Das "Aussterben" des Neandertalers wird immer wieder in den Zusammenhang mit dem Auftauchen des "anatomisch mordernen Menschen" gestellt und immer wieder auch als "Verdrängung" interpretiert. In unserer Diskussion ist ja auch schon die Theorie vertreten worden, dass Neandertaler nicht friedlich ausgestorben sind, sondern von "uns" ausgerottet wurden. Im Netz habe ich sogar schon die Theorie gefunden, dass der "Sapiens" (ich nenne ihn der Einfachheit halber so, obwohl ich die Bezeichnung für falsch halte) den Neandertaler als Beute betrachtet und gefressen habe.
An solchen Szenarien zweifele ich. Der Prozess, den Spencer und Darwin als "Survival of the fittest" bezeichnet haben, spielte sich praktisch nie in Form eine direkten Konfrontation ab. Gerade bezogen auf Neandertaler und Sapiens halte ich solche direkten Konfrontationen für besonders unwahrscheinlich, da sich diese beiden Gruppen zu ähnlich waren - sowohl was ihr Aussehen als auch was ihre Lebensweise betraf. Es erscheint mir fraglich, ob die beiden Gruppen im Kontakt miteinander überhaupt ein Gefühl von "Andersartigkeit" gehabt haben. Wir wissen auch von späteren Gesellschaften mit niedrigem "Organisationsgrad", dass Kontakte weniger von ethnischen Unterschieden als vielmehr von gemeinsamen Interessen geprägt waren. Archäologisch lässt sich nichts finden, woraus man ableiten könnte, dass die Sapiens anders gelebt oder irgendwelche "Überlebensvorteile" gegenüber dem Neandertaler gehabt hätten.
Aus meiner Sicht spricht deshalb nichts für aktive Verdrängung. Es müssen also andere Faktoren gewesen sein, die zum Verschwinden des Neandertalers geführt haben. Ich vermute, dass die Frage - wenn überhaupt - nur über die Genetik irgendwann zu beantworten sein wird.
Ich entwerfe mal ein Szenario, das ich für möglich halte: Ein Unterschied zwischen Sapiens und Neandertalern lag darin, dass der Sapiens "fruchtbarer" war. Er bekam mehr Nachwuchs und breitete sich schneller aus. Folge: Mit fortschreitender Zeit stieg die Wahrscheinlichkeit, dass Sapiens als Paarungspartner andere Sapiens fanden. Gleichzeitig stieg aber auch die Wahrscheinlichkeit, dass auch Neandertaler als Paarungspartner eher Sapiens fanden. Ohne jetzt wieder in die Genetik abschweifen zu wollen, würde das bedeuten, dass die Neandertaler mehr und mehr in der Sapienspopulation aufgingen. Das würde heißen, dass von "Aussterben" eigentlich gar nicht die Rede sein kann.
Alternativ: Wenn die Theorie der Berner Forscher richtig ist und es starke Paarungshemmnisse gab (z.B. niedrige Fruchtbarkeitswahrscheinlichkeit, weniger lebensfähige oder nicht zeugungsfähige Hybriden), muss die Zahl der Neandertaler wegen der "durch die Umstände erzwungenen falschen Partnerwahl" immer stärker gesunken sein. Das wäre dann eine Form von Aussterben.
Leider haben wir viel zu wenig Informationen, um hier Aufschluss zu zu bekommen. Deshalb hatte ich auch weiter oben der Aussage widersprochen, dass uns "genaue" demografische Erkenntnisse fehlen. Wir haben in Wahrheit gar keine demografischen Erkenntnisse: Wie viele Neandertaler und Sapiens lebten eigentlich in Europa und Asien? Wo genau? Wie alt wurden Neandertaler und Sapiens im Durchschnitt? Wie viele Nachkommen hatten sie jeweils durchschnittlich? Wie hoch war die Kindersterblichkeit? Lebten sie in "Paarbeziehungen" oder gab es "Vielweiberei"?
Um den Versuch zu machen, ein mögliches Missverständnis auszuräumen, erlaube ich mir zum Abschluss doch noch mal einen Ausflug in die Genetik:
Das verstehe ich nicht. Ob wir von einem Gen sprechen oder von einer seiner möglichen Ausprägungen: Gemeint ist ein Code in einem DNA-Abschnitt, der sich an irgendeiner Stelle auf einem Chromosom (oder der mtDNA) befindet.
Ob wir vom Neandertaler ein eigenständiges Gen oder nur ein neandertalertypisches Allel geerbt haben, ist von großer Bedeutung für die Frage der "Haltbarkeit" der Erbinformation. Nehmen wir als Beispiel die Augenfarbe: Neandertaler hatten rote Augen, Sapiens gelbe, grüne, blaue oder braune. Ein Gen (Augenfarbe), fünf Allele. Folge: Niedrige Wahrscheinlichkeit, dass die Ausprägung "rote Augen" sich in der Bevölkerung flächendeckend durchsetzt, da es vier "Konkurrenz-Allele" gibt. Anders sieht es aus, wenn wir von einem eigenen Gen reden, das bei den Neandertalern vorkam, beim Sapiens aber nicht. Überspritztes Beispiel: Neandertaler hatten einen befiederten Schwanz (ich meine HINTEN!), Sapiens nicht. Bei den Paarungsvorgängen ist das Gen "Schwanz wächst" mittels Crossing over oder durch Vireninfektionen oder durch Eingreifen einer Nympfe in den Sapiens-Genpool gewandert. Da hängt es nun und hat kein "konkurrierendes" Allel, setzt sich also immer durch. Und weil der Federschwanz wunderbar geeignet ist, um krankheitsübertragende Mücken wegzuwedeln, werden Schwanzträger seltener krank, haben eine höhere Lebenserwartung... etc.
Das war jetzt ein konstruiertes Beispiel. Wenn ich mich recht erinnere, gibt es aber Beispiele für solche typischen Gene. War da nicht irgendwas, das mit dem Gehirnwachstum zu tun hatte? Finde ich leider gerade nicht mehr.
Ich hoffe, damit konnte ich wenigsten ein bisschen von unseren Differenzen ausräumen.
MfG