diese abstrakt theoretisierende Conclusio liest sich rosiger als die überlieferten "Integrationserlebnisse" russischer "Bourgeoisie"... das kulturelle russische Aushängeschild Rachmaninov zog die Emigration vor, als es mitansah, dass die "Integration" darin bestand, dass der kostbare Flügel vom Balkon geschmissen wurde... die Integration der Bourgeoisie sah nicht nur den kompletten Verlust des Vermögens vor (Enteignung von Immobilien, Einquartierung, Wertsachen konfiszieren) sondern auch den der Einkünfte und obendrein eine permanente Verdächtigung/Überwachung der ehemaligen "Großbürger" - da genügen als Quellen, von den Sowjets verbotene/verfolgte literarische Texte (Ilf/Petrof, Bulgakov, Zamjatin, Pasternak usw usw)
Nun wirfst du allerdings ein paar Dinge durcheinander. Wenn du von Rachmaninov sprichst, diese Episode hat sich in den Wirren der Oktoberrevolution, bzw. in der Zeit des beginnenden Bürgerkriegs abgespielt.
In der Zeit hatten die Bolschewiki aber keinen eingespielten, disziplinierten Apparat zur Verfügung um ihre Vorstellungen durchzusetzen, sondern mussten innerhalb des Machtkampfes eben auf die Personen zurückgreifen, die sie bekommen konnten. Und die folgten eben nicht unbedingt kommunistischen Vorstellungen, wie Veränderung der Gesellschaft zu laufen habe, sondern zum Teil einfach persönlichem Groll auf Grund von persönlicher Deklassierung oder ganz eigenen Vorstellungen von Gesellschaftsklassen.
Darin einen Kostbaren Flügel vom Balkon zu werfen und damit einen vorhandenen Wert vollkommen nutzloser Weise zu vernichten, hätte unter den führenden Bolschewiki kaum jemand einen Sinn gesehen. Wozu denn.
Nein, da werden einfach vor Ort Leute ihre eigenen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und Rache für soziale Deklassierung ausgetobt haben.
Es ist im Übrigen eines der harmloseren Beispiele.
Es sind in der Revolutions- und Bürgerkriegszeit ja zum Teil (auch wenn das Extremfälle sind) Personen als angebliche "Kapitalisten/Bourgeois" auf der Straße ermordet wurden, weil sie eine Brille trugen, oder irgendwelche anderen Dinge, die sie (vermeindlich) als Mitglieder der früheren Mittel- oder Oberschichten erkennbar machten.
Nur passierte das nicht auf Geheiß der führenden Boschewiki, sondern auf Betreiben von radikalisierten Teilen der unteren Schichten, die die Bolschewiki nicht unbdingt unter Kontrolle hatten, die sie aber im Kontext des sich abzeichnenden Bürgerkrieges brauchten.
Hier ist der Vergleich zwischen NS und werdender Sowjetunion insofern schwierig, als das im Unterschied zum Regime der Bolschewiki das NS-Regime eben nicht aus einem Bürgerkrieg oder einer anderen bewaffneten Auseinandersetzung an die Macht kam, sondern im (relativen) Einvernehmen mit Teilen der alten Eliten.
Das brachte die Nazis in die Lage sehr schnell nach ihrer Machtübernahme den eigenen Apparat zu "disziplinieren" und für das Regime zunehmend problematische Akture, die dazu neigten politisch aus der Reihe zu tanzen, wie Röhm und die SA gewaltsam auszuschalten.
Zu den für das Regime zum Teil etwas problematischen Verbündeten zählten im Übrigen auch viele ehemalige zaristische Offiziere, die zu den Bolschewiki überliefen und die eben durchaus integriert wurden. Das seinerzeit prominenteste Beispiel dürfte der General Brussilow gewesen sein:

Alexei Alexejewitsch Brussilow – Wikipedia
Teile der noch aus der Zarenarmee kommenden Militärs mit ursprünglich (groß)bürgerlichem Hintergrund hielten sich bis in den zweiten Weltkrieg hinein in bedeutenden Funktionen.
Beispielsweise Boris Schaposchnikow, der es zum "Marschall der Sowjetunion" und zeitweise zum Generalstabschef der Roten Armee brachte.

Boris Michailowitsch Schaposchnikow – Wikipedia
Die Möglichkeit den eigenen Machtapparat von vorn herein auf Linie und unter Kontrolle zu bringen hatten die Bolschewiki zunächst nicht, weil sie jeden noch so problematsichen Partner brauchten um im Bürgerkrieg nicht unterzugehen.
Eine wirkliche Verfestigung und "Disziplinierung" des Machtapparats und der Ideologie findet in der Sowjetunion erst nach dem Bürgerkrieg (oder vielleicht ab dessen letztem Jahr) statt.
Im Übrigen, ein guter Teil der führenden Bolschewiki selbst hatte ursprünglich einen Hintergrund als Teil der mittleren und oberen sozialen Schichten Russlands.
Schau dir mal an, aus welchen sozialen Verhältnissen Lenin, Trotzki und andere so kamen, das waren keine Arbeiterfamilien und Arbeiterbiographien, das waren zum Teil großbürgerliche Verhältnisse, in Lenins Fall gar ein adliger Hintergrund.
Es war für die Bolschewiki, mindestens für die Altbolschewiki trotz dieser Hintergründe kein Problem diese Leute als Anführer zu akzeptieren.
Wenn du Bulgakow, Pasternak und andere Kulturgrößen nennst, waren das natürlich nicht einfach ehemalige Großbürger, sondern zum einen Personen mit einer politischen Vergangenheit (Bulgakow etwa war während des Bürgerkrieges zeitweise bei den "Weißen Garden") gewesen und die teilweise weiterhin Kunst/Literatur mit Breitenwirkung fabrizierten, die durchaus politische Inhalte hatte oder so gelesen werden konnte.
Überwachung solcher Personen wiederrum gab es allerdings auch im NS.
Nicht was den rein materiellen Besitz betrifft, sofern die Großbürger in Deutschland denn der NS-Rassenideologie einigermaßen entsprachen.Derartige komplette Enteignungen wegen der Klassenzugehörigkeit fanden im Naziland nicht statt.
Allerdings, kann man auch das etwas abstrakter betrachten.
Letztendlich wurde den großbürgerlichen Eliten ind Russland/der werdenden Sowjetunion das Eigentum ja nicht völlig willkürlich aberkannt, sondern dadurch, dass die Bolschewiki insgesamt eine rechtlich Grundlage oktroyierten, die das Recht auf Eigentum nur noch eingeschränkt garantierte und große Vermögen und Produktionsmittel davon ausschloss.
Es wurden also dem Großbürgertum zuvor vorhandene grundlegende Rechte aberkannt (allen anderen auch, aber für diejenigen, die kein Vermögen hatten, hatte es eben keine Konsequenzen in Richtung Enteignung von bereits vorhandenem).
Das in die grundsätzlichen Rechte des Großbürgertums einggriffen wurde, fand aber natürlich auch unter dem NS-Regime statt. Eingriffe in die Pressefreiheit etwa betrafen ja in erster Linie Verleger und Eigner von Zeitungen und Filmproduktionen, nicht die einfache Bevölkerung, die so etwas gar nicht produzierte/vermarktete/besaß.
Ich möchte dem Befund, dass sich die Bolschewiki wesentlich expliziter gegen das Großbürgertum richteten und das man hier wesentlich eher von paradigmatischer Feindschaft gegenüber demselben sprechen kann, als bei den Nazis gar nicht widersprechen, da bin ich völlig d'accord.
Ich bin nur gegen diese Verabsolutierung. Es gab durchaus Personen mit urssprünglich (groß)bürgerlichen Hintergründen, die in das sowjetische System integriert wurden, genau so wie es Übergriffe des NS-Systems gab, die vorrangig eben das Großbürgertum trafen.
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