Die Marokko-Krisen

Dieses Thema im Forum "Das Deutsche Kaiserreich" wurde erstellt von SimGeh, 17. April 2009.

  1. Turgot

    Turgot Aktives Mitglied

    Wie kommst du jetzt auf die Krise von 1908/09 wenn hier 1911/12 mit 1915 verglichen wird?
     
  2. silesia

    silesia Moderator Mitarbeiter

    Da habe ich lediglich 1 und 1 zusammen gezählt, und die österreichisch-ungarischen Monita zum Verhalten von Italien zum Anlass genommen, nach der Entwicklungsgeschichte von Artikel VII zu fragen. Siehe hier:

    Abgesehen davon, dass das kleine Gefecht von ein paar Torpedobooten kein Widerspruch zu Artikel VII mangels Gefährdung des territorialen Status Quo auf dem Balkan war, stellt sich logischerweise die Frage, wie es ÖU mit der "Kompensation" zuvor gehalten hat, deshalb meine einfache Frage:
    Die Klausel war doch sicherlich ernst gemeint und nicht Füllwerk im Abkommen. Immerhin fragte Aehrenthal am gleichen Tage des Zwischenfalls, ob Italien wirklich an Artikel VII erinnert werden müsste.

    Da muss er doch seine Erinnerung an die Bosnische Annexionskrise noch frisch vor Augen gehabt haben, oder?
     
  3. Turgot

    Turgot Aktives Mitglied

    Italien hatte in der Adria auch ein paar Inseln bestzt und das war ein Fall für Artiel 7.

    Zur Krise von 1908/09 wurde ein defacto Zustand in ein dejure umgewandelt. Darüber hinaus meine ich mich zu erinnern, dass Wien gemäß der Berliner Schlussakte.dqs Recht zur Annexion hatte. Aber das ist eigentlich nicht das Thema.
     
  4. andreassolar

    andreassolar Aktives Mitglied

    Hm, anregende Beiträge wie Diskussion.

    Alle Großmächte hatten zwischen 1887 und 1909 die "Anwartschaft" Italiens auf Tripolitanien anerkannt, auch Ö.-U.. (Afflerbach, Dreibund, 691), wenn auch diese Art der "Durchführung" so nicht erwartet noch gewünscht wurde.

    Der Versuch italienischer Streitkräfte, den eigenen Nachschub durch die Versenkung der türkischen Torpedoboote in den albanischen Häfen zu sichern, gehörte zu den Ausgriffen über das eigentliche Kriegsgebiet hinaus, während die ital. Reg. zuvor bereits den Großmächten versichert hatte, nur am Kriegsschauplatz selber aktiv zu werden.

    Am 10.10.1912, nach dem Protest Aehrentals gegen die ital. Militäraktion gegen die türkischen Torpedoboote, verpflichtete sich die ital. Reg. gegenüber Ö.-U., keine weiteren Kampfhandlungen an der albanischen Küste gegen türkische Streitkräfte durchzuführen. (Afflerbach, Dreibund, S. 702)

    Aehrental hatte noch vor einer möglichen Ausweitung des Kriegsgebietes durch ital. Truppen in Richtung Ägäis im Nov. 1912 gewarnt und eine dadurch mögliche Verletzung des genannten Artikel VII des Dreibundvertrages formuliert. (Afflerbach, S. 702).
    Im Frühjahr 1912, nach Berchtolds Amtsantritt, lenkte die Ö.-U.-Regierung nach diplomatischen Bemühungen des Dt. Reiches in Hinsicht der problematisierten Kriegsgebietausweitung durch die ital. Regierung in Richtung Türkei ein. Zuvor hatte die ital. Regierung die reichsdeutsche um Einwirkung wegen des Themas auf Ö.-U. gebeten. (Afflerbach, S. 704)

    Daher bleibt festzustellen, dass die Frage einer Kompensation durch "Randerscheinungen" des Krieges nie ins Zentrum rücken oder politisch wirksam werden konnten.

    Weitere allgemeine Verwicklungen durch die Kriegsausweitung drohten noch genug, schon im Dezember 1911 wurde Sasonov, der russ. AA-Chef, wg. der möglicherweise drohenden Dardanellen-Sperrung in Folge der sich abzeichnenden Ausweitung des Kriegsgebietes in Richtung Türkei diplomatisch tätig.

    Das alles dürfte euch schon bekannt sein, schätze ich.

    Aehrental war übrigens Anfang 1912 vom Amt zurück getreten.


    Was kann uns das in Hinsicht auf die Marokko-Krise II an historischem Verständnis bringen?

    Das Offenkundigste war - wohl auch, aber nicht nur im Sinne Afflerbachs - die damalige Einsicht, dass die Einbeziehung der anderen Großmächte in Form von Verhandlungen oder Vermittlungsversuchen, Kompensationen und Konferenzen bei der Frage von "Einflußgebieten" oder Kolonien etc. zu langwierigen Prozessen und häufig als unbefriedigend empfundenen Kompromissen und Verträgen führen konnte.

    Die italienische Reg. wollte das von Anfang an vermeiden/umgehen und eine echte, praktisch sofortige wie vollständige Annexion durchführen, was sich deutlich, wenn nicht grundsätzlich von dem Scheibchen-Vorgehen und der langsamen Aushöhlung der bisherigen bisherigen Machtstrukturen in Verbindung mit der formalen Anerkennung des vorhandenen Regimes z.B. in Marokko unterscheidet, soweit ich sehe.

    In Libyen wurden mit der Annexion durch die ital. Reg. sämtliche Vorrechte/Recht anderer Großmächte einseitig anuliert, wenn ich mich recht erinnere, auch die des Dt. Reiches. Das war so nicht mal nach der Marokko-Krise II. eingetreten, wenn ich recht sehe.

    Allgemein betrachtet, war das Vorgehen der ital. Regierung, in Libyen möglichst schnell und ohne Zulassung von Verhandlungen oder Konferenzen durch Militäraktionen/Krieg vollendete Tatsachen zu schaffen, wenngleich mit vorausgehender langjähriger diplomatischer Grundsatzabsicherung, durchaus wohl Vorbild für die Balkanstaaten für den Balkankrieg I.

    Ich finde sogar, man kann von der Marokko-Krise II über das Handeln der ital. Regierung in Fall Libyens eine Linie bis zum Verhalten der Regierung Ö.-U. sowie des Dt. Reiches im Fall der Juli-Krise 1914 ziehen: Nur ja keine (multilateralen) Verhandlungen oder Konferenzen, in Verbindung zumindest mit der Idee eines möglichst schnellen militärischen Vorgehens, welches vollendete Tatsachen schaffen sollte, welche dann hinterher von den anderen Großmächten nur noch anerkannt werden können sollte.
     
  5. Turgot

    Turgot Aktives Mitglied

    Aehrenthal sein Rücktritt, der aufgrund seiner tödlichen Krankheit mehrfach eingereicht worden war, wurde am 17.02.1912 von Franz-Joseph angenommen. Noch am gleichen Tage ist Aehrenthal gestorben.
     
  6. andreassolar

    andreassolar Aktives Mitglied

    Hallo Turgot,

    Aehrenthal hat aufgrund Seiner Erkrankung bereits seit Anfang 1912 nicht mehr gearbeitet. Dass der Rücktritt sozusagen erst nach Wochen angenommen wurde, spielt für diesen Thread keine Rolle, da Aehrenthal seit Jahresanfang nicht mehr arbeitete bzw. die Außenpolitik nicht mehr mitbestimmte.

    Viele Grüße,

    Andreas
     
  7. Turgot

    Turgot Aktives Mitglied

    Du hast oben selbst das Thema in die Diskussion eingebracht. Und der 17.02.1912 ist zu Beginn des jahres 1912.
     
  8. andreassolar

    andreassolar Aktives Mitglied

    Hallo Turgot,

    den 17. Februar würde ich nicht noch als Anfang des Jahres bezeichnen.

    Im Detail schreibt der tschechische Historiker Aleš Skřivan in seinem Aufsatz Aehrenthal - Das Profil ein österreichischen Staatsmannes und Diplomaten alter Schule, in: Prague Papers on the History of International Relations. 2007, Vol. 11, s. 179-194, dass

    - Aehrenthal natürlich bereits im Jahre 1911 aufgrund seiner schweren Erkrankung Leukämie lange Urlaube nehmen musste und von der Krankheit zusehends erheblich geschwächt wurde.

    - Aehrenthal nahm Anfang Januar 1912 bis Mitte 1912 erneut Urlaub, reichte danach, Mitte Januar, erneut ein Rücktrittsgesuch ein. Der Kaiser bat ihn, noch zu bleiben.

    - Aehrenthal war aber bereits stark geschwächt und ab Ende Januar konnte er das Bett nicht mehr verlassen.

    Mir ging und geht es in erster Linie darum, wieweit die Außenpolitik Ö.-U. spätestens ab Anfang 1912 nicht mehr primär die Handschrift Aehrenthals getragen hat bzw. darum, ob der Außenminister noch aktiv-gestaltend die Außenpolitik bestimmte. Das tat er wohl nicht mehr.

    Franz Joseph hat übrigens, folgt man Skřivan, das schwebende Rücktrittsgesuch am 15.2.1912 angenommen.

    Viele Grüße,

    Andreas
     
  9. Turgot

    Turgot Aktives Mitglied

    Nicht uninteressant sind auch, die geldpolitischen Rückwirkungen der Marokkokrise von 1911.
    Die deutschen Geld- und Kapitalmärkte litten bekanntermaßen unter einer latenten Schwäche; man benötigte ausländische Kredite. Allein gegenüber Frankreich betrug die durchschnittliche kurzfristige Verschuldung ca. 1 Milliarde Francs; also nicht gerade Kleingeld.
    Im Zuge der Krise kündigten französische Banken Kredite in Höhe von mehreren Hundert Millionen Mark. Das führte zu einer bedenklichen Geldverknappung in Deutschland. Ein nicht zu verachtendes Liquiditätsrisiko stellten auch die Kündigungen von Sparguthaben dar, mit die deutsche Bevölkerung auf die explosive Krise reagierte.
     
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  10. Turgot

    Turgot Aktives Mitglied

    Das Bülow und Holstein die Situation dermaßen falsch einschätzten, ist schwer zu begreifen. Von den USA konnte man schwerlich wirksame Unterstützung erwarten. Die Venezuela Krise, die Deutschland und die USA hart am Rande eines Krieges gebracht hatte, dürfte ausreichend für die Vereinigten Staaten gewesen, ganz gewiss nicht ausgerechnet Deutschlands Position zu stützen; vollkommen unabhängig davon, ob die Haltung der USA in der Venezuela Krise nun tatsächlich auch so ganz korrekt war.

    Russlands Flotte wurde im Mai 1905 von den Japaner auf dem Meeresboden geschickt und trotz Bemühungen Wilhelms, wurde das Abkommen von Björkoe von der russischen Regierung nicht akzeptiert. Also auch hier Fehlanzeige.

    Italien hatte seine Streitigkeiten mit Frankreich beendet und schon bündnispolitische Absprachen mit Paris vereinbart. Auch in Berlin wußte man, das auf Rom nicht mehr wirklich zu zählen war.

    Blieb nur noch Wien und der Ballhausplatz war nur sehr mäßig begeistert über diese unnötige Krise, die England nur noch weiter von den Mittelmächten trieb und Paris und London eher zusammenschweißte.

    Wer sollte also eigentlich die deutschen Vorstellungen auf der Konferenz zum Erfolg verhelfen? Das Ergebnis ist bekannt und hätte man im AA auch so vorher sehen können. Es bleibt schwer zu begreifen, diese von Berlin inszenierte Krise.
     
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  11. hatl

    hatl Premiummitglied

    Nachdem der Nikolaus vom Kaiser bequatscht wurde schlugen Lambsdorff und Witte die Hände über dem Kopf zusammen. Ja weiß denn Zar nicht, dass wir ein Bündnis mit Frankreich haben?
    Witte hatte gerade erst den Frieden von Portsmouth erfolgreich verhandelt, die russische Revolution von 1905 war in vollem Schwung , Russland auch finanziell pleite, und Witte, der auch hier engagiert ist, verzweifelt über die Länge der Konferenz.
    Denn, so erinnert er, wäre die Gewährung dieser überlebenswichtigen Kredite nicht ohne absehbares Ende der Verhandlungen in Algeciras möglich gewesen.
    ..und das zieht sich.
    Schließlich wird sich sogar Österreich beteiligen.
    Doch Frankreich wird zur größte Quelle der Anleihen.
    Russland überlebt und legt anschließend ein so erstaunliches Wachstum seiner Wirtschaft hin, dass auf Russland als neues Amerika gewettet wird.
    Auf Russland wollte das DR aber nicht wetten.

    Und wohl konnte auch Russland das DR nicht unterstützen.

    Ich denke, so wie Du auch andeutest, dass das "Persönliche Regiment" des Willi außenpolitisch ein böser Rohrkrepierer war.
     
    Zuletzt bearbeitet: 29. Juni 2021
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  12. Turgot

    Turgot Aktives Mitglied

    Das "Persönliche Regiment" Wilhelms war in der Tat eine einzige Katastrophe. Russland konnte überhaupt niemanden unterstützen, denn man hatte, wie du schon zutreffend anmerkst, mehr als genug eigene schwerwiegende Probleme.

    Diese Strategie von Holstein, die Entente auseinander zu manövrieren, fehlte jegliche Grundlage. Holstein war wohl eben doch nicht lange genug Schüler von Bismarcks, denn er hat definitiv zu wenig von diesem gelernt.
     
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  13. Naresuan

    Naresuan Aktives Mitglied

    Etwas ins Grübeln bringt mich eine Meldung in der Schweizerischen Militärzeitung vom 3. Februar 1906, also zwei Wochen nach Beginn der Konferenz von Algeciras.
    Sie bezieht sich auf einen Artikel in der NZZ und der wiederum auf eine Meldung im "Echo de Paris", wonach der französische Gesandte in der Schweiz beim Bundespräsidenten sondiert habe, ob ein Schweizerisches Gendarmeriekorps für Marokko möglich wäre.
    https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=asm-003:1906:52::582
    Das war ja einer der deutschen Vorschläge an der Konferenz, der von Frankreich bekanntlich vehement abgelehnt wurde. Warum also sprach Frankreich mit der Schweiz darüber? Sah man seitens Frankreich eine Konstellation, in der es trotz Gegenwehr zu einer internationalen Polizeitruppe kommen könnte? Glaubte das DR vielleicht hier einen Hinweis für eine Unsicherheit Frankreichs bezüglich Standfestigkeit seiner Verbündeten zu erkennen?

    Nebenbei: die Schweiz schickte schließlich ein Jahr später nur zwei Offiziere nach Marokko. Oberst Armin Müller (Offizier) – Wikipedia als Generalinspekteur für die Polizei und seinen Adjutanten Hauptmann Fischer, wovon letzterer gleich wieder nach Hause reiste.
    Sie vertrat damit indirekt etwas die Interessen des DR. Was wäre wohl geschehen, hätte die Schweiz das Gesuch abgelehnt?
    Einen Niederländer wollten die Engländer nicht, die Franzosen sollen einen Dänen bevorzugt haben und die USA gab via Elihu Root, US-Aussenminister, bekannt:
    We do not care whether the inspector, if there shall be one, is Italian or Swiss.
    Papers Relating to the Foreign Relations of the United States, With the Annual Message of the President Transmitted to Congress December 3, 1906, (In two parts), Part II - Office of the Historian
     
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  14. Turgot

    Turgot Aktives Mitglied

    Hierzu noch ein paar Anmerkungen. Die Entente Cordiale überließ Ägypten den Engländern und Marokko den Franzosen.
    Im Falle von Marokko lag die Sache aber nicht so einfach. Hier stellte die Entente eine Verletzung des Madrider Vertrages aus dem Jahre 1880 da, mit dem sich nämlich einige Mächte zur Verpflichtung der Souveränität des Sultans und der Handelsfreiheit verpflichtet hatten.
    Deshalb wollte der englische Außenminister Lansdowne auch nicht, das dies öffentlich bekannt wird und im Vertrag geheim behandelt werden soll. England war nämlich eine der Signatarmächte des Madrider Vertrages.

    Unter dem Datum des 25.März 1904 schrieb Lansdowne an Cromer:
    "Wir haben uns immer zur Achtung internationaler Verpflichtungen bekannt und das Verhalten derer gebrandmarkt, die diese ignorierten. Wir können uns jeden Moment Fragen gegenüber sehen, die diesen Grundsatz zur Erörterung stellen, z.B. die Durchfahrt russischer Schwarzmeer-Flotte.
    Eine offene Bekanntgabe, daß wir auf die Seite der Völkerrechtsverletzter übergegangen sind, würde unseren Ruf einen verhängnisvollen Schlag verletzten. (1)

    Also, wenn es um das Empire ging, war London auch bereit völkerrechtliche Verträge sehenden Auges zu brechen.

    Na ja, auch in der Wilhelmstr. begann es den Verantwortlichen langsam zu dämmern, was die Stundegeschlagen hatte. Nur Wilhelm II. hatte nichts kapiert.

    BD, Band 2, 2.Teilband, Dokument 402, Seite 570
     
    Zuletzt bearbeitet: 7. Januar 2022
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  15. Turgot

    Turgot Aktives Mitglied

    Noch im Jahre 1901 waren die englischen und deutschen Interessen bezüglich Marokko konform. Beide Regierungen wünschten keine Veränderung des Status Quo und beide Regierungen würden eine unwürdige Behandlung des marokkanischen Gesandten, der kurz zuvor den englischen und deutschen Hof besucht hatte, wahrscheinlich übel vermerken.

    Diese Info ergibt sich aus einen Memo Lansdowns für eventuelle Fragen die Wilhelm II. den englischen König stellten könnte.
     
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  16. andreassolar

    andreassolar Aktives Mitglied

    Die Vorgeschichte ist halt die, sowohl Frankreich wie UK (und auch Spanien) waren vor der Entstehung des Dt. Reiches Kolonial-, Protektorats-Mächte, auch und gerade an der unmittelbaren Peripherie um Europa herum - Mittelmeerraum, Nordafrika usw.
    Und unter Bismarcks Regierung ab 1871 wurden wiederum keine kolonialen oder protektoratsähnliche Ambitionen und Ansprüche eben auf und in dieser Peripherie postuliert. Zementiert sozusagen auch auf der Berliner Konferenz von 1878 unter wesentlicher Prägung durch die Bismarck-Regie. Und das ging ja dann bis zu seiner Entlassung im Frühjahr 1890.
    Und keine Deal an der Peripherie, keine Expansion usw. bis 1890 war ohne Bismarcks Versuch der Einflussnahme, des Ausgleiches, der Ermunterung und Zusage, des Versuches der Installation ausgleichender Gegensätze vor allem zwischen den Pariser und Londoner Administrationen geschehen.
    Dieser Kurs der Abstinenz von der Peripherie änderte sich zunächst auch nach der Entlassung von Bismarck nicht. Dann schon - nichts demonstriert dies besser wie die beiden Marokko-Krisen aufgrund Berliner Ansprüche.
     
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  17. andreassolar

    andreassolar Aktives Mitglied

    Bismarck war die Herausforderung der geopolitischen und geostrategischen Lage des Deutschen Kaiserreichs als neue große europäische Kontinental-Großmacht zwischen den unmittelbar angrenzenden Großmächte-Nachbarn Frankreich und Russland stets klar und als heikel im politischen und militärischen Bewusstsein verankert.
    Dass diese Lage auf Dauer kaum lösbare politische, militärische, strategische und wirtschaftliche Aufgaben und Herausforderungen nach sich zog, ändert nichts an an der Tatsache, dass unter KWII. im Rahmen seiner persönlichen Regentschaft ab ca. Mitte der 1890er Jahre eine immer deutlichere und riskante Abkehr von den Bismarck'schen Leitlinien, Kenntnissen und Erfahrungen erfolgte.
     
  18. Turgot

    Turgot Aktives Mitglied

    Schon ab 1902 war das Thema Marokko und nebenbei auch Siam auf der Tagesordnung zwischen Paris und London.
    In einem der Gespräche zwischen den englischen Außenminister Lansdowne, der keinesfalls eine Liquidierung Marokkos wünschte, und den französischen Botschafter Cambon am 31.Dezember 1902 brachte Cambon klipp und klar zu Ausdruck, dass das Deutsche Reich mit der Marokkofrage nichts zu schaffen habe. Die einzigen wirklich interessierten Mächte seien Frankreich, Spanien und Großbritannien. Falls Deutschland zu irgendeinen Zeitpunkt auftreten und versuchen sollte, eine ansehnliche Rolle zu spielen, ihm bedeutet würde, das es keinen locus standi hätte.

    Der französische Botschafter Cambon hat wohl die Kleinigkeit übersehen, dass das Deutsche Reich Signatarmacht des Abkommens von Madrid aus dem Jahre 1880 war; übrigens ebenso wie auch Italien. Man meinte in Paris diese Mächte großzügig zu ignorieren und nicht konsultieren zu müssen. Das war also schon lange vor Ausbruch der Krise die Sicht der Franzosen. Hatte man in Paris geglaubt, das würde in Berlin einfach so geschluckt werden?
     
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  19. andreassolar

    andreassolar Aktives Mitglied

    Am 16. Juli 1881 schickt der AA-Unterstaatssekretär Busch in Berlin an den dt. Botschafter in Paris, von Hohenlohe folgende Mitteilung von Hand von Holsteins:

    Ew. beehre ich mich, beifolgend einen Ausschnitt aus der konservativen „St. James' Gazette**' sub petitione remissionis ganz ergebenst zu übersenden. Der Herr Reichskanzler hat den Artikel, welcher die Stellung
    Frankreichs zu England und zu Deutschland im Hinblick auf die nordafrikanische Frage bespricht, als „sehr beherzigenswert" bezeichnet. Für den Fall, daß Ew. Gelegenheit fänden, denselben mit Herrn Barthelemy-St. Hilaire zu besprechen, bittet Fürst Bismarck Sie, der Versicherung erneuten Ausdruck zu geben, daß Frankreich, wenn wir zu ihm auch nicht in dem von der „St. James' Gazette" vermuteten Bündnisverhältnis ständen, sich doch bezüglich seiner afrikanischen Politik durchweg auf unsre freundliche und wohlwollende Nachbarschaft verlassen könne.

    In Anknüpfung an diesen Auftrag bemerkte Fürst Bismarck noch, daß es vom sachlichen Gesichtspunkt der Interessen aus betrachtet ganz gut denkbar sein würde, die Frage, welche in dem blau angestrichenen
    Passus auf der ersten Seite des Artikels aufgeworfen wird, zu bejahen. Es gebe am Mittelmeer — wie schon in dem Erlaß Vom 8. April v. Js. ausgeführt ist — ein weites Feld, auf dem wir Frankreich ganz freie Hand lassen könnten, und ihm scheine die Hoffnung nicht ausgeschlossen, daß die französische Politik am Ende doch zu der Einsicht gelange, wie ein befreundetes Deutsches Reich mit 45 Millionen Einwohnern nützlicher und ein stärkerer Posten unter den französischen Activis sein würde als eine Million Elsaß-Lothringer. Frankreich könne sicher sein, daß wir seiner berechtigten Expansivpolitik am Mittelmeer niemals entgegentreten würden, und es liege Grund zu der Annahme vor, daß auch Rußland sich zu derselben ebenso wie Deutschland verhalten würde.​

    Wie schon mehrfach notiert, hielt sich die Bismarck'sche Außen- und Kolonialpolitik ganz aus der Peripherie Europas raus. Er mied jede Verwicklung/Konkurrenz mit den Expansionsplänen UKs und Frankreichs u.a. im 'Orient', Nordafrika, Naher Osten, Mittelmeerraum. Und Marokko.

    Dabei gab es von Seiten einiger Akteure des Handels, der Rohstoff-Industrie und expansionistischer Kreise vital formulierte Interessen und Ambitionen auch hinsichtlich Marokko. Bismarck sicherte sich in der Madrider Konvention lediglich die allen weiteren Großmächten und Neumächten wie den USA zugesicherte frei Handelsmöglichkeiten bzgl. Marokko.

    Daher sind die späteren Marokko-Ambitionen der neuen Außenpolitik unter von Bülow bzw. KWII. ein riskantes Spiel auf bereits seit Jahrzehnten verteiltem Imperiums-Raum.
    Es bringt m.E. daher nichts, wiederholt an irgendeinem Nach-Bismarck-Punkt, gar nach 1900, die angebliche Benachteiligung des Dt. Reiches durch die 'dreiste' Pariser Administration zu postulieren.
     
  20. andreassolar

    andreassolar Aktives Mitglied

    Ungeachtet des schon in 1920ern gelegentlich in Erscheinung getretenen, leicht beleidigt wirkenden Nationalismus, welcher die ungerechtfertigte Misshandlung Deutschlands Interessen & Ambitionen historisch belegen wollte:

    Die Bismarcksche Macht- u. Aussenpolitik nahm mit Reichsgründung einige elementare Tatsachen zur Kenntnis & darauf Rücksicht
    • die europäische Perepherie war schon etablierter Grenz- u. Machtraum der etablierten Großmächte
    • daher: Finger Weg für Berlin aufgrund sonst möglicher Verwicklungen
    • mit der Beeinflussung, Vermittlung, Ermunterung, Unterstützung und gegeneinander Ausspielens des Geschachers der europäischen GroßmachtNachbarn in der Perepherie lenkte B. von der heiklen geopolitischen Lage als frischgebackene Großmacht - eingezwängt zwischen Großmachten Frankreich und Russland - ab
    • speziell die Pariser Regierungen, die französische Innenpolotik sollten damit auch vom Verlust Elass-Lothringens abgelenkt werden
    • andererseits versuchte B. mit der Förderung dieser Art imperialer Beschäftigungstherapie bei den Nachbarn diese auch von einer Allianzbildung untereinander zulasten des dt. Kaiserreich abzuhalten.
    Auch nachdem Bismarck seit seiner Entlassung nicht mehr die Außenpolitik wesentlich prägen konnte - die genannten Tatsachen oder Erfahrungen änderten sich nicht.
    Und die Art der Etablierung Berliner Interessen in Marroko ignorierte dies zu sehr.

    Daher bringt also m. E. wenig, irgendwo in den Post-Bismarckschen Jahren und vor 1914 einen vermeintlichen außenpolitischen Nullpunkt als Ausgangspunkt setzen zu wollen.
     

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