Die Neolithische Revolution in Europa - Wie und warum?

Ich habe zwar nicht jeden Artikel dieses Threads durchgelesen, aber mir scheint, dass es in dem Thread ein bisschen an der korrekten Zuordnung der indigen-europäischen und der bandkeramischen Gruppen zu bestimmten Kulturstufen mangelt.

Die indigenen Europäer waren zur Zeit der Zuwanderung der LBK-Leute noch Wildbeuter, lebten also vom Sammeln und Jagen. Die im 6. Jt. vuZ. aus Südosteuropa nach Mittel- und Westeuropa einwandernden Bandkeramiker waren hauptsächlich Rinderhirten (Männer) und Ackerbauer (Frauen). In den Beiträgen lese ich aber nur von einwandernden ´Ackerbauern´. Das ist natürlich nicht nur unvollständig, sondern auch irreführend, denn das Rinderhirtentum bedeutete einen enormen zivilisatorischen Fortschritt gegenüber dem Ackerbauertum durch die Produktion ökonomischen Überflusses, was erstmals in der menschlichen Geschichte das Phänomen des ´Reichtums´ erzeugte (auf Seiten der Herdenbesitzer). Die Differenz zur europäischen indigenen Kulturstufe betrug also nicht nur eine, sondern zwei Stufen (dazwischen liegt der den Indigenen unbekannte Ackerbau).

Der Grund für die Migrationsbewegung dürfte in der ernährungstechnisch bedingten Bevölkerungszunahme der Hirten-Bauern-Gruppen liegen, was die Suche nach neuen Weide- und Anbaugebieten erforderlich machte. Etwa im gleichen Zeitraum wanderten von Anatolien aus, möglicherweise auch aus dem Iran, Hirten-Bauern-Gruppen nach Syrien und Mesopotamien ein, wo sie auf Ackerbaukulturen stießen. Daraus entwickelte sich die Ubaid-Kultur.
 
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Ein wichtiger Aspekt zum Verständnis der neolithischen Revolution sind Klimaänderungen. Anhand der Bohrkerne des Grönland- und Antarktis-Eis konnten globale Klimazyklen von jeweils gut tausend Jahren Dauer ermittelt werden, an deren Ende für Europa jeweils eine etwa zweihundert Jahre andauernde Kälteperiode steht. Der letzte Zyklus endete mit der "kleinen Eiszeit" des 16.-18. Jahrhunderts, dessen Konsequenzen (Bauernkriege, dreißigjähriger Krieg etc.) allgemein bekannt sind. Der vorherige Zyklus endete in der Kältephase der Völkerwanderungszeit, der Einbruch davor markiert den Übergang von Bronze- zu Eisenzeit. M.a.W.: Unsere traditionelle Einteilung in historische Perioden korrespondiert mit diesen Klimazyklen; die Kältephasen erzwangen jeweils technologische Innovation und politisch-soziale Neuorientierung.
Die neolithische Revolution in Mitteleuropa folgte dem sog. 8.2 ky-Ereignis, also der Kälteperiode von etwa 6.200-6.000 v. Chr. In dieser Phase waren die Neolithiker auf dem Balkan gezwungen, ihr "technologisches Paket" an kühlere Klimata anzupassen, u.a. durch stärkere Ausrichtung auf Viehwirtschaft und den Wechsel zu kälte- und feuchtigkeitsresistenteren Getreide- und Kulturpflanzen. Dieses neue "Paket" ermöglichte dann bei einsetzender Wiedererwärmung zunächst die Besiedelung des pannonischen Beckens - die "Wiege" der Bandkeramiker lag zwischen Wien, Budapest und dem Plattensee. Von dort aus erfolgte dann Ausbreitung entlang der großen Flußsysteme (March->Elbe/Oder; Donau->Rhein) bis zu den Lößebenen (Börden) nördlich der Mittelgebirge, und zwar durchaus zügig, mit etwa 250 km/ Jahrhundert, also gut 60 km je Generation. Von diesen archäologisch gut fassbaren Siedlungszentren alle 60 km (insbesondere die Tschechen haben da hervorragende Arbeit geleistet) wurden anschliessend die Zwischenräume verdichtet und Nebentäler aufgesiedelt. Die Ursiedlungen verblieben "Hauptorte" mit 10-12 Langhäusern je Siedlung, um sie herum entstand ein Geflecht von "Nebenortern" (4-5 Langhäuser) sowie zerstreuten Einzelgehöften.

Der ernährungsphysiologische Vorteil verkehrte sich rasch ins Gegenteil - fast alle unserer bekannten Krankheiten (Masern, Grippe, Pocken, Tuberkulose etc.) sind Zoonosen, d.h. können sich vom Vieh auf den Menschen oder umgekehrt verbreiten. Die verheerende Wirkung solcher Krankheiten auf noch nicht immunisierte Bevölkerungen war in der Neuen Welt deutlich zu beobachten. Den ersten Bauern und Viehzüchtern ist es sicher nicht anders ergangen. Die inzwischen erworbene Grippeimmunität der Europäer zeugt von einem langen und intensiven Selektionsprozess. Gleiches gilt im übrigen für die in Zentralasien endemische Beulenpest, ebenfalls eine Zoonose, die mittelbar über Nagetiere (Getreidevorräte!) verbreitet wird, und deren "Export" nach Europa ja auch massive demographische Spuren hinterließ.
Analysen der mitochondrischen DNA (stabiler als yDNA) aus ungarischen und Thüringer Gräbern der Bandkeramik haben ergeben, dass die meisten frühen Linien ausgestorben sind. Die Zäsur wird ins 5. Jahrtausend datiert. Mein persönlicher Tipp ist die Grippe, und zwar insbesondere die Robbengrippe, die von an Nord-und Ostsee siedelnden, bereits immunisierten Robbenjägern (Ertebolle- und frühe Trichterbecher-Kultur) an die Neolithiker durchgereicht wurde, als diese sich zur Küste aufmachten. Interessanterweise haben sich die typisch europäisch-mesolithischen mtDNA-Haplogruppen U4/U5 deutlich besser in der heutigen europäischen Bevölkerung gehalten als die mtDNA der Bandkeramiker. Während U4/U5 bei frühen Neolithikern (Bandkeramik und Rössener Kultur) in Thüringen so gut wie gar nicht gefunden wurde (dafür aber bei [Robben-]jägern auf Gotland und in Südschweden vorherrschte), ist sie die dominierende Haplogruppe der Trichterbecherkultur (4.Jtsd.).
Jedoch rückten immer wieder "neolithische" mtDNA-Gruppen nach; aus Südosteuropa, aber auch vom Atlantik her (Michelsberger Kultur).So bildete sich im 4. Jahrtausend v. Chr. in Grundzügen die heutige mitteleuropäische mitochondriale DNA-Struktur heraus. Alles, was danach kam, einschließlich Glockenbecher, Völkerwanderung, Slawen etc., war auf der weiblichen Seite, genetisch gesehen, eher "Peanuts" (der Schwarze Tod hat jedoch, nach Analysen in Norwegen und England, noch mal zu spürbaren Veränderungen geführt). Bei der yDNA steht es wohl anders, dort liegen für das Neolithikum jedoch bislang nur vereinzelte, und dann meist relativ grobe, DNA-Analysen vor, so dass hier noch keine Einschätzung möglich ist.

Noch ein paar Worte zu den "zurückgebliebenen" Jägern und Sammlern. Hier haben Skandinavier, aber auch die Uni Kiel, in den letzten Jahren Bemerkenswertes über die die Ertebolle-Kultur herausgefunden. Nach der Flutung der Nordsee und dem Durchbruch der Ostsee im späten 6.Jahrtausend v. Chr. bot die Robbenjagd hervorragende Ernährungsbedingungen. Nicht nur das - Robbentran war auch guter Brennstoff, und fast jeder ergrabene Haushalt verfügte über tönerne Tranlampen (s. Anlage).Töpfe wurden u.a. aus dem Rheinland (Aldenhovener Platte) im Tausch gegen Bernstein, vielleicht auch gegen Pelze importiert. Daneben gibt es aus Südschweden Indizien für spezialisierte Keramik-Manufakturen.
Haselnüsse wurden systematisch kultiviert, als (lagerbare) Nahrung, aber auch, weil Haselruten als Rohmaterial für Flechtwerk wie Fischreusen, Körbe etc. dienten. Daneben ist im 5.Jahrtausend auch schon die Haltung von Hausschweinen archäo-genetisch belegt (Karte in Anlage, Dreiecke sind Hausschweine, Quadrate Wildschweine, Gelb=nah-östliche DNA). Dornenhecken (Schlehen, Hagebutten, Brombeeren) schützten wohl Hausgärten. Getreide wurde nicht angebaut - nicht, weil man es nicht schätzte. Südschweden spezialiserte sich auf die Produktion von steinernen Sicheln, die ins Baltikum geliefert wurden, und importierte das Getreide im Gegenzug von dort. [Was die Steinbearbeitung angeht, sind Jäger tendenziell im Vorteil - Pfeil-/Speerspitzen müssen viel öfter ersetzt werden als Sicheln. Auch die ersten Erzfunde wurden wohl eher beim Forelenfischen oder Jagen als beim Viehhüten gemacht.]
So ab 4.200 v.Chr. wurde dann auch in Mecklenburg und Holstein mit Getreideproduktion begonnen, jedoch nicht aus Not. Die Kieler Archäologen sprechen kryptisch von "kulturellen Motiven". Ein britischer Archäologe geht da einen Schritt weiter, und postuliert, mit durchaus überzeugenden archäologischen Belegen, dass es den damaligen Bewohnern Britanniens, Norddeutschlands und Skandinaviens weniger ums Brot, als vor allem ums Bier ging. Da passen dann auch die Trichterbecher ins Bild, die Braurückstände am Boden zurückhalten.
Skol!

Bei Interesse kann ich diverse Links zu den obigen Themen posten, fragt gerne entsprechend nach.
 

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Die Ursiedlungen verblieben "Hauptorte" mit 10-12 Langhäusern je Siedlung, um sie herum entstand ein Geflecht von "Nebenortern" (4-5 Langhäuser) sowie zerstreuten Einzelgehöften.

Umstritten ist in der Archäologie die Frage, ob die Langhäuser von matrifokalen Sippen bzw. Großfamilien oder von patrifokalen ´nuclear families´ bewohnt wurden. Wie siehst du das?

Noch ein paar Worte zu den "zurückgebliebenen" Jägern und Sammlern.

Nach meinen Informationen war der Anteil des von Frauen betriebenen Sammelns am paläolithischen bzw. epi-paläolithischen ´Bruttosozialprodukt´ deutlich größer (etwa 3/4 des BSP) als der Anteil des von Männern betriebenen Jagens. Bei heutigen Wildbeutervölkern ist das nicht anders. Man steigt in der Anthropologie deshalb zunehmend auf die Formel ´Sammlerinnen und Jäger´ o.ä. um (statt ´Jäger und Sammler´).
 
Die indigenen Europäer waren zur Zeit der Zuwanderung der LBK-Leute noch Wildbeuter, lebten also vom Sammeln und Jagen. Die im 6. Jt. vuZ. aus Südosteuropa nach Mittel- und Westeuropa einwandernden Bandkeramiker waren hauptsächlich Rinderhirten (Männer) und Ackerbauer (Frauen).

Es ist durchaus korrekt, von den "frühen Ackerbauern" zu sprechen, was natürlich zahlreiche Elemente der produzierenden Wirtschaftsweise beinhaltet. Insofern ist es verfehlt, allein auf die Rinderzucht abzustellen. Zahlreiche Knochenreste der LBK-Leute ergaben, dass die Bauern als Haustiere Rind, Schwein, Schaf, Ziege und Hund hielten. Daneben ging man häufig auf die Jagd, was Reste vom Ur, Wisent, Reh und Bär beweisen.

An Getreide pflanzten die Bauern - oder auch Bäuerinnen - Emmer, Einkorn, Weizen, Gerste und Hirse an, als Hülsenfrüchte kamen Erbsen, Bohnen und Linsen hinzu.

Die bandkeramische Bevölkerung bestand aus Wanderbauern, die ihr Dorf verließen, sobald der durch Brandrodung fruchtbar gemachte Boden erschöpft war. Der Rhythmus mag etwa 10-15 Jahre betragen haben.

Erst eine solche Gesamtschau ergibt ein vollständiges Bild von der Lebensweise der frühen neolithischen Bevölkerung Europas. Sie allein als "Rinderhirten" und "Ackerbäerinnen" einzusortieren, greift entschieden zu kurz. Inwieweit sich nun Männer allein um Tiere kümmerten, Frauen um die Bestellung des Bodens, bleibt der Spekulation überlassen. Wir haben keine belastbaren Belege dafür, dass eine derart rigide Arbeitsteilung erfolgte.
 
Sie allein als "Rinderhirten" und "Ackerbäerinnen" einzusortieren, greift entschieden zu kurz. Inwieweit sich nun Männer allein um Tiere kümmerten, Frauen um die Bestellung des Bodens, bleibt der Spekulation überlassen. Wir haben keine belastbaren Belege dafür, dass eine derart rigide Arbeitsteilung erfolgte.

Ich schrieb "hauptsächlich Rinderhirten (Männer) und Ackerbauer (Frauen)". Das schließt weitere Aktivitäten, auch die von dir genannten, selbstverständlich mit ein. Dass der Bedeutung der Rinderherden für die Ernährung einer Gruppe die Bedeutung des Ackerbaus deutlich übertraf, daran besteht sicher kein Zweifel. Durch die Rinderzucht war der Ackerbau ins zweite Glied gerückt.

Was die Arbeitsteilung betrifft, spricht nichts gegen die von mir genannte Zuordnung. Bereits im vorausgehenden kulturellen Stadium (Ackerbaukultur mit nebensächlicher Haustierzucht) hatte die Frau eine zentrale Rolle im Agrarwesen. Ich zitiere aus:

Harald Haarmann, ´Das Rätsel der Donauzivilisation. Die Entdeckung der ältesten Hochkultur Europas´, 2011

(S. 151)

Die Transformation der Wildbeutergemeinschaft zur Gesellschaft sesshafter Pflanzer und Ackerbauern bewirkte eine Zunahme der natürlichen Verantwortung der Frau für die Beschaffenheit der Grundnahrungsmittel. Die Frau (...) übernahm auch die neuen Aufgaben, Hülsenfrüchte anzupflanzen, zu ernten und zu horten. In engem Zusammenhang damit stand ihre Rolle, für die Fruchtbarkeit des Ackerbodens rituell Sorge zu tragen. Damit wurde die Frau zur Hüterin der Fruchtbarkeitsrituale in Verbindung mit dem Anbau von Nutzpflanzen. In diesem Sinn sind das Schwergewicht weiblicher Verantwortlichkeiten und die Vermehrung weiblicher Autorität in einer matrifokalen Gesellschaft an das Entwicklungsstadium der Sesshaftigkeit und an agrarische Lebensweisen gebunden.


Was die männliche Dominanz im Rinderzuchtbereich betrifft, ist eigentlich kein ernsthafter Zweifel denkbar. Die Rinderhaltung entwickelte sich aus der von Männern betriebenen Jagd und setzte eine Körperkraft voraus, die den Frauen naturgemäß nicht gegeben ist, zumal die Frauen auch damals im Schnitt deutlich kleiner waren als Männer (Frauen etwa 1,55, Männer etwa 1,70). Es wäre absolut unökonomisch gewesen, Frauen mit Aufgaben in der Rinderzucht zu betrauen, wenn kräftigere Männer den gleichen Job erledigen konnten.

Andersrum hatten die Frauen traditionelle Kompetenzen im Ackerbau, die ursprünglich auf ihrer paläolithischen Sammlerinnen-Erfahrung mit Kräutern usw. gründeten. Die Rinderzucht war also die logische Weiterentwicklung des männerdominierten Jagens (das ursprünglich gejagte Wild wurde domestiziert und gezüchtet), während der Ackerbau die logische Weiterentwicklung des frauendominierten Pflanzensammelns war (ursprünglich gesammelte Pflanzen wurden ebenfalls ´domestiziert´ und ´gezüchtet´).
 
Ich schrieb "hauptsächlich Rinderhirten (Männer) und Ackerbauer (Frauen)". Das schließt weitere Aktivitäten, auch die von dir genannten, selbstverständlich mit ein. Dass der Bedeutung der Rinderherden für die Ernährung einer Gruppe die Bedeutung des Ackerbaus deutlich übertraf, daran besteht sicher kein Zweifel. Durch die Rinderzucht war der Ackerbau ins zweite Glied gerückt.

Die Leute waren Ackerbauern, Viehzüchter und betrieben daneben noch kräftig die Jagd, was durch zahlreiche Funde gut belegt ist. Alles zusammen sicherte die Existenz der frühneolithischen Bevölkerung und sicher fand das etwa zu gleichen Teilen statt.

Was die Arbeitsteilung betrifft, spricht nichts gegen die von mir genannte Zuordnung. Bereits im vorausgehenden kulturellen Stadium (Ackerbaukultur mit nebensächlicher Haustierzucht) hatte die Frau eine zentrale Rolle im Agrarwesen. Ich zitiere aus:

Harald Haarmann, ´Das Rätsel der Donauzivilisation. Die Entdeckung der ältesten Hochkultur Europas´, 2011(S. 151)

Harald Haarmann ist Sprachwissenschaftler und da hat er durchaus seine Meriten. Für archäologische und früh- und vorgeschichtliche Statements fehlt ihm schlicht die Kompetenz. Was die neolithischen Kulturen auf dem Balkan betrifft, so hat Haarmann die in einer Publikation zur "Hochkultur" aufgepustet, die sogar Schriftlichkeit besessen haben soll. Allerdings folgt ihm kaum einer dabei, die auf Keramiken befindlichen Symbolzeichen als "Schrift" anzusehen, geschweige denn, dass jemals ein Wort dieser Schrift entziffert werden konnte.

Ferner sind seine Tendenzen, neolithische Gesellschaften als matrilinear, matrilokal oder matristisch zu klassifizieren, nicht belegbar. Solche Behauptungen sind nicht mehr als pure Spekulation.
 
Zu eurer Diskussion passt eine aktuelle Ausstellung, die noch bis nächstes Jahr in Freiburg läuft:
Ich Mann. Du Frau.

Feste Rollen seit Urzeiten?

Archäologisches Museum Colombischlössle
16. Oktober 2014 bis 15. März 2015
Viele Menschen gehen davon aus, dass es schon immer feste Geschlechterrollen gab, die naturgegeben sind und heutige Verhaltensmuster bestimmen. Aber was sagt die Archäologie dazu? Waren in der Urzeit tatsächlich Männer Jäger und Frauen Sammlerinnen? Um diese spannenden Fragen dreht sich die Ausstellung „Ich Mann. Du Frau. Feste Rollen seit Urzeiten?“.

Obwohl sich die Archäologie seit längerer Zeit mit Geschlechterforschung befasst, fanden ihre Ergebnisse bisher kaum Eingang in die öffentliche Gender-Debatte. Das soll sich nun ändern. Erstmals in Deutschland widmet sich eine Ausstellung dem aktuellen und hoch kontroversen Thema. Sie zeigt, welche Thesen wissenschaftlich belegt werden können und was lediglich eine Frage der Deutung ist. Archäologische Funde, darunter Leihgaben aus Frankreich und Österreich sowie international bedeutsame Fundstücke aus der Region, bieten einen objektiven Ausgangspunkt für eine rege Diskussion.

Schon in der Steinzeit gab es männliche, weibliche und gemischtgeschlechtliche Darstellungen des Menschen. Die Ausstellung gibt einen Überblick. Was verraten diese frühen Zeugnisse unserer Ahnen?

Ausgrabungen fördern häufig Alltagsgegenstände unserer Vorfahren zutage. Isoliert betrachtet bleibt oft unklar, ob sie von Männern oder Frauen hergestellt oder benutzt wurden. Eine Zuordnung ist nur möglich, wenn sie bei gut erhaltenen menschlichen Überresten gefunden werden, zum Beispiel in einem Grab. Da sich männliche und weibliche Skelette unterscheiden, kann die Anthropologie das Geschlecht bestimmen.

Doch selbst wenn die Gegenstände klar zugeordnet werden können, bleiben viele Fragen offen. Eine Doppelbestattung aus der Eisenzeit zeigt den Interpretationsspielraum, den schon eine einzelne Fundstelle bietet. Die Schau stellt mehrere denkbare Paarkonstellationen vor, von denen keine richtig sein muss.
 
@Dieter, Chan: Ich argumentier ein bißchen aus der Erinnerung - ich habe diverse Publikationen gelesen, aber nicht alle "gebookmarkt"; vergebt mir, falls ich das eine oder andere Detail falsch erinnere.
Die Bandkeramiker waren nicht homogen. Zwischen dem Elbe-Saale Raum und Südwestdeutschland (Neckartal) gab es wesentliche Unterschiede, und die Situation im Rheinland (Aldenhovener Platte) war nochmals anders. Ein Teil Eurer Debatte scheint daraus zu rühren, dass Dieter eher die Elbe-Saale-Bandkeramiker, und Chan eher die südwestdeutschen im Blick hat.

Sowohl im Elbe-Saale-Raum als auch im Rheinland scheint lSiedlungskontinuität vorgeherrscht zu haben. Belege hierfür sind u.a. über längere Zeiträume genutzte Friedhöfe und Brunnen. Die Langhäuser wurden mittels Pfostensetzungen ohne Stenfundamente erbaut, so dass die Stützpfosten irgendwann wegrotteten. Alle 1-2 Generationen mussten daher die Hauser neu gebaut werden. Dies erfolgte aber typischerweise in der unmittelbaren Nachbarschaft - man zog nicht weiter (bzw. nicht vollständig, ein Teil der Jüngeren ging während der Expansionsphase natürlich in noch nicht besiedelte Gebiete). Genanalysen haben teilweise direkte Verwandschaftsbeziehungen über 4-5 Generationen am selben Ort aufgezeigt. Strontiumanalysen deuten auf patrilokale Strukturen - die Frauen kamen typischerweise aus ca. 60 km Entfernung, also dem nächsten "Hauptort".
Im Elbe-Saale-Raum wurden kaum Wildknochen gefunden, über 85% der Tierknochen stammten von Haustieren. Der Fleischanteil an der Ernährung war substantiell, jedoch deutlich geringer als bei britischen Neolithikern des 4. Jtsd. oder westdeutschen Vergleichsanalysen (Herxheim, Nieder-Mörken). Dominierende Ernährungsgrundlage war also Ackerbau. Mist und Dung dürften früh zur Bodenverbesserung genutzt worden sein, mit allen bekannten hygienischen Folgen wie der Verbreitung von Durchfallerkrankungen. Knapp ein Viertel aller Gräber entfiel auf Kinder unter sechs Jahren. Bei der Ernährung gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Schwangere und stillende Frauen scheinen bei der Fleischzuteilung leicht bevorzugt worden zu sein. In einem Fall wurde jedoch auch eine Frau gefunden, deren Ernährung "als vegan klassifiziert werden kann". Gestillt wurde übrigens fast drei Jahre lang, so dass die Reproduktionsrate wohl nicht all zu hoch war, vielleicht durchnittlich fünf Kinder, von denen 2-3 das Erwachsenenalter erreichten.
https://openaccess.leidenuniv.nl/bitstream/handle/1887/19045/05.pdf?sequence=13
Das genetische Profil war überwiegend nah-östlich. Typische mesolithische DNA wurde in LBK-Gräbern im Elbe-Saale-Raum bislang nicht gefunden. Ob hier eine Art "Apartheid" zwischen bandkeramischen Bauern entlang der Talauen und "indigenen" Jägern in den Mittelgebirgen herrschte, oder letztere früh eingeschleppten Krankheiten zum Opfer gefallen waren, muss offen bleiben.
http://www.jungsteinsite.uni-kiel.de/pdf/2003_ostritz.pdf

Im Rheinland (Aldenhovener Platte) ähnelt das Gesamtbild dem Elbe-Saale Raum. Hier ist der intensive Mohnanbau (wohl nicht nur als Ölpflanze) bemerkenswert, der ansonsten nur im westlichen Mittelmeerraum belegt ist. Hinzu kommen Anzeichen für frühe spezialiserte Keramikmanufakturen, und Fernhandelsbeziehungen an die niederländische Küste und nach Holstein. Charkteristisch sind auch Feuersteinbergwerke mit spezialiserter Rohlingproduktion, etwa Rijkholt bei Maastricht, mit Vermarktung bis ins Münsterland und an den Oberrhein (Herxheim).
https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/arch-inf/article/viewFile/10059/3914
Maasfeuerstein

In Südwestdeutschland ist das Bild ein anderes. Hier ist "indigene" DNA (yDNA Haploguppe I) in LBK-Gräbern belegt (Stuttgart), wie sie auch bei Mesolithikern in Skandinavien und in Luxemburg (Loschbour) gefunden wurde. Der Fleischanteil an der Ernährung war deutlich höher. In einigen Siedlungen stammten etwa 50% der Tierknochen von Wildtieren (v.a. Wildschwein und Auerochse). Knochenuntersuchungen zeigten geschlechtsspezifische Abnutzungsspuren - bei Frauen v.a. Verschleiß im Hüft-und Kniebereich, bei Männern einseitige Abnutzung im rechten Schulter- und Armbereich, wie sie typischerweise durch wiederholte Wurfbewegung hervorgerufen wird. Der Anteil der durch Gewalteinwirkung Getüteten war deutlich höher als im übrigen LBK-Bereich. In einigen Massengräbern sind Frauen im fortpflanzungsfähigen Alter unterrepräsentiert bzw. fehlen ganz, was einige Forscher als Zeichen systematischen Frauenraubs deuten. Isotopenanalysen früher Gräber zeigten bei den Männern generell Ortsfestigkeit, jedoch großräumigere Wanderungen zwischen dem 7. und 12. Lebensjahr (gedeutet als Hirtentätigkeit im Bergland während des Knabenalters). Die Frauen stammten nicht aus dem näheren Umland, häufig auch nicht aus Lössgebieten. Bei späteren Gräbern lagen bei beiden Geschlechtern die Istopenverhältnisse im Rahmen der lokalen Varianz. Das Gesamtbild deutet auf eine "indigene" Jäger- und Sammler- bzw. transhumierende Gesellschaft, die über längere Zeit Frauen aus weiter enfernten (LBK?)-Siedlungen "importierte", und sich erst langsam neolithisierte und sesshaft wurde.
Isotopic Evidence for Mobility and Group Organization Among Neolithic Farmers At Talheim, Germany, 5000 BC | T. Douglas Price - Academia.edu
http://www.cardiff.ac.uk/share/resources/Early Farmers_Final programme and abstracts.pdf (v.a. S. 16f)
http://www.dirk-schimmelpfennig.de/ag_neo/pdf/AG-Neo_2006_Xanten.pdf (S. 5f)
Generell scheint es am Oberrhein zu einem Zusammentreffen der bandkeramischen (danubischen) neolithischen Expansion mit der mediterranen Neolithik, die sich aus Vorderasien zunächst in die Ägäis und nach Süditalien, dann im 6. Jtsd. auch die Rhone aufwärts verbreitete, gekommen zu sein (La Hoguette-Gruppe). Letztere basierte weitaus starker auf Viehhaltung als die Bandkeramiker im Elbe-Saale-Raum und in Böhmen/ Mähren, teilweise wird sie als "proto-neolithisch" mit starken mesolithischen Elementen gedeutet. Vor allem im südwestdeutschen Raum ist die Zuordnung einzelner Fundstellen zur Bandkeramik oder zur La Hoguette-Kultur umstritten bzw. aufgrund starker Funddurchmischung schwierig.
--
Hier, für alle, die ihn noch nicht kennen, Gronenborns wunderbarer Artikel zu Neolithisierung und Klima. Wer sich durch die metereologische Theorie am Anfang durchgekämpft hat, wird mit schönen Migrationskarten belohnt, die auch die Kontaktzonen von LBK und den "mediterranen Neolithikern" zeigen.
http://arheologija.ff.uni-lj.si/documenta/pdf36/36_5.pdf
 
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... Südschweden spezialiserte sich auf die Produktion von steinernen Sicheln, die ins Baltikum geliefert wurden, und importierte das Getreide im Gegenzug von dort. ...

Wie kann ich mir das vorstellen?
Wurde das Getreide auf dem Rücken von Pack-Tieren in Säcken befördert?
Mit Ruder- oder Segelbooten?
Ich mein, die mussten ja wesentlich mehr transportieren als sie selber konsumierten.
 
Die Leute waren Ackerbauern, Viehzüchter und betrieben daneben noch kräftig die Jagd, was durch zahlreiche Funde gut belegt ist. Alles zusammen sicherte die Existenz der frühneolithischen Bevölkerung und sicher fand das etwa zu gleichen Teilen statt.

Über das Verhältnis der Bedeutung von Rinderzucht und Ackerbau zueinander kann man sicher diskutieren; dass aber die Jagd denselben Stellenwert hatte (was du behauptest), ist mehr als unwahrscheinlich - obwohl du es als "sicher" ansiehst. Nach meinen Informationen machte die Jagd bei den Bandkeramikern nur 18 % der ingesamt erwirtschafteten Nahrung aus, der Rest fiel auf Viehzucht und Ackerbau.

Zur Rinderzucht:

Auf ihr beruhte die ´politische´ Fortentwicklung des Sozialsystems, nicht auf dem Ackerbau. Auch der Genesis-Mythos vom Hirten Abel, dem die göttliche Gunst galt statt dem Ackerbauern Kain, zeigt den Stellenwert des Hirtentums im kollektiven Gedächtnis der alten Kulturen. Wo werden Herrscherfiguren mit Bauern verglichen? Nirgendwo. Stattdessen nennt man sie ´Hirten´, die über das Wohl des Volkes wachen. Die Geißel, ein Werkzeug der Hirten, avancierte zum Symbol herrscherlicher Macht. Das Hirtenbild vom Herrscher hat zwar vordergründig die Macht des Hirten über seine Herde zur Basis, geht aber tiefergründig sicher die sozialpolitische Bedeutung des Hirtentums für die Herausbildung herrschaftlicher Macht.

Harald Haarmann ist Sprachwissenschaftler und da hat er durchaus seine Meriten. Für archäologische und früh- und vorgeschichtliche Statements fehlt ihm schlicht die Kompetenz.

Dazu sind zwei Dinge zu sagen.

1) Haarmann hat mehrere Jahre lang Archäologie studiert. 2) Das Kriterium einer "archäologischen Kompetenz" halte ich für fragwürdig. Schließlich ist es Fakt, dass gestandenen Archäologen zu bestimmten Themen oft gegensätzliche Meinungen vertreten, und zwar dann, wenn Funde unterschiedlich interpretiert werden können. Beispiel Peter Ucko, ein bekannter Archäologe, der die paläolithischen Frauenskulpturen als ´Kinderspielzeug´ zu deuten versucht und dementsprechend das Schamdreieck auf vielen dieser Figuren als ´Lendentuch´ interpretiert. Andere Archäologen sehen in diesen Figuren Pornopuppen zur Selbstbefriedigung einsamer Paläolithiker. Über beide Zuordnungen kann man nur lachen. Sie zeigen, dass ein Doktortitel keine Garantie dafür ist, dass Interpretationen einen Mindestgehalt an Seriosität haben. Der Zweck solcher ´Deutungen´besteht einzig darin, die kultische Bedeutung des Weiblichen im Paläolithikum herunterzuspielen.

(Ich will damit aber keine neue Debatte über diese Skulpturen eröffnen, da die Standpunkte ebenso eindeutig wie unversöhnlich sind. Von mir aus also kein weiterer Kommentar zu der Frage.)

Die Liste für Interpretationsdifferenzen zwischen Archäologen kann endlos fortgesetzt werden.

Was die neolithischen Kulturen auf dem Balkan betrifft, so hat Haarmann die in einer Publikation zur "Hochkultur" aufgepustet, die sogar Schriftlichkeit besessen haben soll. Allerdings folgt ihm kaum einer dabei, die auf Keramiken befindlichen Symbolzeichen als "Schrift" anzusehen, geschweige denn, dass jemals ein Wort dieser Schrift entziffert werden konnte.

Das wurde in diesem Forum schon mal diskutiert (2010, u.a. zwischen dir und Muspilli, wie ich herausfand). Muss man jetzt nicht reanimieren.

Ferner sind seine Tendenzen, neolithische Gesellschaften als matrilinear, matrilokal oder matristisch zu klassifizieren, nicht belegbar. Solche Behauptungen sind nicht mehr als pure Spekulation.

Solche Formulierungen sind mir von deiner Seite bestens vertraut. Es gibt aber starke Indizien für Matrilokalität im Neolithikum, die dementsprechend keine absolute Beweiskraft haben, aber - vor allem in der Summe - eine hinreichende Indizien-Grundlage für die Annahme von Matrilokalität bilden.

Auf Augustos interesssante Statements gehe ich in zwei Tagen oder so ein, bin gerade mit Remixen für eine kalifornische Sängerin beschäftigt.
 
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Wie kann ich mir das vorstellen?
Wurde das Getreide auf dem Rücken von Pack-Tieren in Säcken befördert?
Mit Ruder- oder Segelbooten?
Ich mein, die mussten ja wesentlich mehr transportieren als sie selber konsumierten.
Schiffahrt ist in verschiedener Form belegt, u.a. durch häufige Funde von Robben- und Walskeletten bis hin zu Orkas. Also noch nicht die ganz großen Wale, aber schon ganz ordentlich, entsprechend groß dürften auch die Boote gewesen sein. Da reichen eigentlich Einbäume nicht mehr, die Vermutung geht in Richtung größere Kajaks, also lederbespannte Holz- (oder Walrippen?)Gerüste. Boote hat man meines Wssens noch nicht gefunden, aber Holzpaddel. Ob die Boote auch Segel hatten? Es gibt wohl Felszeichnungen von Booten am Ladoga-See (damals noch zur Ostsee hin offen), da müsste man mal genau schauen...
Transport in Säcken halte ich für unwahrscheinlich. Faserpflanzen wurden ja noch nicht angebaut, blieb also nur Brennessel, und die wird sicher zunächst zu Kleidung verarbeitet worden sein. Ich tippe eher auf Körbe (Weide, Hasel), vielleicht auch Bälge, oder Tongefäße (Amphoren) wie am Mittelmeer.
Wir reden hier auch nicht über massenhaften Handel. Aber in Südschweden wurden 7-8 Scherben mit Eindrücken von Getreidekörnern gefunden, aus einer Zeit (2. Hälfte des 5. Jtsd.), wo Ackerbau nirgends in Skandinavien belegt ist. Es handelt sich hier um Weizen, Einkorn und Emmer, alles nahöstliche Kulturgetreide, die in Skandinavien nicht wild belegt sind, teilweise dort klimatisch gar nicht gedeihen.
http://lup.lub.lu.se/luur/download?func=downloadFile&recordOId=1978296&fileOId=2278599 (S. 102ff)
Andererseits gab es spezialisierte und massenhafte Sichelproduktion an der Küste, mit tausenden von Klingenfunden, teilweise "still packed tightly together as if they had been kept in a bag". Es mag auch einen gewissen lokalen Bedarf gegeben haben, z.B. zum Mähen von Brennesseln (die Blätter wurden wohl auch konsumiert), aber die Größenordnung der Produktion, sowie die Standardisierung der Klingen ("regularity appears to have been more important than ever"), deuten auf Export.
http://arheologija.ff.uni-lj.si/documenta/pdf30/30knutsson.pdf (S. 63f)
In der Keramik gibt es Bezüge zwischen Holstein und dem Rheinland (dort zeitgleich erste Bernsteinfunde), und zwischen Südschweden und der litauischen Narwa-Kultur.
Schwedische Archäologen deuten die Muster als Teil eines auf Festigung kultureller Austauschbeziehungen und v.a. auf Eheanbahnung gerichteten Systems. Schwiegermutti in spe kriegte ne schicke Bernsteinkette, oder auch einen Satz neue Sicheln, Töchterchen brachte als Mitgift Kochgeschirr und "exotisches" Getreide, vielleicht auch ein Hausschwein, mit nach Holstein oder Schweden. Unterwegs gabs dann wohl eher Salzhering, wenn das Jagen oder Fischen mal nicht so gut lief.
Interessant hier ist, dass den Frauen die Rolle der Innovationsverbreitung zukam. Neben der Töpferei, die nach kurzer "Importphase" schnell lokal weitergeführt wurde, umfasst dies auch die schrittweise Aufnahme der Haustierhaltung, vermutlich auch verbesserte Textilproduktion. Neuerungen in der Werkzeugherstellung (Sicheln, "Stein auf Stiel"-Äxte und Hämmer) könnten ebenso auf die zuwandernden Frauen zurückgehen, mögen aber auch Schwiegerpapa abgeguckt sein.
Schwedische Archäologen diskutieren ein "Hägar-Szenario" (mein Begriff), in dem die Frauen aufgrund ihrer technologischen Überlegenheit schnell auch die soziale Führung an Land übernahmen, und Matrilokalität zunahm, vielleicht sogar dominierte. Teilweise werden speziellen "Männerhäuser" postuliert, anderen zu Folge dienten diese Hauser dem Brauen und anschließenden Saufgelagen (Haselnussfermentierung ist an Topfscherben analytisch belegt), was aber letztendlich aufs Gleiche, nämlich Rückzugsräume für ihre Identität neu definierende Männer, hinausläuft. Auch die zunehmende Verdrängung der egalitären und kollektivistischen Gesellschaft der Wal- und Robbenfänger durch den Einzelhaushalt, mit Privatbesitz an (Garten-)Land und Haustieren, war sicher nicht konfliktfrei.
Vielleicht erklärt sich auch hieraus die relativ lange Phase des schrittweisen Übergangs vom seefahrenden (männlichen) Robben- und Walfang zum Ackerbau, und das "roll-back", in dem während des 4. Jahrtausends die stark ackerbauende Trichterbecher-Kultur in Skandinavien teilweise wieder durch die spät-mesolithische Grübchenkeramische Kultur ("pitted ware") verdrängt wurde. Letzteres hatte aber wohl auch mit Klimaverschlechterung (3.700-3.500 v. Chr.) zu tun. Weiterhin deuten (noch vereinzelte) DNA-Analysen darauf hin, dass die nordische Trichterbecher-Kultur zum Teil auf Einwanderung (interessanterweise mit einem den heutigen Basken ähnlichen DNA-Profil) beruhte, während die "pitted ware" genetische Kontinuität zum Mesolithikum zeigte, und auch näher an der heutigen skandinavischen DNA-Struktur liegt. Ob weitere DNA-Analysen dieses Bild bestätigen, und auch die bislang noch nicht genanalytisch bestätigten These des "Frauen-Imports" stützen, bleibt abzuwarten.
Grübchenkeramische Kultur ? Wikipedia
 
Zuletzt bearbeitet:
Augusto,

vielen Dank für Deine Antwort.
Hut ab! ..und ein großes Kompliment für Deine tollen Beiträge.

VG hatl
 
Es gibt aber starke Indizien für Matrilokalität im Neolithikum, die dementsprechend keine absolute Beweiskraft haben, aber - vor allem in der Summe - eine hinreichende Indizien-Grundlage für die Annahme von Matrilokalität bilden.
Das würde mich mal interessieren. Hast du ein paar Links für mich?
Ich kenne nur die Ergebnisse der Untersuchungen der genetischen Ähnlichkeit unter den Frauen und unter den Männern und die Isotopen-Verteilungen von Sauerstoff, Kohlenstoff und Strontium in den Zähnen der Opfer von Eulau, Talheim und Schletz, die für eine zu dieser Zeit vorherrschende patrilokale Kultur sprechen.
 
Das würde mich mal interessieren. Hast du ein paar Links für mich?
Ich kenne nur die Ergebnisse der Untersuchungen der genetischen Ähnlichkeit unter den Frauen und unter den Männern und die Isotopen-Verteilungen von Sauerstoff, Kohlenstoff und Strontium in den Zähnen der Opfer von Eulau, Talheim und Schletz, die für eine zu dieser Zeit vorherrschende patrilokale Kultur sprechen.

Das von einigen postulierte matrilineare europäische Neolithikum lässt sich wissenschaftlich nicht beweisen - man kann nur daran glauben.
 
Siehe der Einfachheit halber auch Wikipedia:

"...Matriarchatstheorien ... Insbesondere Heide Göttner-Abendroth verbreitet die Annahme eines neolithischen Matriarchats als geschichtliche Wirklichkeit. Der matriarchale Gesellschaftstyp soll nach ihrer Auffassung in der Jungsteinzeit (Neolithikum) global entstanden und am Ende der Bronzezeit gewaltsam abgelöst worden sein. Mit dieser Vorannahme interpretieren Anhänger der Matriarchatsidee alle neolithischen Fundorte als matriarchal und im Zirkelschluss als archäologischen Beweis einer matriarchalen Vorzeit. Diese Überzeugung speist sich nach Meret Fehlmann aus archäologischen Werken, „die nicht mehr den neuesten wissenschaftlichen Stand abbildeten und davon zeugten, dass eine Reihe großer Namen, vor allem der englischsprachigen Archäologie (Jacquetta Hawkes, James Mellaart, dem Entdecker von Çatalhöyük in den frühen 1960er Jahren, und Marija Gimbutas) nicht nur mit streng wissenschaftlichen Werken hervortrat, sondern auch Bücher publizierte, die sich an ein weiteres Publikum richteten.“ Hierdurch sei die Vorstellung der matriarchalen Vorzeit popularisiert worden, die Resultate ihrer Arbeiten und Ausgrabungen würden vom spirituellen Feminismus und der feministischen Matriarchatsforschung vereinnahmt und weiter popularisiert."

"Für viele Vertreter der These von der Existenz historischer Matriarchate, aber auch utopischer Matriarchatsvorstellungen war die Idee eines Kults der Großen Göttin zentral. Bereits Johann Jakob Bachofen vertrat diesbezüglich spekulative Vermutungen. Einflussreiche und bekannte Hypothesen über Religion und Kult historischer Matriarchate haben Robert Graves und Göttner-Abendroth vorgelegt."
Matriarchat ? Wikipedia
 
Danke. Ich habe zwei Bücher von Heide Göttner-Abendroth. Und da ich dort die von von @Chan postulierte "hinreichende Indizien-Grundlage für die Annahme von Matrilokalität" nicht gefunden habe, hatte ich um Links gebeten.
 
Danke. Ich habe zwei Bücher von Heide Göttner-Abendroth. Und da ich dort die von von @Chan postulierte "hinreichende Indizien-Grundlage für die Annahme von Matrilokalität" nicht gefunden habe, hatte ich um Links gebeten.

Wenn Dich die historische Entwicklung dieser Ideen interessiert, ist das hier ein gute Empfehlung (geht auch auf den Kontext und die s.g. "Indiziengrundlagen" ein):

Gentlemen and Amazons - The Myth of Matriarchal Prehistory, 1861–1900
Cynthia Eller, 2011.
 
In der heutigen Süddeutschen wird von Weizenfunden in Großbritannien aus einer Zeit berichtet, in der – nach bisherigen Erkenntnissen der Archäologie - so weit im Norden noch kein Weizen angebaut wurde: Besiedelung Europas – Zitat:

Paläogenetiker haben vor der Küste Großbritanniens Spuren von 8000 Jahre altem Weizen gefunden. Diese Region lag damals noch oberhalb des Meeresspiegels. Ackerbau war zu dieser Zeit aber erst in Südeuropa verbreitet. Der Fund ist daher rätselhaft.
 
In dem Artikel steht allerdings auch:
...Paläogenetikers Oliver Smith [...] Er bestimmte nicht nur das Alter des Weizens sondern zeigte zudem, dass das Einkorn vom Bouldnor Cliff genetisch betrachtet wohl aus der Region des Fruchtbaren Halbmonds im Nahen Osten stammt. Es zeigt jedenfalls keinerlei Übereinstimmung mit dem Genprofil von Getreide aus Nordeuropa oder Großbritannien.
 
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