Das sagt Livius aber nicht. Er sagt „verletzt“ nicht ausgeraubt, jetzt, wo es Dir nicht passt, weil „verletzt“ Hannibals angebliche Tat einschließt, wird ruminterpretiert, sonst willst Du die Quellen wörtlich nehmen. Das „Worte in Mund legen“ ist meiner Ansicht nach keine seriöse Quellenkritik.
Genaugenommen sagt Livius natürlich nicht "verletzt", sondern "violassent" bzw. "violare". Wie ich oben schon erläutert habe, ist das ein von "vis" (Gewalt) abgeleitetes Verb, das somit etwa so viel wie "Gewalt antun", "Gewalt ausüben", "mit Gewalt behandeln", "eine gewalttätige Handlung setzen" bedeutet. Welches deutsche Wort man für "violare" konkret nimmt, hängt vom Kontext ab und ist somit oft auch etwas Interpretationssache.
Das Problem mit der Quellenlage zu Hannibal ist dass nur Polybios als zeitnahe Primärquelle erhalten ist, das auch leider nicht vollständig. Die anderen genannten lebten später, so auch Diodor. Die Texte der Geschichtschreiber Hannibals (er hatte zwei davon in seinem Heer) und andere Zeitzeugen sind verschollen.
Diodor stand, wie auch wir, vor dem Problem die Geschichte aus dem was übrig ist, womöglich auch aus mündlichen Überlieferungen zu rekonstruieren. Auch wenn er vielleicht keine einseitige Geschichtsschreibung betreiben wollte, stand ihm nur einseitiges Material zur Verfügung. Dieser Umstand der einseitigen Quellenlage wird von allen modernen Historikern anerkannt und entsprechend gefolgert.
Diodor war nicht Herodot. Herodot reiste in der Tat herum und hörte sich - neben dem Studium (bzw. sich Übersetzenlassen) örtlicher Aufzeichnungen - teilweise mündliche Überlieferungen an. Diodor reiste zwar auch, aber eher um die Originalschauplätze kennenzulernen. Sein Wissen nahm er aus älteren schriftlichen Quellen, die er zu einem umfassenden Werk zusammenfasste. (Er erhob sogar den Anspruch, durch seine Universalgeschichte würde das Lesen anderer Geschichtsbücher überflüssig, da man alles Relevante in seinem Werk finden würde.) Gerade dieser Aspekt des Verwertens älterer Quellen wurde und wird noch normalerweise von der Diodor-Forschung (über?-)betont, indem er gerne als simpler Kompilator ohne Sinn und Verstand abgestempelt wurde. (Mommsen nannte ihn gar den "elendsten aller Skribenten".)
Dass heute nur Polybios als zeitnahe Quelle zu Hannibal erhalten ist, ist unser Problem, nicht das von Diodor, denn zu seiner Zeit war schließlich noch viel mehr an zeitnaher Literatur erhalten.Seine Quellenlage war viel besser als unsrige. Insofern verstehe ich nicht, wie Du darauf kommst, ihm sei nur einseitiges Quellenmaterial zur Verfügung gestanden.
Haben historische Persönlichkeiten eigentlich die selben Rechte wie Tatverdächtige aus der heutigen Zeit?
Wenn Hannibal in der heutigen Zeit beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen der Anschuldigungen mit der vorliegende Beweislage als Kriegsverbrecher angeklagt wäre, würde er in diesem Punkt aus Mangel an Beweisen freigesprochen.
Im Zweifel für den Angeklagten. Sollte dieser Maßstab nicht auch für historische Persönlichkeiten gelten?
Nein, dann könnte die gesamte Geschichtswissenschaft einpacken.
Bei Strafprozessen geht es um Menschenschicksale, und es wird davon ausgegangen, dass bei Zweifeln an der Schuld eines Angeklagten es allemal besser sei, einen eventuell Schuldigen laufen zu lassen als einen Unschuldigen zu verurteilen. Das bedeutet, dass auch Personen freigesprochen werden, bei denen durchaus einiges für ihre Schuld spricht.
Bei der Geschichtswissenschaft geht es nicht um Schuld oder Unschuld, sondern um eine Annäherung an die Wahrheit. Streng juristische Maßstäbe kann man da nicht anlegen - zumal wenn mehrere tausend Jahre zwischen der Tat und dem "Prozess" liegen und viel an ursprünglich vorhandenem relevantem Material verlorengegangen ist.
Nehmen wir z. B. Caesars Ermordung: Woher wissen wir eigentlich davon? Von keinem von Caesars Mördern ist ein schriftliches Geständnis erhalten. (Und wenn, könnte man immer noch die beliebte Argumentation bringen, es sei von mittelalterlichen Mönchen gefälscht worden.) Es ist auch nicht ganz sicher, ob Cicero (der als Zeitgenosse und Senator das Attentat in seinen Schriften öfters erwähnte) beim Attentat im Senat anwesend war, doch selbst wenn, dann konnte er vermutlich nicht wirklich etwas sehen, da Caesar von diversen an der Verschwörung beteiligten Senatoren umringt war. Seine "Zeugenaussage" ist somit angreifbar. Forensische Beweise sind natürlich auch nicht mehr erhalten. Als Verteidiger der Angeklagten würde ich argumentieren, dass es keinen Zeugen gibt, der die Tat gesehen hat. Man könne auch nicht einfach davon ausgehen, dass alle Caesar umringenden Senatoren an der Tat beteiligt waren, manche standen vielleicht auch einfach nur gerade zufällig dort herum. Somit könne man nicht wissen, wer (im Sinne einer Mittäterschaft) an der Verschwörung wirklich beteiligt war und wer tatsächlich zustach. Also Freispruch für sämtliche Angeklagten? Dürfen Brutus und Cassius somit künftig nicht mehr als Caesarmörder bezeichnet werden?
Außerdem sind uns nun einmal Quellen verloren, die frühere Historiker noch hatten. Wir wissen z. B. nicht, ob nicht Hannibals beide begleitenden Historiker über das Massaker berichtet haben und sie für spätere Autoren als Quelle dienten. (Wenn jetzt der Widerspruch kommt, dass sie wohl kaum etwas geschrieben hätten, das Hannibal schlecht dastehen ließe: Das wäre eine moderne Interpretation, keine antike Wertung eines Massakers an Abtrünnigen. Auch Caesar hat in seinem eigenen Werk über Taten in Gallien geschrieben, die wir heutzutage als Kriegsverbrechen beurteilen würden. Kritische (allerdings oft durch politische Gegensätze motivierte) Stimmen gab es zwar durchaus schon in der Antike - auch bei Caesar - aber sie waren nicht allgemein.)
Das mit den Garnisonen nach Abzug aus Italien ist mir neu. Woher hast Du das?
Livius 30,20
Appian, Hannibalischer Krieg 60
Würde das nicht wieder dafür sprechen, dass kein Massaker stattfand? Wäre es nicht dann sinnvoll gewesen, diese Garnisonen mit den Leuten zu verstärken, die es Deiner Aussage nach vorzugen in Italien zu bleiben?
Wenn Hannibal die Besatzungen wirklich wichtig gewesen wären, wäre es vor allem sinnvoll gewesen, die Garnisonen mit disziplinierten und zuverlässigen Leuten zu besetzen, die nicht gleich abhauen, sobald Hannibal weg ist - also nicht unbedingt mit Leuten, die sogar schon die Gefolgschaft verweigern, solange Hannibal noch vor ihnen steht.
Allerdings scheint Hannibal keinen sonderlich großen Wert auf die Besatzungen gelegt zu haben, denn er ließ nur die untauglichsten seiner Truppen als Besatzung zurück. Das Auswahlkriterium war also wohl nicht: Wer will in Italien bleiben?, sondern: Wen kann ich in Afrika ohnehin nicht brauchen? Somit kann es für Hannibal nicht akzeptabel gewesen sein, dass sich seine Soldaten selbst aussuchen, wer bleiben und wer nach Afrika gehen will, sofern unter den Bleibewilligen taugliche Männer waren, sondern er selbst musste diese Entscheidung für sich beanspruchen - und Widerspenstige bestrafen.