„Ehe noch die Blätter fallen, seid ihr wieder zu Hause“, rief Wilhelm II. seinen Soldaten zu.
Wilhelm II. und auch Bethmann gingen davon aus (Prinzip Hoffnung auf eine Lokalisierung des Krieges), das Russland sich nicht in dem Krieg zwischen Serbien und Österreich-Ungarn einmischen würde. Die zweite fatale Fehleinschätzung war, das man hoffte, dass Großbritannien neutral bleiben könnte.
Tatsächlich war der berühmte "Kriegsrat" am 8. Dezember 1912 eine Reaktion auf den Hinweis von Lichnowsky, dass GB im Falle eines Krieges D gegen F nicht neutral bleiben würde:
"Haldane hat als Sprachrohr Greys Lichnowski erklärt, daß England, wenn wir Frankreich angriffen, unbedingt Frankreich beispringen würde, denn England könne nicht dulden, daß die balance of power in Europa gestört werde. S. M. begrüßt diese Mitteilung als erwünschte Klärung der Situation denjenigen gegenüber, die sich von Pressefreundlichkeiten der letzten Zeit Englands sicher fühlten."
So zitiert nach dem
Tagebucheintrag von Georg Alexander von Müller, Chef des Marinekabinetts.
Und Moltke ließ ja auch die Invasion der Niederlande (noch Teil des ursprünglichen Schlieffenplans) gerade deshalb fallen, um für die erwartete britische Blockade der deutschen Häfen eine "Luftröhre" zu haben, über die Güter eingeführt werden konnten. Auch in den Denkschriften wird die BEF durchaus als Faktor erwähnt, mit dem man aber schon fertig werden würde. Und Tirpitz hatte schon sehr früh versucht zu erreichen, dass von Ministeriumsseite Vorratshaltung bei Nahrungsmitteln betrieben wird. (Da kann man sich auch fragen, wieso fand er das notwendig, wenn seine Flotte doch GB in Schach halten kann?) Also zu behaupten, man ging bei der deutschen Militärführung bei der Kriegsplanung von einer britischen Neutralität aus, ist übertrieben.
Reaktion darauf: Alternativen für eine defensive Haltung im Westen (der große Ost-Aufmarsch) wurden nicht mehr aktualisiert und damit vollständig fallen gelassen! Hier verlor man jeden Bezug zur Realität. Vermutlich dachte man folgendermaßen:
1. Ein Krieg gegen die anderen europäischen Großmächte ist unvermeidlich.
2. Wenn dieser Krieg also unvermeidlich ist, dann müssen wir ihn bald möglichst führen, solange uns vor allem Russland in der Rüstung nicht überholt, wir Russland also noch besiegen können.
3. In einem Krieg gegen Russland wird diesem immer Frankreich zur Hilfe kommen.
4. Diesen Zweiforntenkrieg können wir nur gewinnen, wenn wir einen der beiden Gegner sehr schnell besiegen.
5. Es ist unmöglich Russland schnell zu besiegen.
6. Also muss Frankreich schnell besiegt werden.
7. Frankreich kann nur schnell besiegt werden, wenn wir den Festungsgürtel an der deutschen Grenze umgehen.
8. Das geht nur durch Belgien.
9. Ergo müssen wir schnellst möglich einen Krieg gegen Russland und Frankreich beginnen, und in Frankreich über Belgien einmarschieren. Selbst wenn die Chance auf diese Weise zu gewinnen
minimal ist,
ist es die einzige Chance um überhaupt zu gewinnen.
So ungefähr sehe ich die Überlegungen, die Moltke und Teile der Militärführung angestellt haben. Wohlgemerkt waren das nicht alle. Es gab durchaus andersdenkende Personen wie zB von der Goltz, der während seiner Amtszeit 1898 bis 1902 als Chef des Pionierkorps und Inspekteur des Festungswesens gerne im Westen die Festungen weiter ausgebaut und dort auf die Defensive gesetzt hätte. Diese haben sich nur leider nicht durchgesetzt.
Tatsächlich hätte man eben noch ein bißchen weiter denken müssen: Krieg ist unter diesen Umständen um jeden Preis zu vermeiden! Aber dieser rationalen logischen Schlussfolgerung stand dann ein falsch verstandenes Ehrgefühl (Mut <> Feigheit) und der aufkeimende Sozialdarwinismus (wenn wir nicht in der Lage sind zu gewinnen, dann haben wir die Auslöschung verdient) im Weg.
Sinnvoller wäre es auf jeden Fall gewesen, zumindest einen Krieg mit GB um jeden Preis vermeiden zu wollen. Und das ließ eigentlich nur der große Ost-Aufmarsch zu. Aber den hatte man ja aufgegeben. Im Juli 1914 gab es absolut keine Alternative zum Schlieffenplan!
Dass GB eventuell im Juli 1914 doch neutral bliebe (entgegen der bisherigen Annahmen) ergab sich zunächst aus einem Missverständnis zwischen Grey und Lichnowsky heraus, dass GB neutral bliebe und Frankreichs Neutralität garantieren würde, wenn Deutschland nicht im Westen angreift. Das führte dann auch zu dem Befehl Wilhelms II. den Aufmarsch im Westen zu stoppen, was Moltke für unmöglich erklärte - mit Wilhelms berühmter enttäuschter Antwort, dass "ihm sein Onkel eine andere Antwort gegeben hätte". Es wird ja vermutet, dass Moltke daraufhin sogar einen kleinen Schlaganfall bekommen hat. Erst als sich dieses Missverständnis klärte (dass GB Fs Neutralität nicht garantieren könne), wurde im Westen weiter mobilisiert. Dabei bestand tatsächlich eine reale Chance auf zumindest britische Neutralität, wenn man Belgien in Ruhe gelassen und von Anfang an das auch entsprechend kommuniziert hätte. Hätte man die Neutralität Belgiens von Anfang an uneingeschränkt garantiert, auf eine Kriegserklärung gegen Frankreich verzichtet und sich nur auf Russland konzentriert, halte ich eine Neutralität GBs für wahrscheinlicher als einen Kriegseintritt. Für das autokratische Russland zu kämpfen, war man in GB einfach nicht bereit im Gegensatz zu dem demokratischen Frankreich, mit dem man mehrere informelle militärische Abkommen hatte und sich in der liberalen Tradition verbunden fühlte. Und selbst hier sah man sich allenfalls moralisch verpflichtet, Frankreich zu unterstützen, wenn es angegriffen wird, aber nicht wenn es selber angreift, um ein "unvernünftiges" Russland zu verteidigen. Wenn man sich mal die öffentliche britische Meinung, die der Wirtschaftsvertreter, im Kabinett und bei den Parteibasen anschaut, dann war - bevor Belgien ein ernsthaftes Gesprächsthema wurde - eine Bereitschaft für einen unbedingten Kriegseintritt GBs nicht zu erkennen von wenigen Ausnahmen wie Churchill abgesehen.
Wenn sich also nun der deutsche Generalstab darüber klar gewesen sein soll war (mir ist so noch nicht bekannt geworden), welche enormes Risiko der Schlieffenplan bedeutete, dann stellt sich für mich die Frage, weshalb er dann nicht schon in der Vorkriegszeit alles dafür getan hat, um zumindest seine rüstunspolitischen Voraussetzungen zu verwirklichen?
Immerhin betrug die Friedensstärke des deutschen Heeres im Jahre 1911 „nur“ 506.000 Mann. Und im gleichen Jahre wurde lediglich eine Erhöhung auf 515.000 Mann beschlossen. Auch in den Jahren seit 1905 sah es nicht besser aus. Erst 1913 wurde beschlossen die Wehrkraft um 117.000 Soldaten zu erhöhen. Die lange relativ passive Haltung des Generalstabes in dieser Frage ergibt doch nur Sinn, wenn die Herren von einem kurzen Krieg ausgingen.
Nur gingen sie eben nach neueren Forschungserkenntnissen nicht wirklich von einem kurzen Krieg aus. Siehe hierzu neben
Förster auch nochmal
Herwig, Germany and the "Short-War" Illusion: Toward a New Interpretation?, in: The Journal of Military History, Vol. 66, No. 3 (Juli 2002), S. 681 ff. (über jstor abrufbar).
Zum Risko des Schlieffenplans: Es wurde in einer Studie der 3. Abteilung des deutschen Generalstabs von Mai 1910 - basierend auf Informationen des Geheimdienstes und aus französischen Militärpublikationen - festgestellt, dass die französischen Gegenmaßnahmen höchstwahrscheinlich einen schnellen Vormarsch noch vor dem Erreichen von Paris gestoppt hätten (
Förster, aaO, S. 145 f.). Tatsächlich war auch völlig unklar, wie die Truppen, die die französischen Truppen hinter dem Festungsgürtel einschließen sollten gegen Flankenangriffe, insbesondere auch durch die Pariser Geschütze, hätten verteidigt werden können.
Dass man hier rüstungstechnisch nicht bereit gewesen ist mehr durchsetzen zu wollen, lag auch an der fehlenden Kooperation zwischen ziviler Reichsleitung und der Militärführung.
Es ist nicht so, dass man überhaupt kein Geld gehabt hätte, um hier entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Leider war es aber so, dass man insbesondere im Kriegsministerium der Flottenrüstung mehr oder weniger bereitwillig den Vorrang einräumte und entsprechend bereit war selber auf Rüstungswünsche aus Gründen der Budgeträson zu verzichten. Die Finanzlage des Deutschen Reiches war alles andere als entspannt und ja auch Grund für die Reichsfinanzreform von 1909. Wermuth hatte ein rigoroses Sparprogramm durchgesetzt, nach dem neue Militärvorlagen nur noch eingeführt werden durften, wenn auch neue Einnahmen zu ihrer Deckung geschaffen wurden. Hieran hatte sich das Kriegsministerium (auch zugunsten der Flotte) zunächst gehalten. Das war also ein innenpolitischer Verteilungskampf knapper Geldmittel, der noch durch die gesellschaftspolitische Brisanz der Frage, welche Steuern zu erheben seien, um neue Einnahmequellen für das Reich zu erschließen, verschärft wurde.
Auf der anderen Seite wollte das Kriegsministerium aber auch gar keine zahlenmäßige Vergrößerung des Heeres und stand insofern seit jeher in Konflikt zu entsprechenden Forderungen des Generalstabes, der hier durchaus auch schon früher, jedenfalls seit 1911 eine drastische Vergrößerung des Heeres gefordert hatte. Das Kriegsministerium war aus verschiedenen Gründen dagegen gewesen. [FONT=Verdana, sans-serif]
Stein, Oliver, [/FONT][FONT=Verdana, sans-serif]
Die deutsche Heeresrüstungspolitik 1890 – 1914[/FONT][FONT=Verdana, sans-serif]
, Ferdinand Schöningh Paderborn 2007, hat recht gut herausgearbeitet, dass im Kriegsministerium vor allem eine Dichotomie zwischen Qualität und Quantität des Heeres gesehen wurde und man sich hier klar für ersteres entschied. Man sah im Kriegsministerium keine Möglichkeit einer schnellen Heeresvermehrung, die nicht gleichzeitig - mangels Ausbildung und einer entsprechenden Offiziersdecke - eine Verschlechterung in der Qualität bedeutet hätte. [/FONT]Und zum anderen gab es durchaus auch Befürchtungen, dass für die Erweiterung des Offizierskorps man auch auf vermehrt auf bürgerliche hätte zurückgreifen müssen, was dem (selbstverständlich irrationalen und obsoleten) aristokratischen Elitegedanken zuwieder lief. Und nicht zuletzt wollte man sich auch zumindest die theoretische Möglichkeit bewahren, das Heer im Inland gegen revolutionäre Bewegungen (wie man sie in der Sozialdemokratie sah) einsetzen zu können. Eine drastische Heeresvermehrung oder gar die tatsächliche Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht - ein Arbeiterheer - hätte das gerade auch mit bürgerlichen liberalen Offizieren wahrscheinlich unmöglich gemacht und zugleich den Arbeitern die Ausbildung zur Revolution an die Hand gegeben.
Diese fehlende Zusammenarbeit zwischen Militärführung ziviler Reichsleitung wurde auch von Moltke bemängelt. So schrieb Moltke in einer Denkschrift an Bethman im Dezember 1911:
“The leader of the military operations thus faces a task that can only be solved fruitfully if his preliminary work is in accordance with the political guidelines of the state.” zitiert nach
Mombauer, [FONT=Verdana, sans-serif]
Helmut von Moltke and the Origins of the First World War[/FONT][FONT=Verdana, sans-serif]
, Cambridge University Press 2001, S.[/FONT]154. Schon viel früher, nämlich 1909 war Moltke bereit damals noch Bülow bei dem Versuch eines Flottenabkommens zu unterstützen, weil er überhaupt keine Chance in der Flottenrüstung sah,
Mombauer, aaO, S. 117. Das hatte sich aber wohl Bülow nicht getraut gegen Tirpitz aufzugreifen. Motlke hielt es immer wieder für essentiell zu erfahren, wer Freund und wer Feind sei. Es sei Aufgabe der politischen Entscheidungsträger, das in Erfahrung zu bringen,
Mombauer, aaO, S. 119. Da gab es aber eben keine Rückkopplung. Bethmann hielt sich selbst in militärischen Dingen für zu unerfahren und arbeitete gar nicht mit dem GGS zusammen. Auf der anderen Seite war Moltke auch nicht gerade freigiebig mit Informationen (gerade der Handstreich zur Einnahme Lieges wurde stets verschwiegen). Nachdem Moltke schließlich gegenüber Bethmann den Schlieffenplan als einzige Möglichkeit den Krieg zu gewinnen bezeichnet hatte, nahm das Bethmann so hin. Selber wurde da nicht nachgedacht und auch gar nicht Alternativen eingefordert.
Um es nochmal zusammenzufassen: Man hoffte auf einen kurzen Krieg, weil man glaubte, dass alles andere sowieso zur Niederlage des Reiches führen würde, insofern es also eh egal war. Das ist die einzige Erklärung, die ich habe.
Und wenn man dann sich den Schlieffenplan nur etwas näher ansieht, tun sich so einige Fragen auf. Der Plan war quasi eine minutiöse Planung und sah doch den belgischen Widerstand nicht vor? Komisch, hat Schlieffen und sei Nachfolger geglaubt, es handele sich um einen friedlichen Durchmarsch? Dann ist der Faktor des erstklassigen und sehr leistungsfähigen französische Eisenbahnnetzes zu erwähnen, was sehr schnelle Truppenverlegungen erlauben würde. Dann die bekannten Kommunikationsprobleme bei der Führung eines Millionenheeres. Wie sollten die Armeen eigentlich wie ein Uhrwerk funktionieren? Dann die vorgegebenen Marschleistungen für die 1. Und 2. Armee bis zu 50 Kilometer je Tag und das im Hochsommer und schweren Gepäck. Und weshalb meinte man, dass die Franzosen nicht aus die Idee kommen könnten, die deutschen Armeen auf dem rechten Flügel überflügeln zu können? Und dieser Plan war die Siegesgarantie. Das hätte doch den Profis auffallen müssen und dann, das ist die Körnung, die Verletzung der Neutralität Belgiens und zu meines, Großbritannien hält die Füße still.
Tatsächlich war sowohl der belgische als auch der britische Widerstand einer möglichen Expeditionsarmee in Moltkes Denkschriften erwähnt worden. Moltke meinte dazu, dass man eben auf einen formidablen rechten Flügel
hoffen müsste.
Fazit: Allein schon die Prämisse, das ein Krieg unvermeidlich ist, zeigt, wie beschränkt die Denkweise mancher Entscheidungsträger gewesen ist. Der daraus und aus dem dringenden Wunsch nach einem kurzen Krieg gefolgerte Rest war entsprechend ebenso beschränkt. Wenn das Ergebnis dieses Wahnsinns nicht so wahnsinnig tragisch wäre, könnte man fast drüber lachen. So bleibt nur sprachloses Unverständnis und eine tiefe Traurigkeit über soviel sinnlos vergossenes Blut übrig.