Frakturschrift wurde in Deutschland länger benutzt als anderswo – warum?

Es ist schon eine gewisse Ironie, dass der Briefkopf beider Dokumente in sogenannten Schwabacher Judenlettern gesetzt ist.
Ist zwar Fraktur, aber eigentlich keine Schwabacher. (Muss aber zugeben, dass ich mich ins Thema zu wenig eingelesen habe, um zu wissen, was genau damals mit »Schwabacher Judenlettern« gemeint war.)

Aber die Selbstverständlichkeit, mit der im späten 18. Jahrhundert deutsche Schrift für deutsche Wörter benutzt wurde, ist halt mit Nationalismus nicht zu erklären. Insofern gab es auch im frühen 19. Jahrhundert keinen "plötzlichen Wandel".
Klar wäre es abwegig, im späten 18. Jh. von »Nationalismus« zu reden. Vielleicht aber wäre »Heimattümelei« passender, quasi die Vorstufe. Schwelgte nicht Goethe von der Gotik in seinem Aufsatz Von Deutscher Baukunst (1773), die er zum »deutschen Stil« kürte? Bezeichnend übrigens auch das Gemälde Erwin von Steinbach – Die Erfindung der Gotik aus 1849 (PDF @ uni-heidelberg.de). Würde nicht ausschließen, dass die Fraktur, die gotische Schrift, je mehr sie nur noch im deutschsprachigen Raum Anwendung fand, umso stolzer gepflegt wurde.

Für diese Zeitung sehe ich keine nationalistischen Gründe für die lange Verwendung der Fraktur. (Die NZZ wurde 1934 in Deutschland verboten). Tradition, Wunsch der Leserschaft, "saubere typografische Aufmachung" und Lesbarkeit sind Stichwörter, die im Artikel für das lange Beibehalten der Fraktur genannt werden.
Nationalistisch nicht unbedingt, aber elitisierend, um sich auch äußerlich als gutbürgerlich zu verkaufen; ähnlich der Automarke Rolls Royce, die ab der Nachkriegszeit dem aktuellen Design absichtlich hinterherhinkte, um damit besonnene Wertigkeit und Traditionsbewusstsein auszudrücken. Aus meiner Sicht war die lange Anwendung der Fraktur bei der NZZ schon bisschen gekünsteltes Getue (auch bei der Leserschaft) und kann als Beleg für allgemeine Vorlieben kaum herangezogen werden. Vielleicht aber für eine Art des Snobismus, dessen Pflege der Verlag nicht mehr für lukrativ genug hielt?
 
und kann als Beleg für allgemeine Vorlieben kaum herangezogen werden.
Aber vielleicht als Beleg dafür, dass die Fraktur von der Leserschaft der NZZ und allgemein in der Schweiz nicht als Ausdruck Deutscher "Heimattümelei" gesehen wurde. Wäre das der Fall gewesen, dann wäre die Umstellung wahrscheinlich früher geschehen.
Darum halte ich das Ganze für eine vorwiegend typographische und keine politische Frage.
 
Es war ein „Führerbefehl“, die Fraktur abzuschaffen, also ist natürlich für die Abschaffung relevant, was H. dachte.
Formal war das relevant, klar, schließlich war das III. Reich eine Diktatur. Aber wichtig waren die Beweggründe, die zu der Entscheidung führten, Fraktur abzuschaffen. Dazu wurde hier schon genug geschrieben – auch z.B. gestern von @Naresuan:
Interessanterweise waren in der NZZ, aber auch in Deutschen Zeitungen, die Börsen- und Handelsnachrichten oft in Antiqua gedruckt. Es scheint mir auch eine Frage des Zielpublikums gewesen zu sein. Die Rechts- und Literaturwissenschaft bediente sich in Deutschland mehrheitlich der Fraktur, während naturwissenschaftliche Veröffentlichungen mehrheitlich in Antiqua gedruckt wurden.
Offenbar kam es bei naturwissenschaftlichen Veröffentlichungen und Börsen- und Handelsnachrichten auf die Lesbarkeit und das Zielpublikum an: Wenn fast die ganze Welt Zeitungen und Bücher in Antiqua las, dann hatte eine in Fraktur gedruckte wissenschaftliche Arbeit weniger Reichweite, weil sie alle die gleiche Schwierigkeiten hatten, wie z.B. ich, zwischen langem s und f oder dem r und x zu oder dem o und v unterscheiden – siehe hier:

Erstes_Lesebuch_alphabet.png


Ganz abgesehen davon, dass kein Mensch zwei unterschiedliche s-Zeichen braucht, gibt es solche möglichen Verwechslungen bei der Antiqua nicht.

Ein Wissenschaftler, an Antiqua gewohnt, überlegte sich wohl 2-mal, eine in Fraktur gedruckte Abhandlung zu lesen.
Und Reichweite war und ist in der Wissenschaft sehr wichtig. Die fetten Lettern standen zudem sehr eng nebeneinander. Und weil schon die normale Fraktur-Schrift fett war, konnte man die Buchstaben nicht noch fetter drucken, um sie zu betonen. Mit den vergrößerten Abständen zwischen den einzelnen Buchstaben hat man zwar eine Abhilfe geschaffen, aber wollte man einen ganzen Satz oder Absatz auf diese Weise hervorheben, endete das in einem kaum lesbaren Desaster.

... das natürlich ebenso naiv und substanzlos ist wie Deine Behauptung, Antiqua sei "eindeutig lesbarer".

Eingefahrene Gewohnheiten werden mit Pseudo-Argumenten verteidigt.
Siehe die obige Antwort an @El Quijote.

Vielen Dank für den Link. Aus heutiger Sicht könnte man den damalige Fraktur-Antiqua-Streit lachhaft nennen, aber für die Zeitgenossen war es bitterer Ernst.

Aber die Selbstverständlichkeit, mit der im späten 18. Jahrhundert deutsche Schrift für deutsche Wörter benutzt wurde, ist halt mit Nationalismus nicht zu erklären. Insofern gab es auch im frühen 19. Jahrhundert keinen "plötzlichen Wandel".
Die Restauration nach 1815 wollte alle von Napoleon eingeführte Neuerungen in deutschen Ländern eliminieren und das alte System eben: restaurieren. Das gelang nicht ganz (das Rad der Geschichte zurückzudrehen ist offenbar schwierig), aber zumindest auf dem Gebiet der Typografie gelang das: Die im Rheinbund halbwegs eingeführte Antiqua wurde auf die Plätze verwiesen, die erste Geige spielte wieder Fraktur, die man bald Deutsche-Schrift nannte. Warum? Um den Unterschied zu "welschen" Antiqua, der Schrift der Französischen Revolution, zu betonen. Abgrenzung war offenbar wichtig.

Goethe z.B. bevorzugte Antiqua, aber seine Bücher ließ er trotzdem auch in Fraktur drücken, sonst hätte der Dichterfürst weniger Käufer und Leser. Und das wäre für einen wie ihn, der schon zu Lebzeiten dafür gesorgt hatte, wie ihn die nachfolgenden Generationen sehen sollten, nicht annehmbar: Er musste der Größte sein - und wurde es auch.

Dass die Zurückdrängung der Fraktur außerhalb Deutschlands v.a. eine praktische Angelegenheit war, die sich in Deutschland deshalb länger hinzog, weil der noch junge Nationalstaat ein vermeintliches Alleinstellungsmerkmal nicht aufgeben wollte, das tatsächlich nur aus Gewohnheit und innerer kultureller Zersplitterung so lange überdauert hatte.
Ja, aber eine nette Umschreibung dieses "sich länger hinzog" für die mehr als 120 Jahre langes Sterben einer Schrift hierzulande, die man für Deutsch hielt. :)
 
Zuletzt bearbeitet:
Ein Wissenschaftler, an Antiqua gewohnt, überlegte sich wohl 2-mal, eine in Fraktur gedruckte Abhandlung zu lesen.
Deutsche Wissenschaftler waren an Fraktur gewöhnt. Ausländische Wissenschaftler ohne Deutschkenntnisse konnten ohnehin keine Abhandlungen in deutscher Sprache lesen, egal ob in Fraktur oder Antiqua. Fremdsprachige (z.B. lateinische) Publikationen wurden auch in Deutschland üblicherweise in Antiqua gedruckt.
Ganz abgesehen davon, dass kein Mensch zwei unterschiedliche s-Zeichen braucht
Oder ß oder ä ...
Auch v ist überflüssig, da es mal als f, mal als w gelesen wird. Ebenso y, das mal ü, mal i, mal j gelesen wird.
 
Deutsch-Schweizer brauchen kein ß - sie schreiben es mit ss. Und wir bei "dass" auch nicht mehr. :D

Abgesehen davon geht es hier um das lange s, denn wir auch nicht mehr haben.
 
Das man während der Aufklärung in vielem, was als mittelalterlich wahrgenommen wurde keine besonders verdienstvolle Leistung mehr sah und versuchte sich davon weg zu orientieren, dass kann man ja in der Architektur wahrnehmen, wo der "gotische" Architekturstil außer Mode kam und sich, vor allem bei Repräsentativbauten der Klassizismus durchzusetzen begann.

Da hast Du Dich aber in den Epochen vertan. Zwischen Gotik und Klassizismus liegen noch ein paar Jahrhunderte Renaissance und Barock.

Die Neogotik begann ja gerade erst in der Epoche der Aufklärung, siehe z. B.:

Schwelgte nicht Goethe von der Gotik in seinem Aufsatz Von Deutscher Baukunst (1773), die er zum »deutschen Stil« kürte?

Und ob er schwelgte:

"Und nun soll ich nicht ergrimmen, heiliger Erwin, wenn der deutsche Kunstgelehrte, auf Hörensagen neidischer Nachbarn, seinen Vorzug verkennt, dein Werk mit dem unverstandnen Worte gotisch verkleinert. Da er Gott danken sollte, laut verkündigen zu können, das ist deutsche Baukunst, unsre Baukunst, da der Italiener sich keiner eignen rühmen darf, viel weniger der Franzos. Und wenn du dir selbst diesen Vorzug nicht zugestehen willst, so erweis uns, daß die Goten schon wirklich so gebaut haben, wo sich einige Schwürigkeiten finden werden."​

Aber hat er auch von Fraktur und deutscher Kurrent geschwelgt?
 
Deutsch-Schweizer brauchen kein ß - sie schreiben es mit ss. Und wir bei "dass" auch nicht mehr. :D

Abgesehen davon geht es hier um das lange s, denn wir auch nicht mehr haben.
Dass die Schweizer kein ß haben, ist deren Entscheidung. In Deutschland und Österrich gilt die Regel, dass Vokal vor Doppelkonsonant kurz ist. Wenn wir also Straße schreiben, dann ist das [⁠ʃt⁠ra:sə] mit [a:]. Schrieben wir Strasse (wie in Strasssteinchen) wäre es [⁠ʃt⁠rasə] mit [a].

Wenn wir Hasen, hassen und *haßen schreiben, dann unterscheiden sich diese Worte phonetisch: [ha:zən] (langes [a:] + [z]), [hasən] (kurzes [a] und [s-]) und [ha:sen] (langes [a:] und [s-])
Sie aßen und fraßen den Rasserasen.
 
Die im Rheinbund halbwegs eingeführte Antiqua wurde auf die Plätze verwiesen, die erste Geige spielte wieder Fraktur, die man bald Deutsche-Schrift nannte.

Woher nimmst Du diese Behauptungen? Wurde auf dem Gebiet des Rheinbunds mehr in Antiqua gedruckt als z. B. in Österreich? Wenn ja, wo sind die Belege? Wurde nach 1815 mehr in Fraktur gedruckt als in der Zeit 1806-1813? Wenn ja, wo sind die Belege?

Gibt es irgendwo eine Bestandsaufnahme an Druckwerken aus der Rheinbundzeit, nach Schriftart geordnet? Falls nicht, können wir ja mal anfangen:

Hier ein Dekret aus dem Herzogtum Arenberg-Meppen, in dem die Einführung des Einführung des Code Napooléon 1808 angekündigt wird - in Fraktur:

Hier ein Buch aus der Kaiserl. Königl. Hof- und Staatsdruckerei Wien aus dem Jahr 1808 - in Antiqua:
 
Dass die Schweizer kein ß haben, ist deren Entscheidung.

Daher kann man in der Schweiz Alkoholika auch nicht in Maßen trinken, man kann sie nur in Massen trinken.


Ganz abgesehen davon, dass kein Mensch zwei unterschiedliche s-Zeichen braucht, gibt es solche möglichen Verwechslungen bei der Antiqua nicht.

Du bist aber der Meinung, dass der Mensch zwei unterschiedliche Zeichen für A/a oder G/g braucht?



Du verwendest verschiedene Zeichen für die Groß- und Kleinschreibung, die kein Mensch braucht, Du verwendest verschiedene s/ß-Zeichen, die kein Mensch braucht, Du verwendest Buchstaben, für die es keine eigenen Laute gibt (z. B. v oder y) und beachtest hunderterlei weitere Schreibkonventionen, ohne groß darüber nachzudenken, ob die ein Mensch braucht oder nicht. Weil Du es halt gewohnt bist.

Und wer Fraktur gewohnt ist, stolpert auch beim Lesen nicht über die verschiedenen s-Zeichen.

Immerhin hat die Unterscheidung zwischen langem und kurzem s ja auch ein paar Vorteile:

Wörter wie Haustür, Häschen oder desselben werden dadurch leichter lesbar, und es ermöglicht Unterscheidungen, zum Beispiel:​
  • Wachſtube (Wach·stu·be) und Wachstube (Wachs·tu·be)
  • Kreiſchen (Krei·schen, für Schreien) und Kreischen (Kreis·chen, für kleiner Kreis)
  • Verſendung (Ver·sen·dung) und Versendung (Vers·en·dung)


Schriftsysteme mit verschiedenen s-Zeichen sind gar nicht so selten, im Griechischen wird das Sigma am Wortende als ς geschrieben, sonst als σ.
Auch im Hebräischen leistet man sich zwei S-Zeichen, Sin (שׂ) und Samech (ס).
 
Schriftsysteme mit verschiedenen s-Zeichen sind gar nicht so selten, im Griechischen wird das Sigma am Wortende als ς geschrieben, sonst als σ.
Apropos Griechisch.

Im Neugriechischen gibt es nicht weniger als 6 Buchstaben/Buchstabenkombinationen, die vom Laut her ein [ i ] abbilden oder abbilden können, je nachdem wie sie gesetzt sind.

Hält die Leute in Griechenland offensichtlich nicht davon ab, dieses System zu benutzen.
 
Aber hat er auch von Fraktur und deutscher Kurrent geschwelgt?
Von einer derartigen Schwelgerei weiß ich nichts – mal abgesehen von diesem vom Bund deutscher Schriftsteller Österreichs auf einer Reklame-Marke publizierten, angeblichen Goethe-Zitat (@ Digitale Sammlungen, Wirtschaftsuniversität Wien):

Die deutsche Schrift ist in ihrem Schmucke den gotischen Bauten vergleichbar, die den Blick zur Höhe ziehen und uns mit Staunen und Bewunderung erfüllen… Gotischer Stil der Baukunst und die Gestalt unserer Buchstaben sind als gleiche Offenbarung deutschen Gemüts zu erachten. Johann Wolfgang v. Goethe

Soll aber von Adolf Reinecke (1861–1940) ausgedacht worden sein, der es in Die deutsche Buchstabenschrift (1910) als Zitat aus [Aus meinem Leben :] Dichtung und Wahrheit bezeichnet hatte (S. 77, @ Google Books). Hab’s jetzt bei Goethe nicht nachgeprüft :rolleyes: und vertraue: Jürgen Baumann (Hsg.) et al., Homo scribens, Max Niemeyer, Tübingen, 1993, S. 264/Fn. 13; @ Google Books.
 
Auch im Hebräischen leistet man sich zwei S-Zeichen, Sin (שׂ) und Samech (ס).
Eigentlich ist es sogar viel "komplizierter". Es gibt Samech (ס), Sin (שׂ) und šin שׁ, außerdem Ṣade (צ), wobei letzteres im Neuhebräischen /ts/ augesprochen wird. Und dann hat das Hebräische noch die Sofit-Zeichen:
Kaph: כ -  ך
Ṣade: צ - ץ
Mem: מ - ם
Nun: נ -  ן
Pe: פ -  ף
Das Sofit-Zeichen (links) schreibt man nur am Ende des Wortes. Hier in der serifenlosen Version.
 
Bis vor wenigen Jahren gab es ß nicht als Majuskel, nur als Minuskel. Auf Tastaturen ist das nach wie vor so. Das Wort ist auf dem Titelblatt in Majuskeln ausgeführt.

Straße
STRASSE

Das Buch beginnt mit dem Satz: "Der Krieg ist das gröſste Übel..."
 
Woher nimmst Du diese Behauptungen?
Wir werden es bald erfahren - ich habe ein Buch bestellt, das diese Zeit beleuchtet. :D

Und ob er schwelgte:
Das war allerdings vor seiner Italienreise. Auf der schwelgte er nur noch von Palladio etc. und schickte Kiloweise entsprechende Bücher nach Hause. Auf dieser Reise wurde er ein Fan der Renaissance und der alten Römer und der Griechen. Er war auch ein Freund der Aufklärung, war für Veränderungen im Gesellschaftlichen und Politischen.
 
Von einer derartigen Schwelgerei weiß ich nichts – mal abgesehen von diesem vom Bund deutscher Schriftsteller Österreichs auf einer Reklame-Marke publizierten, angeblichen Goethe-Zitat (@ Digitale Sammlungen, Wirtschaftsuniversität Wien):

Die deutsche Schrift ist in ihrem Schmucke den gotischen Bauten vergleichbar, die den Blick zur Höhe ziehen und uns mit Staunen und Bewunderung erfüllen… Gotischer Stil der Baukunst und die Gestalt unserer Buchstaben sind als gleiche Offenbarung deutschen Gemüts zu erachten. Johann Wolfgang v. Goethe

Soll aber von Adolf Reinecke (1861–1940) ausgedacht worden sein, der es in Die deutsche Buchstabenschrift (1910) als Zitat aus [Aus meinem Leben :] Dichtung und Wahrheit bezeichnet hatte (S. 77, @ Google Books). Hab’s jetzt bei Goethe nicht nachgeprüft :rolleyes: und vertraue: Jürgen Baumann (Hsg.) et al., Homo scribens, Max Niemeyer, Tübingen, 1993, S. 264/Fn. 13; @ Google Books.

Hab's nachgeprüft und erwartungsgemäß nichts gefunden.
Es ist ja lustig, dass man noch 1982 einen Finderlohn auf dieses Fake-Zitat ausgesetzt hat.
 
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