Geschichtswissenschaft bloß Literaturwissenschaft?

Müssen die "Humanities" in hohem Ansehen stehen, wenn z.B. der Antisemitismus an Universitäten gedeiht? Müssen sie nicht. Das müssen sie erst recht nicht, wenn bedacht wird, welcher Aufwand in desselben Sozial- und Geisteswissenschaften betrieben wurde, um derartige Formen der Menschenfeindlichkeit zu bekämpfen. Selbstkritisches hört man selten. Der jetzige "Tsunami des Antisemitismus" wäre nicht möglich gewesen, wenn sich Vertreter der Humanities, darunter sicherlich auch Geschichtswissenschaftler, nicht jahrzehntelang als Lieferanten bequemer Wahrheiten verstanden hätten. Anders kann ich mit jedenfalls diese Fehlentwicklung nicht erklären. Abschweifen vom Thema? Nein.
Ich denke jetzt machst du es dir ein Bisschen einfach.

Zum einen gibt es mitunter eine sehr große Differenz zwischen dem, was in der Wissenschaft diskutiert wird und zwischen dem, was seinen Weg in populäre Diskurse findet, was mitunter einfach daran liegt, dass sich ein Großteil der Bevölkerung eben einfach nicht für wissenschaftliche Diskurse und Erkenntnisse interessiert, zum Teil liegt es übrigens auch an der Unterfinanzierung des Bildungssystems, dass zum Teil mit seit Jahrzehnte veralteten Materialien arbeitet.

Zum anderen: Was hat persönliches Fehlverhalten des Einzelnen mit Wissenschaft zu tun.
Das ist wieder die bürgerliche Vorstellung ein solide Bildung würde in irgendeiner Form vor politischer Radikalisierung schützen. Die Geschichte lehrt uns aber eigentlich, dass das nicht der Fall ist.
Man schaue sich exemplarisch die Funktionseliten des NS-Staates an, dann wird man feststellen, dass da eine Menge gut situiertes Bildungsbürgertum vertreten war.

Warum sollen Historiker nicht vom Zeitgeist korrumpiert werden können?
Historiker werden vom Zeitgeist korrumpiert. Aber ich würde meinen, in weniger starkem Umfang vom aktuellem Zeigteist, als von dem Zeitgeist der herrschte, als sie ihr Studium absolviert haben, weil das massiven Einfluss auf ihre Ausbildung hatte und das wirkt nach.
Oder mal anders ausgedrückt: Hat nicht der Geisteswissenschaftler einen Karrierevorteil bzw. eine Chance auf höhere gesellschaftliche Anerkennung, der in politisch bequeme Schemata passt, als derjenige, der sich um den Landgrafen von Hessen-Kassel kümmert?

Inwiefern gesellschaftliche Anerkennung? Da die meisten Historiker dem Großteil der Gesellschaft Zeit ihres Wirkens ziemlich unbekannt beleiben, sehe ich da nicht viel gesellschaftliche Anerkennung, jedenfalls was eine breite Anerkennung durch die Öffentlichkeit angeht.

Was die Karriere angeht, dürfte jemand, der sich gut in der FNZ auskennt gar nicht schlecht aufgestellt sein, insofern, jedenfalls nach meinem Eindruck, da die Konkurrenz nicht allzu groß ist.
Natürlich haben im akademischen Betrieb und bei der Vergabe von Fördermittel bestimmte Fächer oder Forschungsrichtungen ihre Konjunkturen. Das sind aber nicht nur diejenigen, auf die sich dann die Mittel verteilen, sondern eben auch diejenigen, auf die es einen massiven Andrang an Kandidaten gibt, die da gerne Fuß fassen und Karriere machen würden.

Insofern kann man vielleicht feststellen, dass derjenige, der sich um gern um die Rechnungsbücher des hessischen Landgrafen kümmern möchte, sicher nicht die Chance hat im gleichen Maße Mittel dafür einzuwerben, wie Vertreter der Fachrichtungen, auf deren Förderung die Politik gerade besonderen Wert legt.
Dafür hat derjenige der sich über seine Spezialinteresse zu den hessischen Landgrafen zu einem Fachmann für die FNZ entwickelt hat, es möglicherweise aber leichter eine dauerhafte Anstellung im akademischen Betrieb zu finden, weil die Konkurrenz da deutlich niedriger sein dürfte, als in Fachrichtungen, die gerade in Mode sind und Konjunktur haben.

Man muss ja dabei auch sehen, dass eine hohe Frequenz eines bestimmten sehr beliebten Fachbereichs dann eben auch dazu führt, dass er sehr viel mehr Absolventen produziert, die damit keinerlei Karriereaussichten haben, als Leute, die tatsächlich karrieretechnisch durchstarten.


Und dann kommt, was Fördermittel angeht, natürlich noch hinzu, dass Forschungs- und Arbeitsprojekte in den Geschichtswissenschaften natürlich auch durchaus verschiedene Kostenfaktoren darstellen können.
Eine Arbeit über die Rechnungsbücher der Landgrafen von Hessen-Kassel wirbt vielleicht wenig oder keine Fördermittel ein, verursacht aber im Vergleich zu anderen Forschungsvorhaben, die z.B. längere Studienaufenthalte im Ausland notwendig machen, sicherlich auch vergleichsweise geringe Kosten.
Mir kann jedenfalls keiner das Märchen von der Unabhängigkeit der Geisteswissenschaften erzählen. Auch Historiker hängen ihren Mantel in den Wind.
Das kommt sicherlich bei der Wahl von Forschungsthemen, wenn es darum geht, ob Fördermittel abgegriffen werden können vor, aber weniger bei den Ergebnissen, die dabei herumkommen.
 
Die meisten Historiker schaffen es nicht, von einem breiteren Kreis gelesen zu werden. Das liegt auch an exotischen Interessenfeldern Paläographie, Diplomatik, Zeitrechnung und Sphragistik und Numismatik sind weniger gefragt als die Beschäftigung mit Erzähltechniken, Erzähltheorie, Film, Linguistik und sprachlicher Zeichentheorie - Überschneidungen gibt es natürlich auch hier.
Die Beschäftigung mit den Hilfswissenschaften ist ja auch nicht für eine breiteres Publikum gedacht (obgleich sie sehr spannend sein kann), sie ist notwendiges Handwerkszeug zur Erschließung von Quellen. Eben damit dem Nichthistoriker als Endrezepienten eine auf breiter Quellenbasis stehende "Geschichte" "erzählt" werden kann. Im Grunde aber sind Historiker gegenüber der historischen Meisterzählung als übergreifender, linearer Deutung der Geschichte, die klare Ursachen, Fortschritte, Wendepunkte und Zielrichtungen vorgibt, skeptisch.

In Europa ist das geisteswissenschaftliche Studium eher wissenschaftlich orientiert, im anglophonen Raum spielen erzählerische Elemente eine viel stärkere Rolle, das wird dort im Studium viel stärker eingeübt. Bei uns kommt es nicht so darauf an, dass du deine Forschungsergebnisse spannend erzählen kannst (das ist bei uns eher eine Gabe als Lerninhalt), sondern dass sie sauber hergeleitet sind. Im anglophonen Raum spielen erzählerische Elemente, die bei uns als populärwissenschaftlich gelten, eine viel stärkere Rolle. Das ich sollte in Europa in einer Belegarbeit nicht vorkommen, in der populärwissenschaftlichen Literatur ist es mitunter zentraler Bestandteil. Am Ende erfärst du dann mehr über den Autor (und beispielsweise sind Reisen) als über das Sujet.
 
In Europa ist das geisteswissenschaftliche Studium eher wissenschaftlich orientiert, im anglophonen Raum spielen erzählerische Elemente eine viel stärkere Rolle, das wird dort im Studium viel stärker eingeübt. Bei uns kommt es nicht so darauf an, dass du deine Forschungsergebnisse spannend erzählen kannst (das ist bei uns eher eine Gabe als Lerninhalt), sondern dass sie sauber hergeleitet sind. Im anglophonen Raum spielen erzählerische Elemente, die bei uns als populärwissenschaftlich gelten, eine viel stärkere Rolle. Das ich sollte in Europa in einer Belegarbeit nicht vorkommen, in der populärwissenschaftlichen Literatur ist es mitunter zentraler Bestandteil. Am Ende erfärst du dann mehr über den Autor (und beispielsweise sind Reisen) als über das Sujet.
Als Beispiel für teilweise erzählende Forschungsergebnisse/Folgerungen läßt sich meiner Meinung nach "Die Flußkönige" von Cat Jarman anführen.
 
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Bellissima, weil du immer wieder Pferde reitest, die mit der Frage danach, ob die Geschichtswissenschaft nur eine Literaturwissenschaft sei, oder doch mehr als das eigentlich nichts zu tun haben: Historiker seien alle vom Staat bezahlt, an den Unis grassiere der Antisemitismus: Das ist alles etwas kurz gesprungen.

Ich äußere mich jetzt nur zum Thema Antisemitismus. Es hat vor allem in Berlin, aber ich glaube auch an anderen Unis sehr unschöne Szenen gegeben, bis dahin, dass Studierende gegenüber jüdischen Kommilitonen übergriffig wurden und/oder forderten, dass diesen die Studienerlaubnis entzogen würde, weil sie Juden waren. Wie 1933! Es gibt unter den jüdischen Studierenden ein subjektives Unsicherheitsgefühl, weil es einen objektiv offeneren Antisemitismus auch an den Unis gibt. Dieser aber wird, anders als von dir behauptet, nicht von der Masse der Universitätsangehörigen oder Studierenden getrafen, sondern von einer lauten, teilweise* verirrten Minderheit.

Im vorigen Jahr hat die Uni Konstanz eine Studie zum Antsemitismus herausgegeben. In der Gesamtbevölkerung liegt der Antisemitismus bei 18 % (wobei ich persönlich davon ausgehe, dass antisemitische Klischees bei viel mehr Personen wirken, als diesen 18 %). An den Unis liegt der Antisemitismus laut dieser Studie bei 8 %, also niedriger als in der Gesamtbevölkerung. Nun kenne ich die Methodik der Umfrage nicht und weiß nicht, wie offen oder geschlossen die Fragen gestellt waren. Das hat natürlich auch einen Einfluss auf die Beantwortung. Um es mal plump zu skizzieren:
Sind Sie Antisemit? - Da würde die Antwort natürlich bei 99 % bei "nein" liegen.
Aber bei
Was fällt ihnen zum Thema Juden ein? - Würde sicher nach Holocaust, Shoa, Israel bald irgendwann geschäftstüchtig und dergleichen kommen. Also ein antisemitisches Klischee.
Ich weiß wie gesagt nicht, die die Studie der Uni Konstanz aufgebaut war, kann also über deren Qualität keine Aussage machen, nur soviel: Dieser Studie zufolge ist der akademische Antisemitismus niedriger als der Antisemitismus in der Gesamtbevölkerung anzusetzen.

Nun müssen wir uns anschauen, welche Gruppierungen durch Antisemitismus auffallen:
- rechter Antisemitismus
- arabischer und/oder muslimischer Antisemitismus oder Antijudaismus
- christlicher Antijudaismus
- linker Antisemitismus/antikolonialer Antisemitismus

Dann gibt es die "Israelkritik" - wobei es schon interessant ist, dass es Worte wie "Amerikakritik" und "Israelkritik" gibt aber "Hollandkritik" oder "Andorrakritik" noch in keinem Wörterbuch steht.
Interessant ist die Neue Rechte, welche vom "importierten Antisemitismus" spricht, dies aber letztlich nur als Vehikel für die Verbreitung von Islamophobie und/oder Scapegoating nutzt. Eine Abkehr vom Antisemitismus ist damit nicht verbunden.

Der linke und/oder antikoloniale Antisemitismus ist - sofern es sich tatsächlich um Antisemitismus und nicht um Gegnerschaft gegenüber dem Staat Israel bzw. seiner Politik verhält, denn auch Juden wurden schon vorgeworfen, Antisemiten zu sein - der verwirrendste. Denn hier verbünden sich sich selbst als Linke und Antirassisten sehende Personen mit Islamisten, die ja eigentlich ideologisch viel mehr mit den Nazis zu tun haben. Was sie (also die Linken und die Islamisten) verbindet ist der (vermeintlich) antikoloniale Impetus. Und da hört man dann von Personen, die sich selbst als Antirassisten sehen plötzlich ziemlich rassistische Töne! Dass dies ein Irrweg im antikolonialen Kampf ist, ist ziemlich offensichtlich; letztendlich handelt es sich aber bei diesen Personen inner- und außerhalb der Universitäten um eine radikale Minderheit, nur eben, dass radikale Minderheiten oft ein besonderes Sendungsbewusstsein haben. Das sind sicher nicht einmal 1 % der Studierenden, also nicht de 8 % die laut der Studie antisemitisch eingestellt sind, sondern nur einen Bruchteil davon.

Kommen wir zum Thema "Israelkritik" und Antisemitismus. Hier sind verschiedene Dinge zu unterscheiden:
Es gibt Kritik an der rechtsextremen Regierung Israels und ihrer Politik. Das ist kein Antisemitismus.
Es gibt Antisemitismus, der sich sicher hinter einer legitimen oder scheinbar legitimen Kritik am Staat Israel versteckt.
Es gibt Kritik an der Existenz des Staates Israel oder an der israelischen Besatzungspolitik, die nicht antisemitisch motiviert ist, aber unzutreffenderweise des Antisemitismus bezichtigt wird. So haben beispielsweise Ben Cohen und Jerry Greenfield, die Gründer eines bekannten Produkts für den schnellen Konsum, Zutaten von Israelis, die im Gaza-Streifen oder im Westjordanland produzierten, boykottiert. Das wurde ihnen als Antisemitismus ausgelegt. Nun..., sie sind selber bekennend jüdisch.

Wenn "Feminist(inn)en" sich dahin versteigen jüdischen Frauen, die von Anhängern der Hamas oder des Islamischen Dschihad vergewaltigt wurden, ihr Judentum vorzuwerfen und die Vergewaltigung als Selbstermächtigung der unterdrückten Völker der Dritten Welt schönreden, dann sollen sie nie wieder den Spruch "however I dress, whereever I go - yes means yes and no means no!" zitieren! Wer das schönredet, kann sich nicht als "Feminist(in)" bezeichnen, sondern hat sich gründlich verirrt. Diese Leute sollen dann auch ihre Regenbogenfahne bitte jemandem geben, der aufrichtiger für die Werte kämpft, die mit der Regenbogenfahne verbunden sind, als sie.

Man lernt im Übrigen in einem kulturwissenschaftlichen Studium auch, mediale Aufmerksamkeit (hier "linker/antikolonialer Antisemitismus an Hoschschulen") von dem normalen Alltag zu unterscheiden. Die Medien legen den Fokus auf das Besondere, das Außergewöhnliche, eben das Berichtenswerte. Sie legen den Fokus nicht auf die langweilige Masse der Studierenden, die ihren normalen Studienalltag bestreiten, sondern auf die 50 Personen, die in Berlin den Hörsaal besetzen, oder die 200 Personen, die in Harvard auf der Campuswiese einen Protestmarsch machen. Aber die 50 Hörsaalbesetzer bilden genausowenig die 40.000 Studierenden ihrer Universität ab, wie die 200 Protestler auf der Campuswiese die 30.000 Studierenden ihrer Universität abbilden.

*wer über das teilweise bei verirrt stolpert: Ich meine damit Leute, die sich selbt für Antirassisten halten, aber tatsächlich rassistisch agieren/argumentieren/polemisieren.
 
Was bringt Euch Eure Kritik an meiner Sicht?
Die bringt einiges, z.B.:
- Rückfragen nach Belegen für steile Thesen und polemische Einsprengsel (kommt da nix, sind diese offensichtlich Mumpitz)
- Rückfragen zum besseren Verständnis (es wird nicht immer klar, was du meinst)
Aber wie man sieht, behagt dir nicht, dass man dich um Auskunft fragt - das wirkt nun so, als sei dir weniger an einer Diskussion gelegen und stattdessen wäre dir lieber, dass dieser Faden zu deinem Sprachrohr wird (ein eher unkommunikatives Diskussionsverhalten)

Die Belehrung liegt darin, dass Sozial- und Geisteswissenschaften im momentanen Zustand keinen gesellschaftlichen Mehrwert bringen, auch wenn sie das von sich selbst behaupten.
was ist deiner Ansicht nach gesellschaftlicher Mehrwert und wer legt das verbindlich fest?
Nimm nur das Thema Judenfeindschaft:
dazu gibt es eine immense Fülle an Fachliteratur von etlichen Disziplinen.
Auch Historiker hängen ihren Mantel in den Wind. Genauso machen es Theologen, Juristen usw. Das ist die normale, anerzogene Gruppendynamik. Erst steigt man in das Boot des demokratischen Populismus, dann steigt man in das Boot des Linkspopulismus und am Ende steigt man in das Boot des Rechtspopulismus. Parallelen in der Geschichte gibt es dafür zur Genüge.
huiuiui... dazu sind wir alle erzogen worden, also auch ich und du? Wenn ich deinen überwiegend unbelegten Thesen nicht vertraue, in welchem Boot befinde ich mich dann?
 
@Shinigami @El Quijote Die Gegenkritik wird akzeptiert. @dekumatland Nein.

Ich habe Sprach- und Literaturwissenschaften und nebenher ein bisschen Geschichte studiert. Was mir auffiel, ist, dass man in den Sprachwissenschaften historisch gewachsene kulturelle Unterschiede und Identitäten weit weniger als "Konstrukte" ansieht. Der Grund liegt wohl darin, dass in den Sprachwissenschaften weniger deutschsprachige Dozenten lehren. Die Begegnung mit dem "Fremden" ist hier viel natürlicher, auch in den Literaturwissenschaften.
"Geschichte" ist natürlich "Konstrukt", aber nicht alles, was historisch gewachsen ist, ist Folge der Konstruktion. Es gibt auch eine Identität abseits der Zuweisung. Wenn sich Italiener z.B. mit den Händen unterhalten, hat das nichts damit zu tun, das sie sich über die Handsprache als "Italiener" definieren. Es ist einfach Teil einer Identität, ein Wesenskern im Dasein einer Gruppe von Menschen. Bestimmte kulturelle Merkmale können nicht primär als gesellschaftliche Konstrukte verstanden werden, sondern sind intrinsischer Teil einer Identität, die geschichtlich gewachsen ist, ohne Teil irgendeiner Selbstdefinition zu sein.

Kurz gesagt: Die Geschichtswissenschaften haben zumindest in der Tendenz ein Problem mit "Identität", die Sprach- und Literaturwissenschaften eher nicht. Die Geschichtswissenschaften haben hauptsächlich politische Identitäten im Auge, die in Halb Europa mehr oder wenig "konstruiert" sind, die Sprachwissenschaften kulturelle, deren Ursprünge sehr viel weiter zurückreichen als es selbst Historikern bewusst ist. Das ist zumindest meine Beobachtung. Die Literaturwissenschaften beschäftigen sich nicht nur mit Literatur, sondern ebenso mit Mentalitäten. Literatur und Sprache kann man ohne die Werte, Vorstellungen und Empfindungen, die sie prägen, nicht richtig verstehen.
 
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Ich habe Sprach- und Literaturwissenschaften und nebenher ein bisschen Geschichte studiert. Was mir auffiel, ist, dass man in den Sprachwissenschaften historisch gewachsene kulturelle Unterschiede und Identitäten weit weniger als "Konstrukte" ansieht. Der Grund liegt wohl darin, dass in den Sprachwissenschaften weniger deutschsprachige Dozenten lehren.
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Die Begegnung mit dem "Fremden" ist hier viel natürlicher, auch in den Literaturwissenschaften.
"Geschichte" ist natürlich "Konstrukt", aber nicht alles, was historisch gewachsen ist, ist Folge der Konstruktion. Es gibt auch eine Identität abseits der Zuweisung. Wenn sich Italiener z.B. mit den Händen unterhalten, hat das nichts damit zu tun, das sie sich über die Handsprache als "Italiener" definieren. Es ist einfach Teil einer Identität, ein Wesenskern im Dasein einer Gruppe von Menschen. Bestimmte kulturelle Merkmale können nicht primär als gesellschaftliche Konstrukte verstanden werden, sondern sind intrinsischer Teil einer Identität, die geschichtlich gewachsen ist, ohne Teil irgendeiner Selbstdefinition zu sein.

Kurz gesagt: Die Geschichtswissenschaften haben zumindest in der Tendenz ein Problem mit "Identität", die Sprach- und Literaturwissenschaften eher nicht. Die Geschichtswissenschaften haben hauptsächlich politische Identitäten im Auge, die in Halb Europa mehr oder wenig "konstruiert" sind, die Sprachwissenschaften kulturelle, deren Ursprünge sehr viel weiter zurückreichen als es selbst Historikern bewusst ist. Das ist zumindest meine Beobachtung. Die Literaturwissenschaften beschäftigen sich nicht nur mit Literatur, sondern ebenso mit Mentalitäten. Literatur und Sprache kann man ohne die Werte, Vorstellungen und Empfindungen, die sie prägen, nicht richtig verstehen.
Die Opposition, die du da zwischen Philologie und Geschichte aufmachst, entspricht absolut nicht meiner Erfahrung.
Dekonstruktivismus ist doch ein integraler Bestandteil der Literaturtheorie. Zudem haben gefühlt 75 % der Historiker (auch) eine sprachwissenschaftliche Ausbildung und 75 % der Philologen auch eine historische Ausbildung. Du redest also über 150 % dieselben Personen (kleiner Scherz am Rande), die du einerseits als Philologen positiv heraushebst, andererseits als Historiker für dumm verkaufst.
 
Der Grund liegt wohl darin, dass in den Sprachwissenschaften weniger deutschsprachige Dozenten lehren. Die Begegnung mit dem "Fremden" ist hier viel natürlicher, auch in den Literaturwissenschaften.
"Geschichte" ist natürlich "Konstrukt", aber nicht alles, was historisch gewachsen ist, ist Folge der Konstruktion.
Ich würde behaupten, der fundamentale Unterschied ist, dass sich Sprachwissenschaften eben mit etwas befassen, dass tatsächlich historisch gewachsen ist (Sprachen eben), während dass in der Geschichtswissenschaft nut teilweise der Fall ist.
Sicherlich ist die Vergangenheit historisch gewachsen, aber die Vergangenheit ist nur über Quellen erschließbar, die mal mehr mal weniger Deutungsversuche ihrer Urheber wiederspiegeln, was bedenigt, dass in der Geschichtswissenschaft die Konstruktion schon immanent im Untersuchungsgegenstand vorhanden ist.
 
Das Thema "Film" gehört selbstverständlich zu den Literatur- und Sprachwissenschaften. Filme funktionieren wie ERZÄHLUNGEN. Der Film kennt genauso die allwissende, auktoriale, personale, neutrale und die Ich-Perspektive, die gedehnte Zeit und die geraffte Zeit. Das Wort wird lediglich durch das Bild ersetzt. Solche Dinge interessieren Historiker nicht, es sei denn sie studieren z.B. Propagandafilme.
Selbstverständlich kann ein Spielfilm als historische Quelle analysiert werden. Wie bei schriftlichen Dokumenten oder Fotografien lassen sich auch hier die klassischen W-Fragen (Wer? Was? Wann? Wo? Warum? Wie?) anwenden. Entscheidend ist immer die Fragestellung, mit der man an eine Quelle herantritt – unabhängig davon, ob es sich um einen Text, ein Bild oder einen Film handelt.
Warum schreibst Du, wenn kein inhaltlicher Widerspruch existiert? Dass Historiker, die sich mit der Geschichte vor 1900/1920 auseinandersetzen, keinen Bezug zum "Film" bzw. zur Filmgeschichte haben, dürfte einigermaßen einleuchten.
Warum sollten Historiker die sich mit der Zeit von 1900/1920 sich nicht mit Film als Quelle auseinandersetzten das erschliesst sich mir nicht. Egal muss ich nicht verstehen - Hauptsache du verstehst es.
 
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@El Quijote
Die Opposition, die du da zwischen Philologie und Geschichte aufmachst, entspricht absolut nicht meiner Erfahrung.
Dekonstruktivismus ist doch ein integraler Bestandteil der Literaturtheorie. Zudem haben gefühlt 75 % der Historiker (auch) eine sprachwissenschaftliche Ausbildung und 75 % der Philologen auch eine historische Ausbildung. Du redest also über 150 % dieselben Personen (kleiner Scherz am Rande), die du einerseits als Philologen positiv heraushebst, andererseits als Historiker für dumm verkaufst.

Keineswegs. Du vergisst, dass die meisten Lehrenden im Bereich Sprache, erst einmal damit beschäftigt sind, den Studierenden die jeweilige Sprache zu vermitteln. Bei dieser Gelegenheit lernt man kulturelle Unterschiede kennen. An sprachwissenschaftlichen Fakultäten tummeln sich eine ganze Menge Sprachlehrer mit Migrationshintergrund, die andere Perspektiven einnehmen als "Historiker" oder "Geisteswissenschaftler". Die Erfahrung kulturellen Unterschieds ist viel natürlicher und auch unbedingt erwünscht. Die Vorstellung, dass jeder in diesen Fächern publiziert oder sich als Philologie betätigt, entspricht nur zu gefühlten 40-60% den Tatsachen. Statt klassischer Philologie spielen andere Dinge eine oft wichtigere Rolle: Linguistik, Phonetik, Sprachtheorie, Aussprache usw. Das sind nicht die Dinge, mit denen sich Historiker normalerweise beschäftigen. Die meisten Studierenden einer Sprache werden später keine Texte edieren, sondern sich ihrerseits als Übersetzer und Sprachlehrer betätigen. Dazu gehören andere Kompetenzen und Sichtweisen als bei Historikern.

Hat natürlich nichts direkt mit Literaturwissenschaft zu tun, die auch nur einen Teil des Segments ausmacht.

Dass Sprache eine "Konstrukt" ist, hängt mit dem arbiträren Charakter des Wortes zusammen, das letztlich halt auch kulturell bedingt ist. Die damit verbundene Kultur ist nicht Bestandteil ununterbrochener Selbstefinitionen. Sie könnte ich auf dieser Basis auch nicht existieren.

Wie unsinnig diese Betrachtungsweise von Sprache ist, zeigt das Gendern. Hat jemand etwas von der Feststellung, dass irgendwann einmal 2000 v. Chr. grammatikalische Geschlechter von Priestern des Animsismus tatsächlich konstruiert wurden, um Männer von Frauen und Dingen zu trennen?
Wenn wir den Dienstag nach Ziu benennen, den wednesday nach Wotan und den Freitag nach Freya liegt dem kein konstruktivistischer Ansatz oder eine ideologische Absicht zu Grunde. Oder doch? Ja, könnte man sagen, weil irgendwelche Häuptlinge in grauer Vorzeit beschlossen, die Wochentage nach ihren Göttern zu benennen. Tolle Erkenntnis!

Es ist die kulturelle Tradition, die unbewusste Übernahme der Konvention. Dekonstruktivisten liegen eben nicht in allem richtig. Dekonstruktivisten betrachten Bedeutung nicht als etwas, das in den Worten oder Texten selbst liegt, sondern als etwas, das von der Leserschaft oder Interpretierten konstruiert wird. Das ist nur halbrichtig, weil Sprache ganz einfach nicht Gegenstand ununterbrochener Selbstdefinitionen und Zuweisungen ist. Ein wesentliches Problem: Sprache hat nur z.T. wirkliche Bedeutung bzw. Logik. Sie ist ein verbindliches Konventionssystem basierend auf Zeichen. Kein kulturelles System ist 100%iges Resultat von zweckrationalem "Willen und Design".

Kultur beruht auf Übernahme. Sprachwissenschaftler wissen das. Historiker? Na ja ...
 
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@ursi Warum sollten Historiker die sich mit der Zeit von 1900/1920 sich nicht mit Film als Quelle auseinandersetzten entzieht sich mir. Egal muss ich nicht verstehen - Hauptsache du verstehst es.

Warum nicht? Weil es davor noch keinen Film gab. Wenn sich einer Historiker privat abseits seiner Fachspezialisierung damit beschäftigt, ist das eine andere Sache. Nur wird das in aller Regeln nicht der Fall sein. Nehme nicht an, dass unter den Orientalisten allzu viele Spezialisten für Leni-Riefenstahlfilme sind. Vielleicht kennst Du ja zufällig Altgermanisten?
 
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Für Literaturwissenschaft sicherlich. Für die Untersuchung einzelner Sprachen, wenn es um die gewachsene Grammatik, den Wortschatz etc. geht, aber wahrscheinlich sehr viel weniger.
Im Diskussionskontext: Ausgangspunkt: Ist Geschichtswissenschaft bloß Literaturwissenschaft.
Aussage Bellissima: Die Philologie ist viel weniger konstruktivistisch als die Geschichtswissenschaft.
Erklärung Shinigami: Ja, weil eben historische Quellen als Ausgangspunkt viel konsturierter sind (was eigentlich nur für narrative Quellen bzw. Traditionsquellen gilt, für nichtnarrative Überrestquellen nicht).

Wir konstruieren Sprache jeden Tag. Jeder Satz, den wir schreiben ist, ein Konstrukt. Sprachveränderung geschieht immer im Spannungsfeld von Sprachökonomisierung und Notwendigkeit zur Präzision. Jugendsprachliche Deviationen (das ist keine Bewertung) sind dabei noch unberücksichtigt. Aber wenn wir Jugendsprache betrachten, so ist diese auch ein Mittel der Selbstdarstellung. Also natürlich ein Konstrukt. Jeder von uns ist fähig, Neologismen zu kreieren, die sofort vom Rezipienten dekonstruiert und verstanden werden können.

Sprache ist nicht natürlich vorgegeben. Es gibt zwar die These, dass es eine Grundgrammatik gebe, die dem Menschen mitgegeben sei, die man bei Kleinkindern beobachten könne, aber letztlich ist Grammatik ein Konstrukt aus einer historischen Entwicklung heraus. Wobei erstaunlich ist, dass etwa die indoeuropäische Grammatik (für andere Sprachfamilien kann ich mangels Unkenntnis nicht sprechen) offensichtlich schon lange vor der Schriftlichkeit recht kompliziert war, sich aber immer weiter vereinfacht. So haben die slawischen Sprachen oft noch sieben oder acht Kasus, mit Ausnahme des Mazedonischen und Bulgarischen, die aber Artikel entwickelt haben, die den übrigen slawischen Sprachen abgehen, das lateinische hatte fünf Kasus, die romanischen Sprachen nur noch drei (Nominativ, Dativ, Akkusativ bzw. complemento directo und indirecto), die man aber sprachpraktisch kaum eine Rolle spielen (gut, das ist eine Behauptung, die ich selbst sofort challengen würde...)

Ich schrieb im vorherigen Absatz, Sprache sei nicht natürlich vorgegeben. Es gibt natürlich natürliche Vorbilder für Sprache, die wir in Onomoatopoesien (Lautmalereien) umsetzen (krähen, krächzen, rauschen sind Onomatopoetika, das Wort bildet das Geräusch nach. welches es bezeichnet) und natürlich sprachliche Universalismen, die sich selbst bis in die Fachsprache durchsetzen, wie die Mammographie. Diese sprachlichen Universalismen beruhen auf der Lallsprache von Babys und umfassen die ersten Geräusche von Babys, die zunächst noch unartikuliert sind, also etwa das "mə...mə...mə" von Babys, was dann irgendwann zu Mama (und in der Interpretation der Erwachsenen dann zu 'Mutter' oder 'Brust') wird und etwas später das plosivere "pə...pə...pə" oder "tə....tə....tə", das dann irgendwann zu Papa oder Tata wird (und analog zu "mama" = 'Mutter/Brust', dann für die zweite wichtige Bezugsperson, eben den 'Vater' herangezogen wird) . Aber das sind Ausnahmen. Grundzätzlich ist das sprachliche Zeichen arbiträr. Wir wissen dass [feɐnze:ɐ] 'Fernseher' ist, weil wir das gelernt haben, nicht weil das Wort natürlich ist. Und während du beim Hören von [feɐnze:ɐ] an den großen Flachbildschrim denkst, denkt dein Opa an ein 45-Zoll-Röhrengerät. Gleichzeitig kannst du das Wort aber auch in seine Bestandteile "fern" und "Seher" bzw. "sehen" zerlegen (und stellst dann fest, dass der Begriff Fernseher eigentlich "falsch" ist, denn der Fernseher sieht ja nix. Eigentlich müsste ein Fernseher eine männliche Person mit guten Augen sein....

Also natürlich ist Sprache ein Konstrukt!
 
Keineswegs. Du vergisst, dass die meisten Lehrenden im Bereich Sprache, erst einmal damit beschäftigt sind, den Studierenden die jeweilige Sprache zu vermitteln. Bei dieser Gelegenheit lernt man kulturelle Unterschiede kennen. An sprachwissenschaftlichen Fakultäten tummeln sich eine ganze Menge Sprachlehrer mit Migrationshintergrund, die andere Perspektiven einnehmen als "Historiker" oder "Geisteswissenschaftler".
Ich weiß nicht, warum du die Begriffe "Historiker" und "Geisteswissenschaftler" in Anführungszeichen setzt. Wenn man eine Berufsbezeichnung in Anführungszeichen setzt, bedeutet das, dass man der gemeinten Person die Berechtigung, diese Berufsbezeichnung zu führen, abspricht.
Wenn ich also schreibe 2021 meldete sich Vladimir Putin mit einem Papier als "Historiker", dann weiß jeder sofort, dass dieses Papier eben alles andere als eine fachwissenschaftliche Expertise ist.

Auch die Dozenten der sprachpraktischen Einheiten im Universitätsstudium haben i.d.R. eine Dissertation bzw. sind gerade dabei zu promovieren. Manchmal sind sie Muttersprachler, die aus dem Ausland an eine deutsche Universität kommen, entweder um in Deutschland zu studieren oder nach dem Studium, manchmal sind sie aber auch in Deutschland bilingual aufgewachsen und haben demenstprechend ein deutsches Studium. Die Opposition, die du hier also aufmachst, greift nicht. Sie ist nicht lebensnah.

Die Erfahrung kulturellen Unterschieds ist viel natürlicher und auch unbedingt erwünscht.
Aber das ist gerade keine Opposition zwischen Geschichte und Sprachwissenschaft. Je tiefer wir in die Geschichte zurückgehen, desto fremder werden die Kulturen. Deutsche vor 100 Jahren sind den meisten heute fremder, als der britische Kommilitoe oder der französische Brieffreund.

Vor allem aber übersiehst du, dass ein Geschichtsstudium sich nicht notwendigerweise nur mit der eigenen Geschichte befasst, die Tendenz sich mit der eigenen - also deutschen - Geschichte zu befassen, eigentlich sogar erst ab dem 19. Jhdt. überwiegt. Historiker müssen Englisch und eine weitere moderne Fremdsprache können (früher war das meist zwangsweise Französisch oder Russisch), außerdem Latein und Griechisch (Griechisch war schon zu meinen Studienzeiten nicht mehr verpflichtend, Latein ist wohl auch in manchen Bundesländern abgeschafft. Aber natürlich ist Sprache als wesentlicher Träger historischer Überlieferung wichtig und wer ernsthaft als Historiker arbeiten will (Geschichtslehrer seien da mal ausgenommen), der muss natürlich Sprachen können, um Quellen lesen zu können.

Die Opposition vom Historiker, der in seinem Elfenbeiturm sitzt und nur Deutsch (und Latein) kann, und dem weltgewandten Philologen ist doch genau das, was du so vehement ablehnst: ein Konstrukt. Erst mal sind auch Historiker ganz normale Menschen, die gerne im Paris oder Rom im Café sitzen, den schottischen Westhighlandway entlang wandern, in London zur Tea Time der Reihenfolge nach ihr Gurkensandwich, Scones mit Erdbeermarmelade und Plotted Cream und schließlich Sügebäck genießen oder in Sevilla frisch gepressten Orangensaft mit Blick auf die Giralda trinken.


Die Vorstellung, dass jeder in diesen Fächern publiziert oder sich als Philologie betätigt, entspricht nur zu gefühlten 40-60% den Tatsachen. Statt klassischer Philologie spielen andere Dinge eine oft wichtigere Rolle: Linguistik, Phonetik, Sprachtheorie, Aussprache usw. Das sind nicht die Dinge, mit denen sich Historiker normalerweise beschäftigen. Die meisten Studierenden einer Sprache werden später keine Texte edieren, sondern sich ihrerseits als Übersetzer und Sprachlehrer betätigen. Dazu gehören andere Kompetenzen und Sichtweisen als bei Historikern.
Deshalb sind Philologie und Geschichtswissenschaft ja auch unterschiedliche Fächer, weil sie eben nicht kongruent sind. sonst könnten wir tatsächlich eines von beiden einstampfen. Aber sie berühren sich eben in vielen Punkten und decken sich. Und, wie gesagt, 75 % der Historiker sind Philologen, 75 % der Philologen sind Historiker.
Wenn ich als Historiker mit einer Quelle arbeite, muss ich natürlich Kenntnisse über die Sprache haben. Selbst wenn es eine deutsche Quelle ist, die vordergründig neuhochdeutsch daherkommt, kann es sein, dass ein Wort sich seitdem total verändert hat. EIn Beispiel, dass ich gerne verwende ist billig.
Um 1800 bedeutet billig 'gerecht' ("das ist recht und billig", "das kann ich nicht billigen")
Im 20. Jhdt. bedeutet billig 'preiswert' - (gewissermaßen ein gerechtfertigter Preis)
Ende des 20. Jhdts. sinkt billig semantisch ab. Es bedeutet zwar nach wie vor auch 'preiswert', aber eben auch 'schrottig', 'wertlos'.

Ist das jetzt Geschichte oder Sprachwissenschaft?!

Zu mehr habe ich jetzt keine Zeit, ich muss zum Termin.
 
Sprache ist zu 95% eine Konvention. Wenn A sich mit B unterhält und das Wort "Rübe" verwendet, konstruiert B daraus das Bild einer Rübe. Beide haben ungefähr dasselbe "Konzept" einer Rübe in ihrem Bildlichen und sprachlichen "Lexikon" abgespeichtert.

Die Vorstellungen einer Rübe variieren jedoch zwischen A und B.

B verbindet mit "Rübe" z.B. das umganssprachlich verwendete Wort für "Kopf". Durch ständige Sprachinnovation kann es dazu kommen, dass das Wort "Rübe" nach 200 Jahren das Wort "Kopf" ersetzt. In gewisser Weise kann man also mit einiger Berechtigung sagen, dass Sprache konstruktivistisch ist. Es wäre aber vefehlt, das Kulturphänomen Sprache als einen Konstruktivismus im Sinne einer aufgeklärten, d.h. zweckrationalen Weltauffassung anzusehen. B hat nicht die Absicht, den "Kopf" durch die "Rübe" zu ersetzen (der "Kopf" ist im Übrigen in seiner Urbedeutung ein Trinkgefäß). Sprache entsteht ganz zum überwiegenden Teil durch Gewohnheit. Der konstruierte Anteil bewirkt zwar Immovationen, ist aber nicht wesentliches Merkmal der Sprache. Ähnlich ist es mit einer Kultur.

Kultur wird nicht "gemacht". Es gibt auch Gegenbeispiele. Z.B. hat man in der Französischen Revolution eigene Tage eingeführt und eine eigene Zeitrechnung. Ist aber gescheitert, weil die Gewohneit stärker war. Man kann es auch anders formulieren: Sprache ist das Bewährte. Sie ist Summe von Konstruktionen/Innovationen, ohne dass die Innovation/Konstruktion ihren alltäglichen Wesenskern ausmacht. Menschen orientierten sich am Gewohnten und Bewährten, weil sie den Alltag bewältigen müssen. Würde jeder Mensch im Sinne der Konstruktivisten die Welt betrachten, käme dies den mentalen Grundlagen des Klimaklebertums nahe (sind ja nicht selten Professorenkinder!). Unmd das meine ich noch nicht einmal polemisch. Gendern ist ein Konstrukt. Männliches und weibliches Geschlecht in der Grammatik sind Gewohnheit und höchstens in ganz entfernten Sinne ein Konstrukt.

Sprache ist zu 5% Konstrukt und zu 95% Konvention. Die Kontruktion bewirkt die Innovation. Dass alles Konstruktion sei, ist nicht "falsch", aber eben auch Gegenstand unterschiedlicher Wahrnehmungsweisen.
 
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@El Quijote Auch die Dozenten der sprachpraktischen Einheiten im Universitätsstudium haben i.d.R. eine Dissertation bzw. sind gerade dabei zu promovieren.

Das ist in den Geschichtswissenschaften der Fall. In den Sprachwissenschaften wäre ich zumindest vorsichtig. Aus dem einfachen Grund, weil Promovierte für den normalen Sprachunterricht zu teuer kämen. Jedenfalls ist der Anteil der Promovierten an klassischen Sprachuniversitäten durchaus geringer als unter Historikern oder Altphilologen. Es wird auch tendenziell weniger publiziert. Ist ja auch irgendwo logisch. Als Sprachlehrer findest Du eher eine Arbeit als ein Historiker mit "Master". Ist im Übrigen auch in den Naturwissenschaften nicht anders. Mit dem "Meister" kommt man dort weiter. Der Marktwert ist höher. Das Sprachstudium ist für die meisten ein Lernstudium. Im Geschichtssudium wird hingegen weit mehr geschrieben. Der Historiker rezipiert mehr, der Student der Sprache liest hingegen mehr.

Ich setze "Historiker" und "Geisteswissenschaftler" ganz bewusst in Anführungszeichen, weil es sich um eigene Zünfte handelt, die interdisziplinär arbeiten, ohne dass sie ihre eigenen Vorstellungen preisgeben. Literaturwissenschaftler zitieren z.B. anders als Historiker, sie stellen andere Fragen und gehen in anderer Weise an wissenschaftliche Probleme heran. Die Prüfungen und Anforderungen sind schon anders.
Der Historiker wird das Fach "Sprach- und Literaturwissenschaft" immer zuerst aus der Perspektive des Geschichtswissenschaftlers wahrnehmen. Daher die Anführungszeichen. Auch C 1 Niveau macht jemanden noch lange nicht zum umfassend ausgebildeten Experten in einer Sprache. Mal ehrlich: Kennst Du nicht-muttersprachliche Historiker, die die französische Sprache einwandfrei pronunzieren?

Der deutsche Historiker, der eine französische Mutter hat und vier sprachen fleißend beherrscht, ist gewiss Realität. Er wird aber in aller Regel nicht im Pariser Norden seine Zelte aufschlagen oder in Berliner Problemvierteln. Wer Sprachen gelehrt und Sprachforschungen vor Ort betrieben hat, kennt Menschen, mit denen ein normaler Akademiker normalerweise nur am Rande zu tun hat. Das verstehe ich unter Erfahrung des "Fremden". Köche, Bauarbeiter und Spediteure sind unter Sprachstudenten an Unis nicht Ungewöhnliches. Aber bitteschön: Wer lernt denn aus dieser Gruppe "Geschichte"? Fremd ist nicht zwingend derjenige, der bloß ein andere Sprache benutzt oder 60 Jahre älter ist. Es ist eine Kategorie, die sich der alltäglichen Erfahrung verschließt. Es gibt eben auch Dinge, die für einen Historiker nicht in den Rahmen des Gewohnten passen. Die Horizonte bleiben andere. Deshalb die Anführungszeichen.
 
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Ich setze "Historiker" und "Geisteswissenschaftler" ganz bewusst in Anführungszeichen, weil es sich um eigene Zünfte handelt, die interdisziplinär arbeiten, ohne dass sie ihre eigenen Vorstellungen preisgeben.
Zu den geisteswissenschaftlichen Disziplinen werden die klassischen Fächer der Sprach- und Literaturwissenschaften (Germanistik, Anglistik, Romanistik, Gräzistik,
Latinistik etc.), die Pädagogik, die Geschichtswissenschaften, die Ethnologie sowie die Medien-, Kunst-, Theater- und Musikwissenschaften gezählt.
aus https://www.bundestag.de/resource/blob/419310/3c89d93d4ad812085221c6c5441b39e4/WD-8-175-06-pdf.pdf zitiert ;)
Es schadet selten, sich Klarheit über die verwendeten Begriffe zu verschaffen.
 
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