In der russischen Besatzungszone
Das Kriegerdenkmal
Als 12-jähriger malte ich im "Kriegerdenkmal" unseres 250-Seelen-Dorfes zum ersten mal die Namenszüge der in den Weltkriegen Gefallenen und zu Tode Gekommenen nach. Und ich betrachtete scheu forschend die Emailbilder - eigentlich Porzellandrucke - all dieser Brüder und Kindheitsfreunde unserer alten Männer und Frauen im Dorf...
"Zu Tode Gekommene", damit sind Zivilisten gemeint. Im 1. Weltkrieg gab es keine. Nach dem Mai 1945 allerdings drei.
"Als die Russen kamen" ist heute noch eine Standardeinleitung, wenn der alte Wirt und gewitzte Weltkriegsteilnehmer mir meine vielen Fragen beantwortete (er meldete sich mit 17 freiwillig zur Waffen-SS, um nicht mehr an die Front zu kommen, weil deren Ausbildung bei Prag - mühlviertlerisch Pråg - so gedeihlich intensiv und langwierig war.).
Als die Russen kamen, kamen sie an. Sie kamen an in ein Land, wo sich niemand mehr zur Flucht wandte oder wenden konnte. Die Hoffnung auf die Amerikaner wurde betrogen, denn die kamen zwar zuerst, aber gingen dann wieder zurück über Enns und Donau (denselben lief übrigens vielleicht der alte Wirt in Franken kapitulierend entgegen, er war schließlich doch noch an die Front gekommen und zwar an die Westfront. - Ich fragte ihn: "Hast du das gewusst, dass Du nicht an die Ostfront kommst?" - "Nåjå, freilich ..." - und die Amerikaner, er sagte niemals "Amis", vergüteten es dem 17-jährigen Buben mit einem 14-tägigen Hungermarsch. Übrigens die harmlosere Variante: "Naja, ich hab halt keine SS-Tätowierung bekommen, die in Pråg haben keine Zeit mehr dafür gehabt..." "Hast du das gewusst?" - "Jå, freilich." Er sagt immer "Jå, freilich." und lächelte verlegen-schalkhaft)
Die Russen kamen in unser damals wohl gerade mal 150-Seelen-Dorf, sechs Soldaten wurden fix stationiert. In jedes Dorf, in jede Gemeinde, in jeden Markt und in jede Stadt wurde die Rote Armee verteilt. Es war nicht nur eine bedingungslose Kapitulation vorangegangen, es folgte eine lückenlose Besatzung. Ihre Jagd vor Ort, jede Nacht (und entgegen den Strengen Bestimmungen seitens der Offiziere) galt allen Genüssen und Siegesbeuten. Am Kriegerdenkmal müssten unzählige Kühe, Schweine, Schafe und Hühner aufgelistet stehen und all die zerschlagenen Einweckgläser voll der Früchte der letzten (schlechten) Ernte '44 und allerlei andere Ess- und Trinkwaren ("In der ersten Nacht haben sie den ganzen Bierkeller ausgesoffen" weiß der alte Wirt - was noch lustig klingt, - im Herbst wurden 23 Soldaten der Sowjetunion in der nahen Kleinstadt begraben, weil sie keinen Alkohol mehr fanden und die Spiritusgläser des Biologie-Kustodiats des Gymnasiums austranken. Von 19- bis 45-jährigen, jedes Alter vertreten. Und zuvor hatten sie all diese Schlachten überlebt... ). Aus diesen Orgien entwickelte sich allerhand Rumor, Zügellosigkeit und Zerstörungswut, eine Wut, die Jahre lang ein bedingungsloser Feind genährt hatte. (Und dass das Ventil eine Berechtigung hatte, wusste manch "Verlierer" zu gut. (!)
Man erzählt dabei gerne von jenem bourgoisen Klavier, das sich die Söhne der Revolution nicht nehmen ließen, vom ersten Stock eines Bürgerhauses auf das Pflaster des Hauptplatzes des Städtchens zu schmeißen, worauf es mit einem derart wagnerianischen Schwallakkord zersprang, dass es noch die Bäuerin des ersten Hofes im Dorf zu hören glaubte ("glaubte" deshalb, weil sich Erzählungen gerne zu Märchen zu entwickeln belieben.). Aber das sind alles eigentlich Nettigkeiten.
Der Hauptgenuss (bitte mir den Ausdruck zu verzeihen), die klassische Menschenbeute des Kriegsmannes, hat zwei Namen in unserem "Kriegerdenkmal". Es waren zwei sehr liebe und scheue Mädchen.
Dies, wie sie waren und 17 und 20 Jahre alt, erfuhr ich von anderen, denn ein Bild gab es gar nicht von den beiden. Ein Bild leistete sich der kleine Bauer damals für seine Kinder erst zu ihrer Hochzeit.
Wieviele Frauen des Dorfes noch vergewaltigt wurden ohne zu Tode gekommen zu sein, darüber schwieg man. Was jedermann und auch ich gut verstand. Ich habe auch nie nachgefragt.
Nur eine Frau schwieg nicht. Denn sie war "ungeschoren" entkommen. So wie es die beiden anderen Mädchen, die es nicht geschafft hatten, auch versucht hatten. Als sie, die alte Thomasin, davonlief, schossen ihr die russischen Soldaten hinterher. Bis zu ihrem Tod im vorigen Jahr steckte die Kugel in ihrer Lunge.
Der dritte Zivilist war ein alter Besenbinder. Er war schwerhörig. Als er einen Anruf, eine Frage, nicht hörte oder verstand und sich zum Weitergehen wandte, wurde er mit dem Gewehrkolben erschlagen, im August 1945.
Diese unsicherste Zeit endete etwa vor dem Winter 45/46. Die Mädchen mussten sich nicht mehr im Heu verstecken, die Tiere waren etwas sicherer vor jähem Tod und Verzehr. Allmählich wurden sie eben ordnungsgemäß geschlachtet und beim Besatzer abgeliefert. Einige Wehrmachtssoldaten, rechtzeitig "abgehauen", früher entlassen (der noch immer 17-jährige Wirt im Herbst) oder aus der Gefangenschaft entflohen - darunter auch mein Vater - hatten sich in Wald und Feld versteckt, riefen dort leise eine Frau bei der Arbeit an und gaben den "Ihrigen" zuhause Nachricht. Es wurde ihnen Essen - manchmal wochenlang - und ein Zivilanzug gebracht. Irgendwann stahlen sie sich ins Dorf und zeigten gut kopierte oder echte Entlassungsscheine (mein Vater als Maler war damals wohl gut gebuchter Entlassungsscheinfälscher, was ich ihm nicht nur verzeihe, sondern im Falle dieser zurückgekehrten Dorf- und Bauernbuben hoch anrechne. Ich kannte sie als alte Männer. Und zwar als solche, die "Hitler einen Bücher*" nannten.) Erst die zurückgekehrten jungen Männer stellten Sicherheit und Schutz wieder her.
Wie überall kehrte etwa ein Jahr nach Kriegsende eine gewisse Ordnung ein. Die Offiziere der Roten Armee, von denen mein Vater immer mit Hochachtung sprach, bekamen ihre wüste Truppe -die Söhne der Revolution hassten ja auch traditionell ihre Offiziere - wieder in den Griff.
Die Bauern gaben den Hamsterern** nicht, wie in schlechten, schwarz-weiß-gedacht- und gemalten Filmen als Extrem dargestellt, Lebensmittel zu unverschämten Gegengaben, sondern im Tausch gegen Dinge, die man als Bauer eigentlich gar nicht brauchte (Klavier war keines dabei). Man konnte und wollte nicht betrügen, denn wie im Krieg, so war der Hauptteil der Bevölkerung am Lande nicht nur gewohnt zusammenzuhalten, weil man den anderen brauchte, sondern auch und gerade wegen der Besatzung nach dem Krieg eine -mitunter sehr verschworene- Gemeinschaft. Man hatte gemeinsam wenig zu essen, man fror gemeinsam, man lauschte dem einzigen Radio im Wirtshaus und man sann bis 1954 gemeinsam oft darüber nach, ob man vielleicht auswandern sollte. Denn "ob das Schicksal Österreich verschont und nicht auch auseinaderreißt" und das Dorf nicht den Kommunisten zuschlägt, war so eine ähnliche Hoffnung, wie jene, die die Sieger schon in Jalta und Potsdam zerstört hatten: dass man "amerikanisch werden würde" (= amerikanisch besetzt). Stattdessen "kamen die Russen".
Und ein anderer Zeitzeuge sagte mir: "Die waren schon seit sie die Grenze von der Ukraine nach Ungarn überschritten im Dauerrausch." Deshalb wage ich diese "Nischenbemerkung" zum Schluss, dass jene Männergeneration das nie zuvor dagewesene Kriegsgrauen in Alkohol ertränkte. Vermutlich ist er die schlimmste Geißel des Krieges - wie des Friedens,- den zwei Mädchen im Frühsommer 1945 nicht mehr erleben durften und unzähligen anderen Traumatisierten wie ein unwirkliches Nebelgebilde erschien.
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*Bücher = Gauner, Halunke
**Hamsterer = von hamstern, Vorräte sammeln = Leute aus den Städten, die sich mit Nahrungsmitteln und Brennholz versorgten (und dafür manchmal vielleicht sogar ein Klavier gegeben hätten)