Die Sowjetunion, die 2+Vier-Verträge & NATO-Osterweiterung

Dieser vielfach nachweisbare Opportunismus, diese 'Flexibilibtät' auf Basis einer notorischen Unschärfe, in Sarottes Publikationen kann an einem Beispiel gut dargestellt werden. Wiederum folgt ein Zitat aus dem WP-Artikel NATO-Osterweiterung, Abschnitt 3.2.1., Spätere Entwicklung der US-Positionen und Reaktion Russlands. George Bush sen. – Michail Gorbatschow, 1989–1991:

Von Baker existieren verschiedene handschriftliche, stichwortartige Notizen vom 8. Februar zu seinen Gesprächen mit Schewardnadse bei seinem Moskau-Besuch im Februar 1990. Darunter eine, die nach Sarottes 1989, 2014 erschienen, als eine der Kernaussagen Bakers – gegenüber Schewardnadse – bezeichnet wird, in ihrem Titel Not one Inch von 2022 andererseits als Zusammenfassung der Diskussionspunkte mit Schewardnadse: in einem vereinten Deutschland die NATO-Zuständigkeit oder die NATO-Militärstruktur nicht östlich auf das DDR-Gebiet auszuweiten.[94][95]End result: Unified Ger. anchored* in a changed (polit.) NATO –* whose jurisd. would not move* eastwards!

Hervorhebungen von mir.

In Sarottes Version aus '1989' werden Bakers Notizen zutreffend als eine Kernaussage Bakers gegenüber Schewardnase im Gespräch am 8.2.90, eben jene Idee auch schon aus Genschers Tutzinger Rede als Anregung oder Angebot für eine Diskussion und Verhandlungen, in einem vereinten Deutschland die (militärischen) NATO-'Grenzen' oder die NATO-Jurisdiktion nicht nach Osten auszuweiten, primär also nicht auf DDR-Gebiet, während das Gesamtdeutschland wiederum in einer veränderten NATO verankert bleibt.

In Sarottes neuester Version aus 'Not one Inch' wird - wieder unscharf - deutlich gemacht, Bakers Notizen wären eine Zusammenfassung der Punkte aus der gemeinsamen Diskussion mit Schewardnase.
 
Das Protokoll des Gesprächs zwischen dem damaligen DDR-SPD-Vorsitzenden Ibrahim Böhme und dem sowjetischen AA-Minister Schewardnadse vom 2. März 1990 in Moskau notiert u.a.:

Genosse Schewardnadse erklärte, daß die Variante, das vereinigte Deutschland in die NATO aufzunehmen, oder auch das 'Geschenk' Genschers, keine Truppen der NATO auf dem Territorium der DDR zu stationieren, nicht durchkommen wird. Bei allem Respekt für Herrn Genscher, der klug und listig sei, irre er aber, wenn er annehme, alle anderen im Osten seien naiv. […]“​
(Quelle: Ines Lehmann, Die Außenpolitik der DDR 1989/1990. Eine dokumentierte Rekonstruktion. Nomos, Baden-Baden 2010, Dokument 56, S. 486)​

Es gab kein mündliches Gentleman's Agreement, eine informelle Zusage aus Sicht der sowj. Führung.
 
Neubert hat die von seinen Mitarbeitern Stüdemann und Brett mit Datum vom 31. Januar 1990 verfasste Vorlage zur Unterrichtung für Außenminister Genscher unterschrieben und mit dem regulären Dienstweg über den Leiter der Unterabteilung, Höynck, dem Leiter der Politischen Abt., Kastrup, und Staatssekretär Sudhoff ans Büro von Genscher geschickt. Die Vorlage zur Unterrichtung dürfte 5-6 Word-Seiten lang sein, um mal die Größenordnung anzudeuten.
Der reguläre Dienstweg umfasste mehrere Stationen (auch der Selektion durch die höherrangigen Beamten), bevor sie Genscher vorgelegt wurden.

Eine ebenfalls mit Datum 31. Januar 1990 verfasste Vorlage zur Unterrichtung des Bundesaußenministers hatte der Leiter des Referates 210, Lambach, unterschrieben, gleichfalls zu den Äußerungen Gorbatschows zur Deutschen Einheit vor dem Fototermin mit Modrow am 30.1.90 - mit identischem Dienstweg über Höynk zu Kastrup, von Kastrup zu Sudhoff, von Sudhoff an Genscher.
Frühestens am 1.2.90 hat die Vorlage Lambachs Genscher bzw. sein Büro erreicht haben, wie die Anmerkungen mit den notierten Empfangsdaten zum abgedruckten Text Lambachs in Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1990, 1. Teilband, S. 88, zeigen.

Bei der Neubert-Vorlage gibt es anscheinend keine Eingangsstempel oder -Bestätigungen mit Datum....sieht so aus, als wäre das nicht über den nächsten Vorgesetzten, Höynk, hinaus gekommen....denn Neuberts Kollege Lambach, dessen Vorgesetzter ebenfalls Höynk war, hat sich dafür auf der Neubert-Vorlage mit einem Kommentar für Lamberts eigenen Mitarbeiter Brandenburg verewigt.....

Am 31.1.90 hatte offenbar Neuberts Vorgesetzter Höynk vor Neuberts Vorlage schon eine vom Referatsleiter Lambach und dessen Mitarbeiter und Co-Autor Brandenburg erhalten zum gleichen Thema, Gorbatschows Bemerkungen zur dt. Einheit beim Fototermin mit Modrow am 30.1.
Höynk leitete daher Neuberts Vorlage offenkundig nicht weiter, sondern gab sie Lambach (zur Kenntnis/zum lesen), der Neuberts Vorlage wiederum mit einem Kommentar versah für seinen, Lambachs Co-Autor Brandenburg, und diesem dann Neuberts Vorlage zukommen lies bzw. hinterlegte.

Lambach leitete damals das Referat 210, welches für die Bereiche Berlin und Gesamtdeutschland zuständig war. Gorbatschows Äußerungen vom Morgen des Vortages, 30.1.90, betrafen die beiden deutschen Staaten und ihre Zukunft. Das fiel eindeutig in die Zuständigkeit von Lambachs Referat; die oben genannte Vorlage von Lambachs Referat zu Gorbis Statements in Moskau konnte so natürlich die engere Zuständigkeit für sich behaupten im Vergleich zur Vorlage aus dem Referat von Klaus Neubert, welches für die SU zuständig war. Das macht noch plausibler, dass und warum Neuberts Vorlage nicht an Genscher bzw. sein Büro nicht weiter geleitet worden war.
 
Sarotte's 'Not on inch' erschien 2023 in einer deutschprachigen Ausgabe unter dem Titel 'Nicht einen Schritt weiter nach Osten'.
Zitate aus S. 73f. (PDF):


[...] Als Modrow pflichtschuldig am 30. Januar in Moskau erschien, machte Gorbatschow Bemerkungen zu Journalisten, die mit dem Gefühl in
der geheiligten Zone übereinstimmten: Die «Vereinigung der Deutschen» werde «nicht in Zweifel gezogen.»8 Am nächsten Tag schickte Klaus Neubert, ein Sowjetexperte im Auswärtigen Amt, eine überschwängliche Botschaft an seinen Chef. [...]
Neuberts übertriebene Darstellung hatte eine sofortige Wirkung auf Genscher. [...]
Am Tag, als Neubert ihn über Gorbatschows «Votum» für die Einheit informierte, beschloss der Außenminister offenbar, es sei an der Zeit, öffentlich zu erklären, wie er sein Versprechen halten wolle. In einer Rede am 31. Januar 1990 in Tutzing – wo bundesdeutsche Politiker in den 1960 er Jahren historische Reden über die Notwendigkeit einer Entspannungspolitik gegenüber dem Ostblock gehalten hatten – riet er Deutschlands Verbündeten, sich im Interesse der Vereinigung kompromissbereit gegenüber Moskau zu zeigen. Er wollte, dass die NATO «eindeutig [erkläre]: Was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten, das heißt, näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben.» [...]

Mehr ist auch in der dt-sprachigen Ausgabe über Genschers andere Punkte in dessen Tutzinger Rede nicht zu erfahren....

Die Story mit Neuberts angeblich überschwenglicher 'Botschaft' (es war eine 'Vorlage') und dessen angebliche Wirkung auf Genscher (die Vorlage hat Genscher nicht erreicht) kann als Konstrukt eingeordnet werden. Ebenso die weitere Beschreibung S. 74 bei Sarotte über angeblich wütende Reaktionen in Washington auf Genschers NATO-Ideen in Tutzing. Doch Sarottes eigene, nachfolgende Erklärung dazu gibt nicht her, was zuvor ambitioniert in Zusammenhang mit der 'NATO-Idee' Genschers gestellt wurde:

Bush und Scowcroft fanden «Genschers offensichtliche Umgehung einer Rolle der vier Mächte bei der Wiedervereinigung … irritierend.»
....und nicht die vermeintlich spektakuläre 'NATO-Aussage' Genschers.
Das belegt auch der Kabel-Bericht der US-Botschaft in Bonn über Genschers Tutzinger Rede am 31.1.90., meine ich.

Unter Punkt 3 von 'Summary and Comment' notiert der Bericht u.a (übersetzt mit deepl).:

Genscher deutet an, dass die Vereinigten Staaten im Rahmen der KSZE - und nicht in einer besonderen Beziehung zur EG - zur neuen europäischen Architektur beitragen werden. Von einer amerikanisch-europäischen Partnerschaft ist nicht die Rede, und die alte Idee der amerikanischen und europäischen „Säulen“ ist völlig verschwunden.

Dieser Punkt dürfte in Washington bei einigen Entscheidern und Akteuren für Fragen und Irritationen gesorgt haben.
 
@andreassolar,

kannst Du daraus eine Story machen, ein Narrativ?
Probeweise als Versuch.
Würde mich interessieren.
Das Hauptnarrativ sehe ich darin, dass eine m. E. sichtbare Wahrnehmungs- und Interpretationsverschiebung in Teilen von reichweitenstarken, politisch wirksamen und ‚führenden‘ ‚westlichen‘ bzw. deutschsprachiger Medien stattgefunden hat, in nennenswertem Umfang parallel auch im vor allem politikwissenschaftlichen und politikgeschichtswissenschaftlichen Feld an Unis bzw. bei Wissenschaftler:innen, was Äußerungen von ‚westlichen‘ Akteuren und Amtsträgern auf Regierungsebene Anfang 1990 hinsichtlich einer Nicht-Erweiterung der NATO auf das damalige Gebiet des WP bzw. hin zur westlichen Außengrenze der SU betrifft.

Eine m.E. erkennbare Bewertungsverschiebung wurde inzwischen sichtbar, häufig mit meiner Meinung nach teils nur noch rudimentären wissenschaftlichen Methoden fundiert oder belegt. Systematisch wird dabei vor allem nach scheinbar bestätigenden Belegen gesucht, geforscht.

Hatte Anfang 1990 praktisch niemand, weder in Kreisen der ‚westlichen‘ Politiker auf Regierungsebene noch in den Kreisen der Akteure und Entscheider und ihrer Berater in Moskau die teils so interpretierbaren oder teils so gemeinten Äußerungen von beispielsweise Baker und Genscher von Ende Januar + Februar zur Nicht-Natoausweitung als gemeinsames NATO-Angebot oder gar als gemeinsame, verbindliche Zusage, nach Annahme des Angebotes, der westlichen Entscheider an die SU-Administration bewertet, ebenso mehrheitlich in den Medien und in den politik- und geschichtswissenschaftlichen Bereichen an etlichen Unis, Akademien und bei den Wissenschaftler:innen selber, so änderte sich diese Interpretation in Teilen der Medien, in Bereichen der ‚kritischen‘ Wissenschaften und im nennenswerten Umfang bei geschichts- und politikwissenschaftlichen immer stärker ab den späteren 1990er, vor allem aber breitenwirksam ab dem Ukraine-Krieg seit 2022.

Ein Bespiel für die Wahrnehmungsveränderung, fast willkürliche Neuinterpretation und Neuerfindung von Kriterien bieten gewisse SPIEGEL-Artikel von/ seit 2022. Sie ignorieren u.a. ihre eigene Berichterstattung der ersten Hälfte des Jahre 1990.
 
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