Die Sowjetunion, die 2+Vier-Verträge & NATO-Osterweiterung

Im Tante-Wiki-Artikel NATO-Osterweiterung notierte ich im Abschnitt 3.1.1., Sowjetische Rezeption von NATO-Nichterweiterungsaussagen u.a.:

Die breite Zurückhaltung, Skepsis bis Ablehnung bei den sowjetischen Akteuren und Entscheidern schon gegenüber Genschers Tutzinger Positionen wie

  • der Ablehnung der Neutralisierung Deutschlands,
  • der Befürwortung der Mitgliedschaft eines Gesamtdeutschland in der NATO,
  • der Beibehaltung der NATO-Militärstruktur auf dem Gebiet der Bundesrepublik,
  • dem damit verbundenen Vorschlag, die NATO-Militärstruktur nicht auf das DDR-Gebiet auszuweiten,
kann vielfach und breit belegt werden, wobei ebenso sichtbar wird, dass Genschers Idee, die NATO möge allgemeine Aussagen treffen, das NATO-Gebiet generell nicht in Richtung Grenzen der Sowjetunion auszuweiten, bei den Moskauer Entscheidern und Akteuren praktisch völlig ignoriert wurde, bis auf den sowjetischen Außenminister Schewardnadse als einer der seltenen sowjetischen Politiker, die überhaupt auf den Genscher-Plan mit einer Bemerkung reagierten, und der einzige, der sich nicht sofort dagegen positionierte.

Hervorhebungen stammen von mir.

Die Arbeitsweise und Methodik/'Systematik' der Veröffentlichungen der Historikerin Mary Sarotte zum Thema, in diesem Faden vielfach referiert, scheint einer Art ausgeklügeltem Opportunismus zu folgen. Die Fähigkeiten, 99% der eindeutig ablehnenden Statements von sowjet. Seite zu ignorieren, und aus dem einen 1% nicht eindeutiger Ablehnung eine - allerdings wiederum formal wie inhaltlich nicht berechtigte, wie Sarotte gleich mitliefert - Zustimmung zu konstruieren, zu suggerieren, kann schon als ein gewisses Alleinstellungsmerkmal bezeichnet werden.
Und mit ihren Statements, Veröffentlichungen und Interviews kann sie beide Seiten bedienen.

Lesenswert sich Sarottes notorische 'Unschärfen' und vieldeutigen Positionierungen, ihre kleinen, aber bedeutsamen Differenzen zwischen den Veröffentlichungen bei Aussagen, Ereignissen usw., verdeckt hinter eine schieren Masse an Zitaten, Nachweisen und Belegen.
 
Dieser vielfach nachweisbare Opportunismus, diese 'Flexibilibtät' auf Basis einer notorischen Unschärfe, in Sarottes Publikationen kann an einem Beispiel gut dargestellt werden. Wiederum folgt ein Zitat aus dem WP-Artikel NATO-Osterweiterung, Abschnitt 3.2.1., Spätere Entwicklung der US-Positionen und Reaktion Russlands. George Bush sen. – Michail Gorbatschow, 1989–1991:

Von Baker existieren verschiedene handschriftliche, stichwortartige Notizen vom 8. Februar zu seinen Gesprächen mit Schewardnadse bei seinem Moskau-Besuch im Februar 1990. Darunter eine, die nach Sarottes 1989, 2014 erschienen, als eine der Kernaussagen Bakers – gegenüber Schewardnadse – bezeichnet wird, in ihrem Titel Not one Inch von 2022 andererseits als Zusammenfassung der Diskussionspunkte mit Schewardnadse: in einem vereinten Deutschland die NATO-Zuständigkeit oder die NATO-Militärstruktur nicht östlich auf das DDR-Gebiet auszuweiten.[94][95]End result: Unified Ger. anchored* in a changed (polit.) NATO –* whose jurisd. would not move* eastwards!

Hervorhebungen von mir.

In Sarottes Version aus '1989' werden Bakers Notizen zutreffend als eine Kernaussage Bakers gegenüber Schewardnase im Gespräch am 8.2.90, eben jene Idee auch schon aus Genschers Tutzinger Rede als Anregung oder Angebot für eine Diskussion und Verhandlungen, in einem vereinten Deutschland die (militärischen) NATO-'Grenzen' oder die NATO-Jurisdiktion nicht nach Osten auszuweiten, primär also nicht auf DDR-Gebiet, während das Gesamtdeutschland wiederum in einer veränderten NATO verankert bleibt.

In Sarottes neuester Version aus 'Not one Inch' wird - wieder unscharf - deutlich gemacht, Bakers Notizen wären eine Zusammenfassung der Punkte aus der gemeinsamen Diskussion mit Schewardnase.
 
Das Protokoll des Gesprächs zwischen dem damaligen DDR-SPD-Vorsitzenden Ibrahim Böhme und dem sowjetischen AA-Minister Schewardnadse vom 2. März 1990 in Moskau notiert u.a.:

Genosse Schewardnadse erklärte, daß die Variante, das vereinigte Deutschland in die NATO aufzunehmen, oder auch das 'Geschenk' Genschers, keine Truppen der NATO auf dem Territorium der DDR zu stationieren, nicht durchkommen wird. Bei allem Respekt für Herrn Genscher, der klug und listig sei, irre er aber, wenn er annehme, alle anderen im Osten seien naiv. […]“​
(Quelle: Ines Lehmann, Die Außenpolitik der DDR 1989/1990. Eine dokumentierte Rekonstruktion. Nomos, Baden-Baden 2010, Dokument 56, S. 486)​

Es gab kein mündliches Gentleman's Agreement, eine informelle Zusage aus Sicht der sowj. Führung.
 
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