(Dis)Kontinuität von Kultstätten

88 Beispiele in Italien erscheinen mir angesichts von -zigtausend alten Kirchen nicht sehr viel ...
Hier ist als erstes zu fragen: Wie viele Tempeln gab es für wie viele Bewohner? Ich würde sagen, es gab sie proportional zur Größe der Bevölkerung. Und weil in der Antike diese Größe gering war, ist es nicht statthaft die Anzahl der heutigen alten Kirchen mit der Anzahl der damaligen Tempeln in Verhältnis zu setzen.

Wie Du selber richtig zitierst, vergleichen wir die Zahl der Tempel mit der Zahl alter Kirchen, ich habe das exemplarisch mal an der Stadt Trier gezeigt, wobei ich hier nur Kirchen einbezogen habe, die sich auf die Spätantike zurückführen lassen. Wenn wir mittelalterliche Kirchen mit einbeziehen, kommen noch mindestens drei Kirchen dazu, die man in den ehemaligen Thermen eingerichtet hat; die Barbara-Therme hat ihren Namen von der Kirche St. Barbara, die heute nicht mehr existiert.

Die Bevölkerungsgröße im Hochmittelalter war nicht höher als in der Antike. In vielen Städten, darunter Trier und Rom, lag sie deutlich unter der antiken Bevölkerungsgröße.


Weiter: Wie viele von diesen Tempeln sind stehengeblieben, nachdem das Christentum zur Staatsreligion erklärt worden ist? Und wie viele von den zerstörten Tempeln wurden durch Profanbauten überbaut? Zerstörung und/oder Überbauung ist die effektivste Art, das Vergessen zu fördern.

Sicher ist, dass keiner dieser Tempel in Betrieb blieb. Einige wurden absichtlich zerstört, andere wurden zweckentfremdet, viele ließ man vergammeln; sie erlitten dasselbe Schicksal wie viele andere antike Bauten. Wo in der Völkerwanderungszeit die Aquädukte zerstört wurde, verfielen die Thermen. Man hat sie als Steinbruch benutzt oder auch mal eine Kirche eingebaut, je nachdem... Theater verloren ihre Funktion, wurden als Steinbruch benutzt und früher oder später umgebaut oder überbaut etc.

Zum Beispiel fehlt da zu meiner Verwunderung die Wallfahrtskirche Madonna del Soccorso in Ossuccio am Comer See, die an der Stelle steht, an der einst ein Tempel der Ceres stand. Die ganze Geschichte ist gut dokumentiert und davon habe ich bereits in dem Forum berichtet - wer will, kann hier http://www.30giorni.it/articoli_id_7331_l5.htm mehr erfahren.
Was ich da auf die Schnelle lese, ist, dass der Tempel zu Plinius' Zeiten schon verfallen war, und erst ca. 1500 Jahre später eine Kirche gebaut wurde.
Was sollte diese Kirche in der von mir verlinkten Arbeit zu suchen haben?
 
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Was ich da auf die Schnelle lese, ist, dass der Tempel zu Plinius' Zeiten schon verfallen war, und erst ca. 1500 Jahre später eine Kirche gebaut wurde.
Plinius denkt über einen Wiederaufbau des Tempels nach. Aber auch wenn er diesen ins Werk gesetzt hat, ändert das nicht an deinen Ausführungen.
 
Plin. epist. IX, 39
C. PLINIUS MUSTIO SUO S.

1 Haruspicum monitu reficienda est mihi aedes Cereris in praediis in melius et in maius, vetus sane et angusta, cum sit alioqui stato die frequentissima. 2 Nam Idibus Septembribus magnus e regione tota coit populus, multae res aguntur, multa vota suscipiuntur, multa redduntur; sed nullum in proximo suffugium aut imbris aut solis. 3 Videor ergo munifice simul religioseque facturus, si aedem quam pulcherrimam exstruero, addidero porticus aedi, illam ad usum deae has ad hominum. 4 Velim ergo emas quattuor marmoreas columnas, cuius tibi videbitur generis, emas marmora quibus solum, quibus parietes excolantur. Erit etiam faciendum ipsius deae signum, quia antiquum illud e ligno quibusdam sui partibus vetustate truncatum est. 5 Quantum ad porticus, nihil interim occurrit, quod videatur istinc esse repetendum, nisi tamen ut formam secundum rationem loci scribas. Neque enim possunt circumdari templa: nam solum templi hinc flumine et abruptissimis ripis, hinc via cingitur. 6 Est ultra viam latissimum pratum, in quo satis apte contra templum ipsum porticus explicabuntur; nisi quid tu melius invenies, qui soles locorum difficultates arte superare. Vale.
 
Der von Plinius beschriebene Tempel soll zwischen einem Fluss mit wohl steilabfallendeb Ufern und einer Straße gestanden haben, er sei von diesen umgürtet: nam solum templi hinc flumine et abruptissimis ripis, hinc via cingitur. Das sind die einzigen zur Örtlichkeit gemachten Angaben. Mit der oben genannten Kirche, die auf einem den See überblickenden Berg liegt, stimmen sie nicht überein.
 
Was ich da auf die Schnelle lese, ist, dass der Tempel zu Plinius' Zeiten schon verfallen war, und erst ca. 1500 Jahre später eine Kirche gebaut wurde.

Was sollte diese Kirche in der von mir verlinkten Arbeit zu suchen haben?
Die von dir verlinkte Arbeit behandelt „Tempel-Kirchen-Umwandlungen in Italien“ und dieser Heiligtum ist nicht dabei, obwohl es sich in Italien befindet und es dazu eine schriftliche Quelle aus der vorchristlichen Zeit gibt?

Der von Plinius beschriebene Tempel soll zwischen einem Fluss mit wohl steilabfallendeb Ufern und einer Straße.
(…)
Mit der oben genannten Kirche, die auf einem den See überblickenden Berg liegt, stimmen sie nicht überein.
Wie kommst du drauf?

Ich bin fast jedes Jahr dort und kann bestätigen, dass das „mit steilabfallendeb Ufern“ stimmt.

Hier ein Bild der Kirche:

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Rechts geht es steil bergab zum Fluss. Es ist so steil, dass man frei gar nicht herunter gehen kann, d.h. man braucht dafür eine Bergsteigererfahrung bzw. -ausrüstung.

Und auf der italienische Wikipedia steht dazu – Zitat:

Recenti scavi sotto il santuario hanno evidenziato tracce di impianto polivolumetrico tipico dei santuari pagani romani.

Übersetzung: Jüngste Ausgrabungen [von 1997] unter dem Heiligtum haben Spuren eines polyvolumetrischen Grundrisses offenbart, der für heidnische römische Heiligtümer typisch war.

Im übrigen habe ich bereits in 2015 https://www.geschichtsforum.de/thema/wallfahrtsort-ein-jahrtausende-altes-kontinuum.50583/ eine Übersetzung des Pliniusbriefes gebracht. Aus dem geht hervor, dass sich das Volk in großer Zahl dort versammelte, obwohl die Ceres Statue renovierungsbedürftig war und die Leute kein Dach über dem Kopf hatten.
 
Die von dir verlinkte Arbeit behandelt „Tempel-Kirchen-Umwandlungen in Italien

Du hast noch nicht einmal den Titel zu Ende gelesen. Der lautet:

Tempel-Kirchen-Umwandlungen in Italien: Eine Analyse direkter Umwandlungen zum besseren Verständnis dieser speziellen Wiederverwendung von Tempeln für Kirchen


Und das Thema dieses Threads lautet (Dis)Kontinuität von Kultstätten

Das Wort Kontinuität bedeutet so viel wie 'ununterbrochene Fortdauer'.

In der Diplomarbeit geht es um eine Kontinuität von Kultstätten.

Wenn wir andererseits zwei Kultstätten zu ganz verschiedenen Zeiten haben und es in den dazwischenliegenden Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden keine Spur einer Kultstätte gibt, dann nennen wir das Diskontinuität.
 
Und auf der italienische Wikipedia steht dazu – Zitat:

Recenti scavi sotto il santuario hanno evidenziato tracce di impianto polivolumetrico tipico dei santuari pagani romani.

Übersetzung: Jüngste Ausgrabungen [von 1997] unter dem Heiligtum haben Spuren eines polyvolumetrischen Grundrisses offenbart, der für heidnische römische Heiligtümer typisch war.

Liest man dann aber in der angegebenen Quelle nach, stellt sich heraus, dass die entdeckten Strukturen aus dem 14. Jahrhundert stammen.

(Das Wort "polyvolumetrisch" gibt es nicht.)
 
o_O
Habe ich bezweifelt, dass es dort (in Ossuccio) eine Kontinuität Ceres/Madonna gibt oder du?
Lass mich meine Frage wiederholen: was hat dein obwohl, das sich auf eine Äußerung aus ungefähr 100 n. Chr. zu einem allenfalls unsicher nidentifizierten Ort bezieht mit einer Kirchengründung anderthalb Jahrtausende später zu tun? Welche Beweiskraft hat das?
 
Villa Plinio (blau) und Ceresheiligtum (rot) am Comer See.jpg


Diese Karte (aus dem Atlas von Abraham Ortelius 1595) zeigt die Position der Plinius Villa, Komödie genannt, bei Lenno am Comer See, hier blau eingezeichnet, und das Heiligtum der Ceres, hier rot eingezeichnet. Die Villa wurde wohl durch ein Erdbeben zerstört, doch wurden dort im Wasser* unter anderem 2 römische Säulen gefunden, die sich jetzt im Museum in Como befinden.

* Dies stützt die These, dass sich dort seine Komödienvilla befand – Zitat aus Wikipedia: … während die Komödienvilla so nahe am Wasser liege, dass man vom Schlafzimmer, sogar fast vom Bett aus selbst angeln könnte.

PS: Weil der Link oben auf Pliniusbrief heute nicht mehr funktioniert, poste ich den noch einmal: Wallfahrtsort, ein Jahrtausende altes Kontinuum?
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich habe mir den Artikel von Deichmann, Frühchristliche Kirchen in antiken Heiligtümern, durchgelesen. Mehr als eine grobe Orientierung bietet er nicht, was damit zu tun hat, dass er zwar eine durchaus interessante Liste von Tempelumwidmungen liefert. aber keinesfalls vollständig, womit er seine These belegen könnte. Als Materialsammlung ist der Artikel lesenswert, zumal er schön nach Provinzen trennt.

Die These lautet also:
Im Ostreich gedieh der Fanatismus des christlichen Mobs besonders gut, hier wurde zerstört, was nicht niet- und nagelfest war, und an die Stelle der zerstörten Heiligtümer Kirchen gebaut - nach der Reinigung von Dämonen. Nur gelegentlich wurden Kirchen an die Außenmauern etc. angebaut und der heilige Bezirk ansonsten unversehrt gelassen. Allerdings fehlen Angaben darüber, wieviel Kirchen ganz unabhängig von Tempeln zu dieser Zeit erbaut wurden, gewissermaßen auf der grünen Wiese, bzw. wieviele der Tempel zerstört wurden.
So bedeutet in den Ländern vom Taurus bis zum Sinai Wandlung vorzugsweise Zerstörung des antiken Heiligtums, welcher der Neuaufbau des christlichen Gotteshauses folgt.

Im Westreich verlief die Christianisierung gemäßigter. Hier gab es weniger christlichen Mob, die Senatorenpartei in Rom / Ravenna blieb lange Zeit heidnisch, die Goten schließlich achteten auf die Bewahrung der heidnischen Vergangeheit; der Sumpf der Häresie war im Westreich tiefer [sage ich], außerdem hatten die Kaiser anderes zu tun als Kirchen zu erbauen, dafür fehlte einfach das Geld [sage wiederum ich]. Aber auch hier fehlt eine vollständige Liste von verschonten und nicht verschonten Tempeln. Daher lässt sich die These, obwohl sie plausibel ist, so nicht belegen.
Der Feind der Tempel ist nicht der Aufstand des fanatisierten, zerstörungswütigen Volkes, sondern der Bedarf an Baumaterial, die Spoliennahne für öffentliche wie private Zwecke in der verwandelten Stadt.
Im Westen geht's erst später los:
Die meisten Tempelwandlungen entstammen erst dem Mittelalter seit karolingischer Zeit, als der Kampf gegen das Heidentum vorüber war und damit geistige Fragen nicht mehr die Rolle spielten wie in der Zeit vorher. Die Tempel sind dann nur noch Gebäude, die eine billige Einrichtung einer Kirche ermöglicht.

Ich habe einmal die verschiedenen Formen der "Umwidmung" aufgezählt, die Deichmann erwähnt, das geht über den Abriss sehr wohl hinaus:

- Abbrennen des Tempels oder Eidolons;
- Abriss des Tempels, Stein für Stein, bis auf die Fundamente, mitunter sogar des Fußbodens;
- manchmal gab es sogar Cult-Sharing [mein Ausdruck]: Innerhalb des Heiligtums des Apollon von Daphne lag das Grab des Märtyrers Babylas, das von Christen verehrt wurde;
- auch gibt es Kirchen, die über dem Opferaltar errichtet wurden;
- manchmal wurde die Kirche neben dem Tempel errichtet: "auch an die Außenseiten heidnischer Tempel baute man zuweilen Kirchen."
- Recht selten werden Tempel direkt als Kirchen genutzt (hierfür ist natürlich das Pantheon Hadrians berühmt); d.h. selten wurden Tempel einfach nur entsühnt (mittels Kreuze, Weihrauch o.ä.), ohne abgerissen zu werden
 
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Lass mich meine Frage wiederholen: was hat dein obwohl, das sich auf eine Äußerung aus ungefähr 100 n. Chr. zu einem allenfalls unsicher nidentifizierten Ort bezieht mit einer Kirchengründung anderthalb Jahrtausende später zu tun? Welche Beweiskraft hat das?
Dieses „obwohl“ geht auf die Aussage Sepiolas zurück, „dass der Tempel zu Plinius' Zeiten schon verfallen war“. Siehe mein Posting: https://www.geschichtsforum.de/thema/dis-kontinuitaet-von-kultstaetten.61150/page-2#post-856215

Will sagen: Der verfallene Tempel hat damals die Leute nicht davon abgehalten, jedes Jahr zur gleichen Zeit hinzupilgern, dann ist es naheliegend, dass auch Jahrhunderte später, als das Christentum die Oberhand gewann, die Leute immer noch hin gingen. Man konnte dieses jährliche Pilgern einige Zeit tolerieren, aber irgendwann war das anscheinend zu viel Heidentum und man hat die Geschichte mit dem Taubstummen Mädchen* erfunden, das angeblich die Madonna-Statue gefunden hatte, und voilà, schon konnte man die eine Göttin durch eine andere ersetzen und das Pilgern konnte, jetzt christlich gefärbt, fortgesetzt werden.

* Das war ein beliebtes Motiv, irgendetwas hervorzuzaubern – im bayerischen Andechs, auch ein heiliger Berg wie das in Ossuccio, war eine Maus, die Reliquien (wieder) fand; günstig war bei beiden, dass man die Finderinnen nicht befragen konnte. :D

Es gab wundersame Findungen allerorten. Besonders beliebt waren Findungen nach entsprechenden Träumen, in Bäumen, beim Pflügen und/oder weil Tiere plötzlich stehenblieben oder gar Knie beugten. Manche der gefundenen Objekte, kehrten mehrmals von selbst an den Findungsort zurück, da blieb es nur: Man musste an dort eine Kapelle errichten, und wenn die Wallfahrer daraufhin genug Geld daließen, wurde diese durch eine Kirche ersetzt. Wer will, kann sich diese Liste ansehen, in der es von solchen und ähnlichen Findungen nicht mangelt: https://sites.google.com/site/sobottamagdeburg/startseite/themen/wallfahrtsorte-in-mitteleuropa


Das ist doch wohl nicht Dein Ernst? Der gute Ortelius hat eine ganze Reihe nicht lokalisierbarer antiker Örtlichkeiten frei Schnauze in seine Karten eingetragen, darunter den Ort der Varusschlacht, das Lager Aliso etc.
Ah, ist die Karte nicht gut? Ich habe sie und die Beschreibung dem Artikel entnommen, den du in #30 verlinkt hast.

Aber ich kann eine neuere als Grundlage nehmen, aber das Ergebnis wird das gleiche sein. Oder dieses Foto,

plinius-villen (blau und gelb) ceres-tempel (rot).jpg


in das ich die Positionen der Plinius Villen und des Ceresheiligtum (rot gekennzeichnet) eingetragen habe. Wenn man die Beschreibung der Villen aus seinem Brief an seinen Freund Voconius Romanus (9,7) liest, sagt er

zu der Tragödie (im Bild gelb gekennzeichnet), dass sie sich auf einem Bergrücken zwischen 2 Buchten befindet, von wo man weit schauen und den Fischern zusehen kann,

und die andere, Komödie genannt (im Bild blau gekennzeichnet), liegt am Rande des Sees, die nur einen näheren Blick auf den See hat und eine einzige sanft geschwungene Bucht (heute heißt sie Venusbucht) beherrscht; sie liegt so nah am Wasser, dass man aus dem Schlafzimmer die Angel werfen könnte.

Beide Beschreibungen treffen auf die von mir gekennzeichnete Stellen zu.

PS: Danke für den Link auf die neuere Übersetzung.
 
Da es so schön ins Thema passt eine Frage:

Auf dem Marienberg (Harlungerberg) in Brandenburg an der Havel soll es einen Tempel des elbslawischen Gottes Triglaff gegeben haben. Später stand dort ein Marienheiligtum, bzw noch später eine Kirche. Bisher hab ich nur gefunden, dass dieses Mitte des 12. Jh. errichtet wurde, nach der Rückeroberung der Gebiete im Wendenkreuzzug 1147. Mich würde interessieren, wie das zwischen der Eroberung Brandenburgs 928 und dem großen slawischen Aufstand 983 gewesen ist; ob es diesen Tempel noch gab, ob er schon damals durch eine christliche Stätte abgelöst wurde, bzw ob sich nach 983 dort erneut ein slawisches Heiligtum etablieren konnte.

Ich befürchte, die Quellenlage ist ziemlich schlecht, aber weiß jemand, ob es nicht doch was gibt, und seien es halbwegs belastbare Vermutungen?
 
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