Europa vor dem 1. Weltkrieg

Von welchem Zeitpunkt sprichst du denn?
@Turgot den Zeitraum, den ich meinte, hatte ich genannt: ungefähr ab 1871 bis 1914, also 4 Jahrzehnte (voller Naturalismus, Jugendstil, Verismo, beginnendem Expressionismus usw) - hält man sich die Kunst- & Kulturgeschichte dieses Zeitraums vor Augen, möchte man gar nicht glauben, dass da irrwitzig gerüstet wurde, Kriegsbegeisterung aufflammte, massive Militarisierung stattfand! Was für ein Gegensatz: ornamentaler Lalique-Schmuck und Pickelhaube, Jugendstilfassaden und Stahlbeton"bunker".
Ich muss - mea culpa - allerdings gestehen, dass ich diesen Faden (noch) nicht von Anfang an gelesen habe, sondern meinte, die Überschrift könne besagte 4 Jahrzehnte enthalten/umfassen.
Warum beginnend 1871? Die Wahrnehmung der Reichsgründung in Versailles von außen (sic) deutete deutlich in Richtung unruhige & unsichere Zeiten: Giuseppe Verdi schrieb kurz nach 1871 "ich fürchte die neuen Goten" in einem Brief - das nur als Minidetail aus der Kulturgeschichte.
 
Die Phase des Wettrüstens begann aber noch nicht im Jahre 1871.
Ich meine: jein.
Das dt. Kaiserreich legte gleich los (Festungsbau u.a.), die Waffenentwicklung schritt rasend schnell voran (Brisanzkrise), die Grande Nation war traumatisiert (Jule Vernes Romane wider die preuss. Riesenkanonen) - da gärte es doch überall. In den 70er und 80er Jahren fortifizierte das Zarenreich seine "polnische" Westgrenze massiv.
 
...die Waffenentwicklung schritt rasend schnell voran ..
Das halte ich für einen wichtigen Punkt
Der Modernisierungsdruck heizte das Wettrüsten an.

War im Krimkrieg noch das Minie-Gewehr (Vorderlader) der letzte Schrei, hatten die Preußen 1866 bereits das Zündnadelgewehr. Hinterlader. Schießt mit weit höherer Frequenz. Kammer öffnen, Patrone aus der Tasche holen, reinlegen, Schließen, Schießen, die Hülse mit Handgriff auswerfen und wieder Patrone aus der Tasche holen usw..
Man kann sich ja mal vorstellen wie viele Schuss pro Minute möglich sind. Vielleicht 10?
...und doch so viel schneller als die österreichischen Vorderlader.
Dann setzt sich das Magazingewehr durch. Die Patronentasche ist angeflanscht.
Am Ende des Jahrhunderts verschießt die Maxim 10 pro Sekunde. (what ever happens, we have got the Maxim, and they have not.)

Kanonen verschießen Sprenggranaten. Der Hinterlader kommt. Dann Rücklaufrohr mit hydropneumatischer Dämpfung. Und fast plötzlich (ebenso Ende des Jahrhunderts) kann man nun zielgenau schießen. Erst fünf Bomben pro Minute, aber bald 20.
Und das geht nun so in allen Bereichen der Rüstung.

Was man gestern kaufte ist schon im Heute veraltet, und was ich heute teuer kaufe kann morgen wenig wert sein.
Das Tempo der kostspieligen Umrüstung ist an das steigende Tempo der technischen Entwicklung
gekoppelt.
Und dies zunächst einmal unabhängig von politischen Konstellationen,
während gleichzeitig das galoppierende Ausmaß der kriegerischen Anstrengungen die Möglichkeiten einer gedeihlichen Entwicklung der Staaten zunehmend verringert.
So argumentiert Bloch 1898 in seinem fundamentalen Werk über den (künftigen) Krieg.
Der Zar schließt sich dem an in seinem Friedensmanifest.

Nutzt aber nix. Die Österreicher werden in die Kanone mit gedämpftem Rücklaufrohr investieren, die Russen hinterher, und alle anderen ohnehin.

(Die Technik schlägt die Trommel zu der die Mächtigen marschieren.
Kann man das so sagen? :D:D)
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich habe mich nicht präzise genug ausgedrückt. Ich meinte oben nicht die Modernisierung von Gewehren, Geschützen etc. etc. obwohl das natürlich auch dazu gehört. Je mehr Zeit man sich mit der Umstellung gelassen hatte, wegen fehlender finanzieller Mittel, desto eher lief man wieder Gefahr ins Hintertreffen zu gelangen. Ein Teufelskreis.

Ich meinte schlicht die quantitative Vermehrung des Mannschaftsbestandes oder eben den späteren Flottenbau etc.etc. .
 
Ja, das ist so. Ich habe jetzt ein paar Zahlen für die Rüstungsausgaben, die mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt worden sind, für die Großmächte. Ich nehme mal die letzten Jahre vor dem Krieg:

Angaben in Millionen.

1911 1912 1913

England 70,5 Pfund 72,5 Pfund 77,2 Pfund

Frankreich 1.412 Franc 1.493 Franc 1.630 Franc

Russland 671,3 Rubel 814,9 Rubel 961,6 Rubel

Österreich-Ungarn 657,8 Kronen 780,9 Kronen 1.030,9 Kronen

Deutschland 1.707,5 RM 1.781,3 RM 2.406,4 RM

Die Zahlen stammen von David Stevenson, Armaments an the coming of War. Es sind wirklich gewaltige Summen aufgeboten worden.

Hier noch eine Ergänzung zu ÖU. Der Etat von ÖU gliedert sich zunächst in zwei Bereich. Ordinarium und Extraordinarium.
Im Ordinarium war vor allem die laufenden Betriebskosten wie Personal-, Verpflegungs- und Unterkunftskosten. Im Extraordinarium waren dann die Beschaffungskosten untergebracht. Das Problem bei dem Etat war, das dieser kaum hinreichte um den Normalbetrieb sicherzustellen. Also griff man zur Notlösung, da die ungarische Blockadepolitik nicht zu überwinden war, von außerordentlichen Rüstungskrediten, die dann mehrjährig über Raten ausgezahlt wurden.

Der Kostensprung von 1912 erklärt sich durch die Umsetzung des Wehrgesetztes eben aus dem Jahre 1912 und einem für österreichisch-ungarische Verhältnisse ambitionierten Artillerieausbauprogramm.
 
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Auch beim Etat des Deutschen Reiches, beispielsweise des Jahres 1913, ist zu konstatieren, das ein beträchtlicher Anteil reine Personalkosten waren.
Nur ein Teil des Etats für Heeres- und Marinezwecke floß in Form von Produktionsaufträgen in den volkswirtschaftlichen Kreislauf zurück.
 
Auch beim Etat des Deutschen Reiches, beispielsweise des Jahres 1913, ist zu konstatieren, das ein beträchtlicher Anteil reine Personalkosten waren.
War denn das anderswo anders, oder ist das heutzutage anders?
Richtig aus dem deutschen Einkommenskreislauf draußen wäre das Geld übrigens wohl erst, wenn es ins Ausland flösse, etwa für Waffenimporte. Die Gehälter wurden von den Militärangehörigen schließlich auch verwendet, konsumptiv oder sonstwie.
 
War denn das anderswo anders, oder ist das heutzutage anders?
Richtig aus dem deutschen Einkommenskreislauf draußen wäre das Geld übrigens wohl erst, wenn es ins Ausland flösse, etwa für Waffenimporte. Die Gehälter wurden von den Militärangehörigen schließlich auch verwendet, konsumptiv oder sonstwie.

Der Einwand ist grundsätzlich nicht unberechtigt, ich denke, man sollte dabei aber auch die deutsche Truppenpräsenz außerhalb des eigentlichen Staatsgebietes im Auge behehalten.

Da ging ja auch einiges an Geldern in Form von Personalkosten an die in den Kolonien stehenden "Schutztruppen" an die außerhalb Europas stationierten Teile der Hochseeflotte "Ostasiengeschwader" und damit hing auch der Ausbau der kolonialen, militärischen Infrastruktur zusammen.

Ein Teil dieser Ausgaben, wird nicht direkt in den deutschen Wirtschaftskreislauf zurückgeflossen sein, sofern man die Kolonien da mal ein wenig ausnimmt und mindestens was das angeht, wird man aus Kostengründen bei diversen Gütern auch auf lokal zu erwerbende Dinge zurückgegriffen haben um die Transportkosten aus Europa heraus einzusparen.
 
War denn das anderswo anders, oder ist das heutzutage anders?
Richtig aus dem deutschen Einkommenskreislauf draußen wäre das Geld übrigens wohl erst, wenn es ins Ausland flösse, etwa für Waffenimporte. Die Gehälter wurden von den Militärangehörigen schließlich auch verwendet, konsumptiv oder sonstwie.

Zu berücksichtigen bei den Personalkosten ist dabei natürlich auch die absolute personellen Größe der See- und Landstreitkräfte. Das Kontingent der deutschen Kolonialtruppen dürfte im Verhältnis nicht sonderlich hoch ausgefallen sein.

Die Größe des zaristischen Heeres beispielsweise war deutlich höher als bei jeder anderen europäischen Großmacht und demzufolge standen da wohl höhere Kosten zu Buche.

Ja sicher, es wird auch im Ausland was ausgegeben worden sein. Ich glaube aber doch, das der Löwenanteil in Deutschland verblieben war.
 
Zu berücksichtigen bei den Personalkosten ist dabei natürlich auch die absolute personellen Größe der See- und Landstreitkräfte. Das Kontingent der deutschen Kolonialtruppen dürfte im Verhältnis nicht sonderlich hoch ausgefallen sein.

Die Größe des zaristischen Heeres beispielsweise war deutlich höher als bei jeder anderen europäischen Großmacht und demzufolge standen da wohl höhere Kosten zu Buche.

Ja sicher, es wird auch im Ausland was ausgegeben worden sein. Ich glaube aber doch, das der Löwenanteil in Deutschland verblieben war.

Gibt es eigentlich Modelle, die mal versucht haben zu berechnen, was an wirtschaftlichen Möglichkeiten und Werten eigentlich durch die Tatsache der Wehrpflicht überhaupt und die Dauer der Dienstzeiten, nicht realisiert wurde?
Ich könnte mir vorstellen, dass wirtschaftlich das Budget, dass man für die Truppen verausgabte, weniger schwer gewogen haben wird, als dass diese sofern Wehrpflichtige schlicht ihrem Zivilberuf in der Zeit nicht nachgehen konnten.
 
Um eine ungefähre Vorstellung über die langfristigen Kosten der Wehrpflicht zu bekommen, könnte man das Bruttoinlandsprodukt des Landes in einem Jahr durch die Zahl der Erwerbstätigen teilen und diese Pro-Kopf-Größe mit der Zahl der Wehrpflichtigen multiplizieren.
 
Um eine ungefähre Vorstellung über die langfristigen Kosten der Wehrpflicht zu bekommen, könnte man das Bruttoinlandsprodukt des Landes in einem Jahr durch die Zahl der Erwerbstätigen teilen und diese Pro-Kopf-Größe mit der Zahl der Wehrpflichtigen multiplizieren.

Das Problem dabei ist leider, dass es vor dem 1. Weltkrieg im Prinzip keine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung gibt, das kommt weitgehend erst später auf, wegen der Kriegskosten und der Auseinandersetzung um Reparationsfragen.

Insofern würde man hier allenfalls mit recht unsicheren Schätzwerten arbeiten können, was die Zeit vor 1914 betrifft.
 
Ja, aber mehr als Schätzwerte bekommt man als Antwort auf diese hypothetische Frage sowieso nicht.
Es macht aber nochmal einen deutlichen Unterschied, ob man wenigstens eine einigermaßen sichere Kennzahl wie ein BIP hätte, von der man ausgehen könnte oder ob man hier mehr oder minder komplett im Nebel stochert.
 
So groß sind die Unterschiede in den Schätzungen auch wieder nicht.
Für das Nettoinlandsprodukt (also BIP minus Abschreibungen) liegen die bei etwa 53 Mrd. Reichsmark im Jahr 1913.
Vgl. A Compromise Estimate of German Net National Product, 1851-1913, and Its Implications
for Growth and Business Cycles
Author(s): Carsten Burhop and Guntram B. Wolff
Source: The Journal of Economic History, Vol. 65, No. 3 (Sep., 2005),
 
Im Reichstag wurde ja im Sommer 1913 eine gewaltige Heeresvermehrung beschlossen. Es waren über 100.000 Mann. Für diese mussten Kasernen gebaut werden, die neuen Soldaten mussten eingekleidet werden, sie mussten bewaffnet und ausgebildet werden. Ich denke, da kam so einiges an Kosten zusammen.
 
im Sommer 1913 eine gewaltige Heeresvermehrung beschlossen.
1906-12 Prag Prager Gemeindehaus
1900-14 Barcelona, Park Güell (Gaudi)
bis 1915 Wien, Ankeruhr
1902-12 Brunn, Jugendstilreihenhäuser
1913-14 Paris, Synagoge Rue Pavee
1911-13 essen, alte Synagoge
(Jugendstilarchitektur cum grano salis um 1913)

Gustav Mahler 9. und 10. Sinfonie 1910/11
Alexander Skrjabin Promethee, poeme du feu (sinfonische Dichtung) 1909-10, Klaviersonaten Nr.9 (schwarze Messe) & Nr.10 1911-13
(Jugendstilmusik cum grano salis um 1913)

Panzerbatterien, Panzerwerke (Stahlbeton, Panzekuppeln, Verschwindtürme), Stacheldraht - um 1913 en vogue

...dass das unter einen Hut passt, bleibt mir ein Rätsel... kulturell eine ästhetische Verfeinerung in Literatur, Malerei, Architektur, Musik und parallel eine dumpfsinnige Kriegsbegeisterung, massive Rüstung und Militarisierung, also Lalique-Schmuck und Pickelhaube - - - das ist so widersinnig, dass ich es nicht verstehen kann.
 
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