Ich denke jetzt machst du es dir ein Bisschen einfach.Müssen die "Humanities" in hohem Ansehen stehen, wenn z.B. der Antisemitismus an Universitäten gedeiht? Müssen sie nicht. Das müssen sie erst recht nicht, wenn bedacht wird, welcher Aufwand in desselben Sozial- und Geisteswissenschaften betrieben wurde, um derartige Formen der Menschenfeindlichkeit zu bekämpfen. Selbstkritisches hört man selten. Der jetzige "Tsunami des Antisemitismus" wäre nicht möglich gewesen, wenn sich Vertreter der Humanities, darunter sicherlich auch Geschichtswissenschaftler, nicht jahrzehntelang als Lieferanten bequemer Wahrheiten verstanden hätten. Anders kann ich mit jedenfalls diese Fehlentwicklung nicht erklären. Abschweifen vom Thema? Nein.
Zum einen gibt es mitunter eine sehr große Differenz zwischen dem, was in der Wissenschaft diskutiert wird und zwischen dem, was seinen Weg in populäre Diskurse findet, was mitunter einfach daran liegt, dass sich ein Großteil der Bevölkerung eben einfach nicht für wissenschaftliche Diskurse und Erkenntnisse interessiert, zum Teil liegt es übrigens auch an der Unterfinanzierung des Bildungssystems, dass zum Teil mit seit Jahrzehnte veralteten Materialien arbeitet.
Zum anderen: Was hat persönliches Fehlverhalten des Einzelnen mit Wissenschaft zu tun.
Das ist wieder die bürgerliche Vorstellung ein solide Bildung würde in irgendeiner Form vor politischer Radikalisierung schützen. Die Geschichte lehrt uns aber eigentlich, dass das nicht der Fall ist.
Man schaue sich exemplarisch die Funktionseliten des NS-Staates an, dann wird man feststellen, dass da eine Menge gut situiertes Bildungsbürgertum vertreten war.
Historiker werden vom Zeitgeist korrumpiert. Aber ich würde meinen, in weniger starkem Umfang vom aktuellem Zeigteist, als von dem Zeitgeist der herrschte, als sie ihr Studium absolviert haben, weil das massiven Einfluss auf ihre Ausbildung hatte und das wirkt nach.Warum sollen Historiker nicht vom Zeitgeist korrumpiert werden können?
Oder mal anders ausgedrückt: Hat nicht der Geisteswissenschaftler einen Karrierevorteil bzw. eine Chance auf höhere gesellschaftliche Anerkennung, der in politisch bequeme Schemata passt, als derjenige, der sich um den Landgrafen von Hessen-Kassel kümmert?
Inwiefern gesellschaftliche Anerkennung? Da die meisten Historiker dem Großteil der Gesellschaft Zeit ihres Wirkens ziemlich unbekannt beleiben, sehe ich da nicht viel gesellschaftliche Anerkennung, jedenfalls was eine breite Anerkennung durch die Öffentlichkeit angeht.
Was die Karriere angeht, dürfte jemand, der sich gut in der FNZ auskennt gar nicht schlecht aufgestellt sein, insofern, jedenfalls nach meinem Eindruck, da die Konkurrenz nicht allzu groß ist.
Natürlich haben im akademischen Betrieb und bei der Vergabe von Fördermittel bestimmte Fächer oder Forschungsrichtungen ihre Konjunkturen. Das sind aber nicht nur diejenigen, auf die sich dann die Mittel verteilen, sondern eben auch diejenigen, auf die es einen massiven Andrang an Kandidaten gibt, die da gerne Fuß fassen und Karriere machen würden.
Insofern kann man vielleicht feststellen, dass derjenige, der sich um gern um die Rechnungsbücher des hessischen Landgrafen kümmern möchte, sicher nicht die Chance hat im gleichen Maße Mittel dafür einzuwerben, wie Vertreter der Fachrichtungen, auf deren Förderung die Politik gerade besonderen Wert legt.
Dafür hat derjenige der sich über seine Spezialinteresse zu den hessischen Landgrafen zu einem Fachmann für die FNZ entwickelt hat, es möglicherweise aber leichter eine dauerhafte Anstellung im akademischen Betrieb zu finden, weil die Konkurrenz da deutlich niedriger sein dürfte, als in Fachrichtungen, die gerade in Mode sind und Konjunktur haben.
Man muss ja dabei auch sehen, dass eine hohe Frequenz eines bestimmten sehr beliebten Fachbereichs dann eben auch dazu führt, dass er sehr viel mehr Absolventen produziert, die damit keinerlei Karriereaussichten haben, als Leute, die tatsächlich karrieretechnisch durchstarten.
Und dann kommt, was Fördermittel angeht, natürlich noch hinzu, dass Forschungs- und Arbeitsprojekte in den Geschichtswissenschaften natürlich auch durchaus verschiedene Kostenfaktoren darstellen können.
Eine Arbeit über die Rechnungsbücher der Landgrafen von Hessen-Kassel wirbt vielleicht wenig oder keine Fördermittel ein, verursacht aber im Vergleich zu anderen Forschungsvorhaben, die z.B. längere Studienaufenthalte im Ausland notwendig machen, sicherlich auch vergleichsweise geringe Kosten.
Das kommt sicherlich bei der Wahl von Forschungsthemen, wenn es darum geht, ob Fördermittel abgegriffen werden können vor, aber weniger bei den Ergebnissen, die dabei herumkommen.Mir kann jedenfalls keiner das Märchen von der Unabhängigkeit der Geisteswissenschaften erzählen. Auch Historiker hängen ihren Mantel in den Wind.