefährlich verantwortungslos und engstirnig bis an die Grenze des Schwachsinns.“
„Für Bethmann hätte ich in der HAPAG kaum eine Stelle gehabt, höchstens als Bibliothekar; Jagow kaum Laufbursche. Zimmermann allenfalls Hausknecht, Stumm als Grenzfall und halb unzurechnungsfähig, sogleich zu entlassen.“ (1)
Auch Vizeadmiral Hopmann erlaubt uns in seinem Tagebuch „nette“ Einblicke auf die deutsche Führung (kurz nach Ausbruch des Krieges):
„Mein Gefühl sagt mir, dass auch jetzt noch, genau wie vor dem Krieg, ein einheitlicher Geist und Wille fehlt, der die gesamte Situation übersieht und beherrscht. S.M. spielt nach wie vor, erfreut sich an Kleinigkeiten und Anekdoten anstatt den Ernst der Lage überhaupt nur zu begreifen zu versuchen, der Kanzler und sein Anhang lassen sich weiter treiben ohne Ziel und ohne Gedanken, Moltke denkt nur rein militärisch, und meinem Gefühl nach ist er nicht das Genie, das die jetzige, in vieler Hinsicht für die Kriegsführung doch neuartige Ära braucht, Tirpitz kommt nicht heran und ist doch immer noch etwas zu sehr Ressortpolitikus, der in erster Linie an sein Lebenswerk denkt. Müller ist weich, Pohl eitel, von den übrigen Persönlichkeiten, die um S.M. sind, ragt auch keiner hervor. Demgegenüber auf der anderen Seite Kerle 1. Ordnung. Mir wird weh und wund ums Herz, male ich mir die Zukunft weiter aus.“ (2)
„Dann lässt er [Tirpitz] sich sehr hart über S.M. und seinen geradezu unheilvollen Einfluss auf die Geschichte unserer letzten 25 Jahre aus. Leider hat er Recht. Ich habe auch das Gefühl, dass nun die Sühne kommt und die Weltgeschichte ihr Gericht mit uns abhalten wird. Wir haben, wie ich es Tirpitz gegenüber ausdrückte, 25 Jahre lang in einem spielerischen, gedankenlosen Absolutismus gelebt, der in leerem Schein und eitler Großmannssucht seine Befriedigung gefunden hat, und die Nation hat das leider zu lange ertragen. Die Mehrzahl der Menschen hat es nicht gefühlt. Aber dieses absolutistische Regiment ist der Grund gewesen, dass wir in unserem gesamten Staatswesen keine Männer produziert haben, sondern nur Bürokraten und Lakaien. Da wo die freie Entwicklung der Kräfte möglich war, in allen freien Berufen, haben wir viele tüchtige hervorragende Männer produziert. Auch sie haben zu sehr nach dem Thron geschielt. Das Beispiel ist sehr kontagiös, das unseres Kaisers hat unheilvoll gewirkt. Hoffentlich müssen wir nicht zu sehr dafür büßen, eine innere Erneuerung ist uns aber unbedingt notwendig.“ (3)
Mein Eindruck hat sich verfestigt, dass gerade die deutsche Führung um Bethmann eigentlich keinen Krieg anstrebte, aber äußerst pessimistisch war. Die Frage ist, ob man deutscherseits einen Krieg vom Zaum gebrochen hätte, wenn das Attentat von Sarajewo nicht stattgefunden hätte, oder ob man einen anderen Anlass gefunden hätte (oder in eine andere so empfundene ausweglose Situation geraten wäre), durch die ein Krieg ausgelöst worden wäre. Ich unterstelle der deutschen Führung keine Böswilligkeit, aber eine gewisse Inkompetenz, sich der Einkreisung, oder der empfundenen Einkreisung erfolgreich zu entziehen. Die Diplomatie der Entente war hier m.E. deutlich überlegen. Eine wichtige Rolle hätte sicher auch weiterhin die Außenpolitik Österreich-Ungarns gespielt und diese wiederum von der Fähigkeit innerer Erneuerung und äußerer Stabilisierung des Landes abgehangen. Hierzu wollte ich eigentlich auf das mögliche Reformprogramm Franz Ferdinands eingehen, aber da der Abend weit fortgeschritten ist, folgt das voraussichtlich erst morgen.
Als nächstes möchte ich auch auf das Thema „Wiederaufflammen des Great Game ab 1914?“, sowie natürlich auf eine „mögliche Entwicklung Deutschlands ohne Krieg" eingehen.
(Fortsetzung folgt)
(1) Cecil, Lamar: Albert Ballin – Wirtschaft und Politik im Deutschen Kaiserreich 1888 – 1918, Hamburg 1969, S. 113 ff.
(2) Epkenhans, Michael: Das ereignisreiche Leben einen Wilheminers - Tagebücher, Briefe, Aufzeichnungen von Albert Hopman, München 2004, S. 433
(3) ebenda S. 441