Davon haben wir nichts gewusst!

Und an diesem Punkt - so mein persönliches Resümee - verstehe und glaube ich, wenn mir Zeitzeugen sagten, dass sie die Dimension der Vernichtung sich nicht vorstellen konnten.

Ergänzend zum Beitrag von Thanepower:
Ich konnte mir es nicht vorstellen bis zu einem Besuch in Auschwitz. Bis dahin waren 6 Millionen für mich eine abstrakte Zahl. Wenn man in Birkenau steht und die ganzen Schornsteine der Baracken sieht, dann bekommt man erstmal eine Vorstellung der Dimensionen, wobei die Schornsteine natürlich für die Baracken stehen und die Baracken wiederum für die Menschen, die nicht sofort „aussortiert“ und „ins Gas geschickt wurden“, was ja etlichen Hunderttausend passierte, und zudem in Auschwitz mit ca. 1,5 von 6 - 7 Millionen Morden ein Viertel bis Fünftel der Morde stattfanden.

Aber es geht um die Dimensionen, wie viele Menschen Bescheid wussten. Es gab zig Wehrmachtssoldaten, die an Massakern mittelbar oder unmittelbar beteiligt waren. Entweder, weil sie selber schossen, oder Orte, an denen Massenmorde stattfanden, abriegelten. Es gab Sanitätspersonal, Polizisten (auch die waren an Mordaktionen beteiligt), die Reichsbahnangehörigen, die Hersteller von Verbrennungsöfen - die Firma Topf & Söhne stellte Verbrennungsöfen her, die große Kapazitäten an Menschen kremieren konnten, die nicht über den normalen Anteil an Körperfett verfügten, wo also mehr Brennstoff zugefügt werden musste - es gab die Finanzämter, es gab die kleinen privaten Nutznießer.
Zumindest Mitarbeiter bei Topf & Söhne, Soldaten von Wehrmacht und SS, Polizisten, Reichsbahnangehörige wussten sehr konkret von den Morden, sie habe diese mit Fotos, Tagebucheinträgen und Briefen dokumentiert. Die Vorstellung sie hätten zuhause nicht davon erzählt - ob stolz oder in Abscheu und Ekel, auch vor sich selbst - scheint mir abwegig.

Liest man Briefe und Tagebucheinträge, sind Ahnungen zu lesen, Victor Klemperer, selber Verfolgter des NS-Regimes, durch seine „arische“ Frau lange geschützt, nennt in seinen Tagebüchern Auschwitz. (Klemperer musste als Vertreter der jüdischen Gemeinde den Marschbefehl zur Sammelstelle an sich selbst ausstellen, die schweren Luftangriffe auf DD retteten sein Leben, seine Frau und er flohen nach München, wo sie Bekannte hatten, denen sie vertrauten.)

Und um noch einen Punkt, den Thanepower schon anspricht, aufzugreifen: dass es Konzentrationslager gab, wurde ja nicht geheimgehalten, das konnte man in der offiziellen NS-Presse lesen. Mit den den Vernichtungslagern sieht es freilich anders aus.

Ein Skandal war auch die Aktion T4 (1940/41, also noch vor dem eigentlichen Holocaust), die Ermordung geistig und körperlich Behinderter, die durch die katholische Kirche publik gemacht wurde und zumindest offiziell eingestellt werden musste. Spätestens jetzt wusste man, dass die Nazis skrupellos waren.

Viele aber exkulpierten Hitler: „Wenn das der Führer wüsste...“ Er wusste es. Und viele mit ihm.
 
Und an diesem Punkt war es wohl für viele unvorstellbar, die Dimension des systematischen Tötens von Millionen denken zu können. Es übersteigt die damalige historisch gebundene Vorstellungskraft. Und an diesem Punkt - so mein persönliches Resümee - verstehe und glaube ich, wenn mir Zeitzeugen sagten, dass sie die Dimension der Vernichtung sich nicht vorstellen konnten.
Ich denke neben historisch gebundener Vorstellungskraft könnte ganz zeitlos eine weitere Größe in Betracht zu ziehen sein: kognitive Grenzen*.

Zum Ende eines tristen Profi-Kicks im restlos gefüllten Frankfurter Waldstadion in den 80ern kamen absolut unvermutet Worte über die Lippen meines Opas: “Alle wie sie hier sind - tot, zerfetzt, schreiend - in Wellen kamen sie - keine zwei Stunden hat es gedauert.“
“Was meinst du damit?“
Langes Schweigen, begleitet von Kopfschütteln und einem unendlich leer wirkenden Blick.
“Somme. An der Somme. Frankreich. 1916.“

Spätere Gespräche mit ihm über seine Zeit als 18-Jähriger an der Westfront haben immer wieder darauf hingedeutet, dass er, obwohl wiederholt Augenzeuge, an der schieren Unvorstellbarkeit des Erlebten scheiterte. Damit kämpfte er bis zu seinem Tode.

* Dunbar-Zahl – Wikipedia
 
Im Zuge der Krankenmorde (euphemistisch "Euthanasie") des NS-Regimes wussten große Teile der Bevölkerung bescheid - und das betrifft nicht nur Familienangehörige, Pflegepersonal und Klerus. ...
... Es wurden von 1935-37 "eugenische" Propagandafilme („Erbkrank“, „Alles Leben ist Kampf“, „Das Erbe“ und „Opfer der Vergangenheit", „Ich klage an“) gedreht. Insofern war systematisches Töten, wenn auch nicht millionenfach, so doch hunderttausendfach, in großen Teilen der Bevölkerung NS-Deutschlands nicht unbekannt. ...

Ich bezweifel, dass es großen Teilen der Bevölkerung bekannt war! Den Angehörigen wurde ja als Todesart immer irgendeine Krankheit mitgeteilt. Und auch in der Propaganda wurde ja nicht von der Ermordung der Kranken gesprochen. Es haben sicher einige vermutet, dass ihre Angehörigen ermordet wurden, aber gewiss war es nicht. Zudem hat man es meist nicht groß rumerzählt, wenn man die Vermutung einer Ermordung hatte.

Die RAF warf 1941 Flugblätter ab.

Da sind wir wieder an dem Punkt wo man Gehörtes/Gelesenes erst mal als wahr annehmen muss. Ich denke, nur ein kleiner Teil der Bevölkerung hat den Flugblättern Glauben geschenkt.
Ist ja auch wichtig von wem man etwas ezählt bekommt. Das was man von einem engen Familienangehörigen hört, glaubt man wohl eher, als wenn man etwas unter vorgehaltener Hand im Luftschutzbunker aufschnappt.
 
Viele Deutsche lebten wohl mit der Einstellung:
"Ich weiß genug um zu wissen, dass ich nicht mehr wissen will."
Dass Juden diskriminiert wurden war offensichtlich, von Langern in die Unliebsame Menschen verschwanden ahnten oder wussten wohl auch einige Deutsche.
Vor allem dass viele Juden plötzlich verschwanden musste ja zwangsläufig viele stutzig machen.
Antisemitismus war in Deutschland damals weit verbreitet, wie übrigens in fast ganz Europa, was ich keineswegs als Entschuldigung für deutschen Antisemitismus verstanden wisssen will.

Vielfach ging man davon aus, daß die Juden nicht in Vernichtungslager, sondern in Arbeitslager, verbracht worden sind. Das war die Schutzbehauptung gegen das schlechte Gewissen derer, die mehr ahnten als wußten.

Göbbels, der kleine Hinketeufel, hat in seinen Tagebüchern verschiedntliche Hinweise darauf gegeben, daß man das deutsche Volk seitens des NS in Mithaftung für die NS-Verbrechen gegen Juden nehmen wollte.
 
In meinem sehr ländlichen Heimatdorf war bekannt das geistig Behinderte nicht mehr zurückkommen wenn man sie in "Pflege" gab.
Da wurde, so hab ich es mal gehört - durch einen örtlichen Arzt ein falscher Totenschein gestellt und der Behinderte verborgen.

Von wem die Initiative ausging weiß ich allerdings nicht, nicht einmal ob diese Episode wirklich stattgefunden hat.
 
Von wem die Initiative ausging weiß ich allerdings nicht, nicht einmal ob diese Episode wirklich stattgefunden hat.
Du bist zu lange dabei um noch Schüler oder Student zu sein, daher wirst du sicher für ein Forschungsprojekt in dieser Richtung keine Muße haben, nicht wahr?
 
Mein Vater hat, wie fast alle seiner Klassenkameraden, Flugblätter gesammelt und getauscht. Wir hatten auf dem Dachboden einen ganzen Koffer mit Flugblättern. Im Vordergrund der Themen der Flugblätter waren aber die Widerlegungen der Nazipropaganda: zum Beispiel die Verlustraten der U-Bootfahrer, die Zahl der Kriegsgefangenen in Nordafrika.
Dennoch wusste mein Vater, Jahrgang 1924, von der Existenz der Konzentrationslager. "Das wusste man." - "Das sind Lager in die die Spinner kommen." - so zitierte er die umgangssprachliche Formel jener Zeit für die KZ. Von der Existenz einer Vernichtungsmaschinerie wusste er wiederum nichts.
Aber er wusste und empfand dass den Juden - er kam aus einem kleinen Städtchen, Waldbröl, mit einem großen Viehmarkt und bis 1942 einem großen Anteil jüdischer Einwohner - Unrecht getan wurde.
Ich wurde 1967 Zeuge der Begegnung mit einem Mann der sich mit meinem Vater freundlich unterhielt,und merkte dennoch die Distanziertheit meines Vaters. Ich fragte nach, und er erzählte mir dass dieser SA-Mann gewesen war und meinen Vater vom Einkauf bei einem jüdischen Milchmann abhielt. "Kauft nicht beim Juden ein." Mein Vater und sein Bruder erzählten mir von den Übernahmen jüdischer Geschäfte und Unternehmen in Waldbröl, über Profiteure und Lieferanten an die Wehrmacht, über Seilschaften die bis in die 70er Jahre bestand hatten, über den dort ansässigen Rudolf Ley.

Zugleich war es aber während des Krieges auch eine gewollte gesellschaftliche Trennung: wer im Reichsarbeitsdienst oder in der Luftwaffe war, war sozial isoliert, in einer Gruppe gleichaltriger junger Männer, getrennt vom früheren sozialen Umfeld.
Und später, 1943-45, redete man nur noch in Andeutungen, die zwar verstanden wurden aber nur wenig Details enthielten.
Mein Vater befragte als junger Soldat der Luftwaffe in Briefen seinen in der Heimat gebliebenen 16jährigen jüngeren Bruder, der als Luftwaffenhelfer in Köln-Wahn im Oktober 1944 weitaus mehr politische, militärische, einsatztechnische und auch waffentechnische Details von den zwischenlandenden Piloten erfuhr.

Strafandrohung für Defaitismus wirkte bei den Erwachsenen "an der Heimatfront" in dem Sinne dass nur verklausuliert gesprochen wurde. Vor allem in der Nachfolge des 20. Juli 1944 waren Verfolgung und Hinrichtung Andersdenkender in den Medien breit dargestellt. Die Bevölkerung glaubte nach der Landung in der Normandie nicht mehr an einen Sieg. Aber man redete kaum noch. Der soziale Austausch war eingeschränkt.

Günter Grass "Katz und Maus" beschreibt in sehr feinen Tönen wie "in der Heimat" geredet wurde.
 
Ich wüsste nicht wo ich da anfangen könnte. Mein letzter Großvater ist leider vor ein paar Jahren gestorben.
Ich werde mal meinen Vater fragen, ob ich das richtig in Erinnerung habe.

edit:
es kann so einfach sein:
https://www.regionalgeschichte.net/...nzelaspekte/ns-zeit-in-untershausen.html#cLL6

ist ein Nachbardorf nur 2 Kilometer entfernt.
Dort wurden drei Einwohner während T4 ermordet.
Auch dort wurde jemand "gewarnt" und "versteckt" dann aufgegriffen und in Hadamar (Aktion T4) getötet.

es war also - evtl auch weil Hadamar nicht weit entfernt ist - bekannt.

Mein Elternhaus besitzt die Ortschronik, die auch in dem Artikel über Untershausen zitiert wird - evtl ist dort etwas zu finden.
 
Zuletzt bearbeitet:
Erschreckend wie aktiv dort SA und SS waren - wir reden hier von einem Dorf von damals vllt 200-300 Einwohnern.
 
Aus einem anderen Thread dazu:
Das Thema ist in neueren Veröffentlichungen aufbereitet, zB:
Peter Longerich: "Davon haben wir nichts gewusst!": Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945
Frank Bajohr/Dieter Pohl: Massenmord und schlechtes Gewissen: Die deutsche Bevölkerung, die NS-Führung und der Holocaust
Bernward Dörner: Die Deutschen und der Holocaust: Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte

Von Johnson und Reuband liegt ein Buch vor, das auf umfangreichen Interviews von "normalen" Deutschen und Opfern basiert und somit als empirische Studien zu klassifzieren ist.

What We Knew: Terror, Mass Murder, and Everyday Life in Nazi Germany - An ... - Eric A. Johnson, Karl-Heinz Reuband

Und obschon die subjektive Sicht im Rahmen der Interviews berücksichtigt wird, ist gewährleistet, dass durch die Breite und komparative Sichtweise der Interviews keine rein subjektive Sichtweise einer Verklärung oder Rationalisierung der damaligen Vorgange als Analyse vorlegen.
 
Könnte man rückwirkend Umfragen machen, sollten die anzukreuzenden Fragen so oder ähnlich lauten:

- ich habe nichts gegen Juden und ich würde mich wehren, wenn jemand etwas gegen sie unternimmt
- ich habe nichts gegen Juden, ich weiss oder ahne, dass der Staat etwas böses mit ihnen macht, aber ich kann nichts dagegen tun
- ich habe nichts gegen Juden, ich weiss oder ahne, dass der Staat etwas böses mit ihnen macht, ist mir aber egal
- Juden sind zwar schlecht, aber ich würde mich trotzdem wehren, wenn jemand etwas gegen sie unternimmt
- Juden sind schlecht und der Staat soll mit ihnen machen, was ihnen gebührt und ich will nichts wissen davon
bis zu
- Juden sind schlecht und ich möchte mich aktiv an ihrer Ermordung beteiligen

Vielleicht kommen Euch noch weitere Varianten in den Sinn.

Leider gibt es meines Wissens keine solchen Umfragen. Sie wären auch nicht ehrlich beantwortet worden. Trotzdem sollen die Bürger jedes Landes für ihr Land einmal überlegen, wo hätte wohl die Mehrheit der damaligen Bürger ihr Kreuz vor und nach 1945 gemacht und wo hätte sie es ehrlicherweise machen müssen? Eine Beurteilung von aussen ist dabei nicht förderlich. Hier wird die Frage von und für Deutsche diskutiert und das ist richtig so.
Die gleichen Fragen dürfen sich aber auch Schweizer, Franzosen, Polen etc. stellen und versuchen für die Bürger ihres Landes damals zu beantworten.
dazu auch:
„Europa gegen die Juden 1880-1945“, 2017, Götz Aly
 
Leider gibt es meines Wissens keine solchen Umfragen. Sie wären auch nicht ehrlich beantwortet worden. Trotzdem sollen die Bürger jedes Landes für ihr Land einmal überlegen, wo hätte wohl die Mehrheit der damaligen Bürger ihr Kreuz vor und nach 1945 gemacht und wo hätte sie es ehrlicherweise machen müssen?

Was wäre, rein methodisch betrachtet, hierbei an Erkenntnis zu gewinnen?
Wenn man davon ausgeht, dass diese ohnehin nicht ehrlich beantwortet würden, wäre daraus nicht wirklich Kapital zu schlagen, was wirklich verwertbare Datenerhebungen zu dem Fragekomplex angeht.

Was wäre darüber hinaus dadurch zu gewinnen, dass man sich als Bürger eines Landes vorstellt, wie sich die eigenen Landsleute hierzu wohl positioniert hätten?
Das sagt ja nichts über die tatsächliche Position der Bevölkerungsmehrheit aus, sondern allenfalls etwas darüber, welche Einschätzung hiervon derjenige hat, der die entsprechende Vorstellung anstellt.
 
Ich habe vor geraumer Zeit Bücher von Karl Jaspers gelesen. Er hat ernsthaft erwogen, zusammen mit seiner jüdischen Frau, freiwillig in ein KZ zu ziehen. Später hat er allerdings Vorbereitungen getroffen, um im Falle einer Verhaftung Selbstmord begehen zu können. Interessant wäre der Zeitpunkt dieser Wandlung. Jaspers war oft sehr diskret. Er schrieb, er hätte auf den üblichen Kanälen vom Zeitpunkt seiner Abholung erfahren. Allerdings kamen vorher die Amerikaner. Was waren die üblichen Kanäle ?
 
Wer damals den Stürmer gelesen hat, der konnte ahnen, dass die Juden brutal ermordet wurden...im Stürmer wurden absurde Lügen geschrieben, dass die Juden kleine Kinder abschlachten würden, außerdem wurden im Stürmer Ferdinand und Isabelle von Spanien gelobpriesen, das Königspaar hat während der Reconquista unzählige Juden brutal ermorden lassen.
Ich habe alte Stürmerhefte gelesen und war geschockt über den menschenverachtenden Ton in diesen Heften....in etwa vergleichbar mit heutigen rechtsradikalen Propagandakanälen.
Jeder der diese Hefte las(und der Stürmer hing überall in Schaukästen aus) musste sich denken können, dass die Juden brutal ermordet wurden.

Außerdem wurden ja die Möbel und alle anderen Gebrauchsgegenstände der Juden nach ihrer Abholung versteigert, viele Leute kauften damals nur zu gerne auf solchen Versteigerungen billig Möbel und Küchengeräte ein. Da hätten die Leute sich eigentlich denken müssen, dass die Juden nicht umgesiedelt werden, denn wer umgesiedelt wird, nimmt normalerweise seine Möbel und alles andere aus dem Hausstand mit.


Ich hätte auch mal noch ne Frage zum Holocaust:
Ich habe mal gelesen, die Nazis hätten damals allen Juden ihre Haustiere weggenommen und vergast(das steht in Victor Klemperers Biografie) es war furchtbar, zu lesen, wie er und seine Frau die geliebte Katze ein letztes Mal fütterten, in dem bitteren Wissen dass das süße Tier eingeschläfert werden würde.
Weiß jemand hier, warum die Nazis die Haustiere der Juden einschläferten, anstatt sie in ein Tierheim zu geben? Gab es damals noch keine Tierheime?
Oder vertraten die Nazis die Meinung "diese Tiere sind selbst jüdisch weil sie Juden gehörten"
Das mit der Ermordung der Haustiere ist mir ein Rätsel, dass die Nazis die Juden fanatisch hassten, das ist ja bekannt...hassten sie auch deren Tiere, nur weil sie Juden gehörten?
 
Wer damals den Stürmer gelesen hat, der konnte ahnen, dass die Juden brutal ermordet wurden...im Stürmer wurden absurde Lügen geschrieben, dass die Juden kleine Kinder abschlachten würden, außerdem wurden im Stürmer Ferdinand und Isabelle von Spanien gelobpriesen, das Königspaar hat während der Reconquista unzählige Juden brutal ermorden lassen

Derlei Gräuelmärchen über Juden sind aber nunmal keine Erfindung der Nationalsozialisten gewesen, sondern griffen in dieser Hinsicht Erzählungen und Zuschreibungen auf, die seit dem Mittelalter in Europa verbeitete waren, die in Mittel- und Westeuropa im 17. und 18. jahrhundert stark auf dem Rückzug waren und ab dem 19. Jahrhundert wieder eine Rennaiccance erlebten:

Simon von Trient – Wikipedia

Beschuldigungen gegenüber Juden, Ritualmorde zu vollziehen und auch eine Hand voll unter reger öffentlicher Anteilnahme geführter Gerichtsprozesse im Hinblick auf diese Anschuldigungen, wurden auch während des Kaiserreiches geführt:

Konitzer Mordaffäre – Wikipedia
Xantener Ritualmordvorwurf – Wikipedia

Sofern der der Stürmer die Ritualmordlegende also aufgriff, benahm er sich damit zunächst und im Kern mal nicht antisemitischer und verhetzender, als weiland etwa die "Kreuzzeitung" und diverse nationalistische und antisemitische Blätter etwa während des Buschoff-Prozesses (siehe Link zum Xantener Ritualmordforwurf).

Die illustriertre Darstellungen und die Frequenz in der derlei Gräuelmärchen im "Stürmer" verbreitet wurden, auch die aufhetzende Sprache mögen demgegenüber eine andere Qualität haben aber eine radikal antisemistische Presse, die die aus dem Mittelalter tradierte Ritualmordlegende zu perpetuieren nicht müde wurde, gab es bereits mit einem gewissen gesellschaftlichen Echo 30 Jahre vor der Gründung der NSDAP, nur war das eben noch nicht die Zeit der Massenpolitik mit einer entsprechenden Reichweite.

Zumal der "Stürmer" ja nicht das offizielle Regierungsorgan, wenn auch von der NSDAP stark protégiert war, musste das der Bevölkerung, die derlei schon vor den Nazis kannte, insofern im Kern der Aussage nicht allzu bemerkenswert vorkommen.

Auch das Abfeiern historischer, radikal antisemitischer Maßnahmen stellt in diesem Kontext im Kern eigentlich keine allzu ungewöhnliche Besonderheit dar.


Ich habe alte Stürmerhefte gelesen und war geschockt über den menschenverachtenden Ton in diesen Heften....in etwa vergleichbar mit heutigen rechtsradikalen Propagandakanälen.
Jeder der diese Hefte las(und der Stürmer hing überall in Schaukästen aus) musste sich denken können, dass die Juden brutal ermordet wurden

Wie gesagt, man muss die Angelegenheit im Kontext betrachten und da möchte ich beispielhaft vor allem auf den Buschoff-Prozess (Xanten) verweisen.
In dessen Verlauf schäumte die antisemitische Presse, trotz Stichhaltiger Beweise, dass die Tat, so wie sie dem Angeklagten vorgeworfen wurde, in dieser Form überhaupt nicht so begangen sein worden konnte über und erging sich in entsprechenden Gräuelmärchen, die die Stimmung am Niederrhein zum überkochen brachten und in Xanten selbst zu schweren antisemitsichen Ausschreitungen führte.

Insofern, wie gesagt, derartige subatanzlose und krankhaft antisemitische Vorwürfe waren für die Bevölkerung nichts neues, hatten auch ihre Entsprechungen im Zarenreich und in Österreich-Ungarn ("Tiszaeszlár"/ Tiszaeszlár – Wikipedia ). In abgeschwächter Form findet sich die Tradition auch in Frankreich im Rahmen der "Dreyfuß-Affaire", auch wenn es da nicht um angeblichen Ritualmord ging, sondern "nur" um die französische Varianter der Dolchstoßlegende in antisemitischer verbrämter Form.

Da es diese Darstellungen schon zu Kaisers Zeiten gab, wenn auch nicht in der Häufigkeit und Intensität, warum hätte das die Bevölkerung automatisch auf die Idee bringen sollen, dass sich da ein Völkermord anbahnte?



Außerdem wurden ja die Möbel und alle anderen Gebrauchsgegenstände der Juden nach ihrer Abholung versteigert, viele Leute kauften damals nur zu gerne auf solchen Versteigerungen billig Möbel und Küchengeräte ein. Da hätten die Leute sich eigentlich denken müssen, dass die Juden nicht umgesiedelt werden, denn wer umgesiedelt wird, nimmt normalerweise seine Möbel und alles andere aus dem Hausstand mit.

Der Begriff "Umsiedlung" beeinhaltet ja nicht automatisch den Anspruch, dass dies irgendwie unter menschenwürdigen Bedingungen passieren würde.
Nun kennt man großflächige Vertreibungen von Juden aus der europäischen Geschichte, wenn auch eher aus derjenigen des Mittelalters und der frühen Neuzeit ja durchaus und nebenbei existierten auch in Stalins Sowjetunion entsprechende Deportationsprogramme, die darauf hinausliefen einen beträchtlichen Anteil der jüdischen Bevölkerung in den Fernen Osten zu verpflanzen. Das Produkt davon, die "Autonome Jüdische Oblast" existiert als Überbleibsel im Rahmen der administrativen Gliederung der Russischen Föderation noch heute:
Jüdische Autonome Oblast – Wikipedia

Man fühlt sich dabei unweigerlich an die Praxis der "administrativen Verbannung" und der "Sondersiedlungen" aus der Zarenzeit erinntert.

Insofern gibt es auch zeitgenössisch durchaus ein greifbares Beispiel für ein entsprechendes, euphemistisch als "Umsiedlung" verbrämtes Deportationsprogramm, dass durchaus nicht auf lupenreinen Völkermord hinauslief und durchaus auch international bekannt wurde.
Kommt hinzu, dass die Nazis, bevor sie zum Völkermord übergingen, die Juden oder von ihnen als "jüdisch" klassifizierten Personen aus dem Reichsgebiet ja durchaus zunächst mal in weiten Teilen ins Generalgouvernement verbrachten (Stischwort: "Judenreservat") und vor 1941 wohl durchaus, jedenfalls teilweise, tatsächlich Deoprtationen als Zielsetzung betrachteten.
Endlösung der Judenfrage – Wikipedia

Wenn man die Angelegenheit also vor dem Hintergrund des Beispiel der Deportationen in der Sowjetunion und vor dem hintergrund der Tatsache, dass zunächst mal die Nazis durchaus mit"Abschiebung/Deportation" als Option planten und das vor 1941 in Teilen auch ins Werk zu setzen begannen, wird man konzedieren müssen, dass es für die Bevölkerung weder einen zwangsläufigen Schluss gab von den Deportationen auf Vernichtungsexzesse zu schließen und dass es ihr außerdem möglicherweise nicht ganz einfach gefallen sein mag, den Strategiewechsel der Nazis in Sachen "Judenfrage" anno 1941 zeitnah zu registrieren.

Das Eigentum nicht mitgeführt werden, konnte, über leiches Gepäck hinaus, ist da auch nicht erzwungenermaßen ein Indiz:

- So hatten die Nazis sich ja auch bereits lange auf eine Politik eingeschossen, die vor dem Krieg den Juden die Auswanderung ermöglichte, aber in diesem Fall auch die Enteignung/Konfiszierung ihres Besitzes vorsah. Trotzdem ließ man vor dem Krieg, die Juden, die sich auf diese Weise "freikauften" gehen, sofern sie in Westeuropa, Palästina oder den Vereinigten Staaten Aufnahme finden konnten.
- Darüber hinaus, spielt ja dann ab 1941 auch die Kriegsthematik mit hinein. Die Unmöglichkeit größeres Eigentum mit in den Osten zu nehmen, ließ sich von dem her ab eimen gewissen Zeitpunkt recht einfach damit begründen, dass der Transportaum in den Zügen für militärische Zwecke vorrangig benötigt wurde. Das der Transport von Lebensmitteln und Nachschub zu den Soldaten an die Front vorrang vor dem Transport von Möbeln unliebsamer Deportierter zu haben habe, dürfte Otto-Normal-Reichsinsasse noch recht einleuchtend zu vermitteln gewesen sein.


Insofern sehe ich in diesen Punkten keine wirklichen Gründe, warum die Bevölkerung deswegen unbedingt Massenmord antizipieren musste.

Damit will ich nicht gesagt haben, dass man auf entsprechendes nicht kommen konnte, aber aus anderen Umständen heraus.

Namentlich vor allem aus aus dem Umstand der administrativ verordneten Auflösung von Eheverhältnissen und aus dem Umstand heraus, dass die Behörden auf Anfragen nach dem "Ansiedlungsort", bzw. der neuen Adresse deportierter ehemaliger Ehepartner, Familienangehöriger und Bekannter i.d.R. keine zufriedenstellenden Auskünfte geben konnten und dass man von den Deportierten auch nichts mehr hörte.
Man sollte ja sonst annehmen, dass diese sich irgendwann mal bei ihren Bekannten und Freunden brieflich gemeldet hätten, wenn es da lediglich um "Umsiedlung" und "Arbeitseinsatz" gegangen wäre.
 
Zum Umgang im Rahmen des kollektiven Gedächtnisses mit dem Holocaust ist sicherlich das Buch von Welzer u.a. "Opa war kein Nazi" ebenfalls relevant.

Rezension zu: H. Welzer u.a.: "Opa war kein Nazi" | H-Soz-Kult. Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften | Geschichte im Netz | History in the web

Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis". (Archiv)

Es ist auch dem komparativen Forschungsprojekt "Tradierung von Geschichtsbewußtsein" hervorgegangen.

Tradierung • Geschichte • Osteuropa-Institut

Interessant ist, wie abweichend die einzelnen Generationen in den unterschiedlichen Ländern mit dem Thema und der Frage von "Schuld" umgegangen sind.
 
Zuletzt bearbeitet:
Die makabren Details des minutiös bürokratisch geplanten und quasi industriell betriebenen Massenmordes wird die Mehrheit der deutschen Bevölkerung nicht gewusst haben, selbst viele der Opfer die jahrelang zuvor schon ausgeplündert und entrechtet wurden, die bereits Gerüchte über Orte wie Auschwitz und Treblinka gehört hatten, konnten sich so etwas nicht vorstellen, einfach weil das Ausmaß der Barbarei das Vorstellungsvermögen übertrifft.

Wer aber Augen zu sehen und Ohren zu hören hatte, der hat von 1933-1938 und dann erst recht seit Beginn des Krieges viele Gelegenheiten gehabt, Ereignisse mitzubekommen, die zumindest ahnen ließen, das es so etwas gab.

Von den ersten Boykotten gegen jüdische Geschäfte und Betriebe 1933 über faktische Berufsverbote, die Kollegen, Nachbarn, Bekannte, Mitschüler, etc., etc. trafen, über die Nürnberger Gesetze 1935, die Novemberpogrome 1938, als alle Deutschen Zeugen wurden wie Synagogen brannten und vielerorts Leute ganz offen umgebracht wurden, die Kennzeichnung durch den gelben Stern in Deutschland und den besetzten Gebieten und der Beginn des Mordens 1939 in Polen und der Beginn der Shoah mit dem Unternehmen Barbarossa. An der Ostfront müssen viele deutsche Soldaten etwas mitbekommen haben, und das Morden war durchaus ein Gesprächsthema in Offizierskasinos, wie Ernst Jünger in seinen Tagebuchberichten erwähnt.

SD und Gestapoberichte bedauerten 1943, dass sich die Empörung über die Morde von Katyn an polnischen Offizieren in Grenzen hielt, weil die meisten wussten, dass die deutschen Judenmassaker diese Verbrechen Stalins bei weitem übertrafen. Nachbarn, Mitschüler wurden erst jahrelang ausgegrenzt und ausgeplündert und waren irgendwann völlig verschwunden. Das es nichts Gutes bedeuten konnte, wenn Menschen "evakuiert" und "deportiert" wurden, wenn sie "im Osten" zum "Arbeitseinsatz" kommen sollten. Vom ersten Tag an gab es in Nazideutschland Konzentrationslager. Man drohte sich ganz offen mit Orten wie Dachau (Halt´s Maul, sonst kommst du nach Dachau) oder Buchenwald. Jedem war bewusst, dass Konzentrationslager etwas fürchterliches bedeutete. Sicher, viele Sozialdemokraten, Gewerkschaftler, Kommunisten wurden auch wieder freigelassen, manche nach Wochen, andere nach Monaten oder Jahren wieder frei. Dass aber Leute oft ohne Urteil und wegen Bagatelldelikten weggesperrt wurden, dass das Recht instrumentalisiert und vergewaltigt wurde, wusste jeder Deutsche, Jeder hat in jeder beliebigen deutschen Kleinstadt mitbekommen, dass gerne politische Gegner durch die Stadt geführt, verächtlich gemacht und misshandelt wurden. Alle Deutschen haben in ihrer Heimatgemeinde die Synagogen brennen sehen, haben all die vielen Gemeinheiten mitbekommen, das hässliche feixen, das begleichen von alten Rechnungen, das anzeigen von Nachbarn, das heimliche denunzieren, das mitmachen, das mitplündern. Natürlich haben da nicht alle mitgemacht, viele, viele hatten Unbehagen dabei. In fast jeder beliebigen deutschen Stadt waren es keine auswärtigen bösen Nazis, die wie Außerirdische über Deutschland kamen, es waren ganz normale Leute, es waren die Nachbarn, die Mitbürger von nebenan, mit denen viele Juden früher gut ausgekommen waren, mit denen man gefeiert hatte.

Manche Soldaten brachten Beutegut aus Polen mit, manche Angehörige freuten sich über Pelze oder Schmuck, Beutegut, das Juden weggenommen wurde mit der Bemerkung "die brauchen das nicht mehr."
Wer einmal ein arisiertes Grundstück günstig gekauft oder einen Betrieb übernommen hatte, der stellte keine Fragen mehr nach dem Verbleib von Mitbürgern und Nachbarn, der war´s zufrieden, wenn die rechtmäßigen Besitzer nicht mehr wiederkamen und der wünschte sich auch keine Diskussion darüber wie es soweit kommen konnte.
 
An der Ostfront müssen viele deutsche Soldaten etwas mitbekommen haben, ...
Zumal Soldaten der Wehrmacht direkt und indirekt in den Mord involviert wurden. Im Übrigen auch ein Anlass für die Flugblätter der Weißen Rose, im Zweiten Flugblatt wird etwa über die Ermordung von 300.000 polnischen Juden berichtet sowie über die Ermordung und Verschleppung junger polnischer Adeliger:

nur als Beispiel wollen wir die Tatsache kurz anführen, die Tatsache, daß seit der Eroberung Polens dreihunderttausend Juden in diesem Land auf bestialischste Art ermordet worden sind. Hier sehen wir das fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen, ein Verbrechen, dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschengeschichte an die Seite stellen kann. [...] Vielleicht sagt jemand, die Juden hätten ein solches Schicksal verdient; diese Behauptung wäre eine ungeheure Anmaßung; aber angenommen, es sagte jemand dies, wie stellt er sich dann zu der Tatsache, daß die gesamte polnische adelige Jugend vernichtet worden ist (gebe Gott, daß sie es noch nicht ist!)?

Auf welche Art, fragen Sie, ist solches geschehen? Alle männlichen Sprößlinge aus adeligen Geschlechtern zwischen 15 und 20 Jahren wurden in Konzentrationslager nach Deutschland zur Zwangsarbeit, alle Mädchen gleichen Alters nach Norwegen in die Bordelle der SS verschleppt!​
 
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