lynxxx
Aktives Mitglied
:cry::cry::motz:
Hi,
ich hab gestern in sage und schreibe mehr als 12 (!!!) Stunden (bis 4 Uhr nachts!) hier ne halbe Hausarbeit verfasst, indem ich für euch die verschiedensten Dissertationen und Artikel durchgearbeitet habe, um die verschiedenen unzulänglichen, propagandistischen, instrumentalisierten Geschichtsbilder der Staaten aufzuführen, die das osmanische Reich umfasste.
Doch dann stürzte Firefox ab, und alles war weg!!! :cry::cry::cry:
Ich hatte von den zahlreiche Seiten umfassenden Post nur die ersten 20% in Word gesichert... :cry::motz:
Nun hab ich kein Bock mehr! Ich gebe euch nun nur noch die Links. Dort könnt ihr "Historiographie/Geschichtsschreibung/Geschichtsbild" eingeben, und erhaltet Infos. Wenn euch ein Mitglied hier blöd kommt, dann verweist auf diesen Thread. Das gilt für eurozentristische oder veraltete westliche Historiographie. Aber auch häufig User mit Migrationshintergrund können sich ein Bild machen, warum sie solch ein Geschichtsbild haben.
Hallöchen,
da es schon mehrfach hier im Forum Diskussionen um Bewertungen historischer Ereignisse gab, möchte ich hier mal ein paar Infos bringen, wie es zu solch unterschiedlichen Sichtweisen kommt.
Dabei verurteile ich niemanden, solch ein Geschichtsbild zu haben, ich würde ihn nur für ignorant halten, wenn er nach Lektüre der unten erwähnten Ausführungen nicht wenigstens ins Grübeln käme.
Da ist einmal die eurozentristische/westliche Sichtweise der westlichen Historiker, dann die etwas ausgewogenere modernere Sichtweise westlicher Historiker, und dann noch die Sichtweisen auf die Geschichte z.B. des osmanischen Reiches durch die Historiker der Nachfolgestaaten des OR - also der arab., SO-europäischen, türk., usw. Historiker.
Leider wurde vielfach die Historiographie/Geschichtsschreibung instrumentalisiert, so dass bis heute Diskutanten auf ein vereinfachendes, oder wichtige Gegebenheiten ausblendendes Geschichtsbild zurückgreifen.
In allen Lagern.
Hier nun einiges zur Erhellung des komplexen Themas (einiges habe ich sporadisch im Forum schon mal angesprochen):
Wie wird das Osmanische Reich in den verschiedenen Ländern gesehen, wo findet sich ein verzerrtes Geschichtsbild
Maurus Reinkowski: Das Osmanische Reich - ein antikoloniales Imperium?
Für die sehr Interessierten: Fußnoten siehe Link.
[Wandel der Sicht auf das OR im Westen:]
"4. Historiographische Deutungen
4.1. Das gleichberechtigte Reich.
In der Geschichtsforschung sind der Reichscharakter des Osmanischen Reiches und seine Stellung gegenüber dem europäischen Staatensystem bis heute umstritten. Zunehmend wird jedoch auf eine Gleichberechtigung der osmanischen Geschichte mit der europäischen gedrängt, und zwar in dreierlei Hinsicht: Erstens wird der Begriff „Osmanisches Reich“ abgelehnt, weil mit dem Reichsbegriff eine Handlungsschwäche und von vornherein absehbare Unterlegenheit der Osmanen gegenüber den entstehenden modernen europäischen Staaten suggeriert werde. Im unbedachten Gebrauch des Begriffes „Reich“ zeige sich zudem die „potency of anti-Turkish prejudices“ und die Wirkungsmächtigkeit des westlichen Orientalismus. Die Osmanen selbst hätten die Bezeichnung devlet-i aliyye-i osmaniyye („erhabener osmanischer Staat“) verwendet. (Devlet muss aber nicht unbedingt, wie dies im heutigen Türkisch der Fall ist, als „Staat“ verstanden werden, sondern kann auch als „Herrschaft“ oder „Herrscherhaus“ übersetzt werden.) Im osmanischen Sprachgebrauch waren aber auch andere Selbstbezeichnungen üblich, die den Reichscharakter deutlich belegen, so die markante Wendung memalik-i mahruse („die wohlbehüteten Länder“).
Zweitens wird gefordert, die Osmanen nicht mehr als „Außenseiter“ der europäischen und globalen Geschichte an die Seite zu drängen. Die eigentlich von Sympathie getragene Äußerung Eric Hobsbawms, dass im 19. Jahrhundert das Osmanische Reich „zweifelsfrei zur Welt der Opfer gehörig“ war, würde daher nicht allgemein geteilt werden. Die Forschungsliteratur schießt in ihrer Rehabilitierung des Osmanischen Reiches als eines durchaus überlebens- und handlungsfähigen Akteurs allerdings teilweise über das Ziel hinaus. So wird eine weitgehende Parallelität der Epochen in Europa und der islamischen Welt vermutet: Im Osmanischen Reich des 18. Jahrhunderts habe ein „klassischer Absolutismus“ geherrscht, in dem der Sultan und nicht der Staat im Mittelpunkt gestanden habe. Doch während in diesem 18. Jahrhundert die europäischen Feudalfürsten ihre Macht an die absolutistischen und zentralistischen Monarchien zu verlieren begannen, erreichten die lokalen Herrschaften der osmanischen Feudalherren und Notabeln erst ihren Höhepunkt.[...] Das Plädoyer für eine Gleichwertigkeit des Osmanischen Reiches ist also berechtigt, jedoch nur im Sinne einer gleichzeitigen Ungleichzeitigkeit gegenüber Europa. Das Osmanische Reich des 19. Jahrhunderts war mit Europa eng verbunden und zugleich an dieses angebunden.
Drittens betont man den Vorrang einer europäisch-osmanischen Konvivialität gegenüber eher an der Oberfläche bleibenden ideologischen Konfrontationen. Die ideologisch-religiöse Frontstellung, die angeblich für lange Zeit die Beziehungen zwischen dem Osmanischen Reich und der europäischen Welt geprägt habe, sei im Wesentlichen eine historiographische Projektion. Vor allem für die deutschsprachigen Länder ist diese Ansicht nicht einfach von der Hand zu weisen: Die Türkenkriege hatten dort auch eine nach innen gewandte Bedeutung. Mit Hilfe der durch den Buchdruck möglich gewordenen öffentlichen Propaganda wurde die türkische Bedrohung dazu eingesetzt, die eigene gesellschaftliche Ordnung zu befestigen und die Reichsstände auf die Politik des habsburgischen Kaisers zu verpflichten.Man darf vermuten, dass die Beschwörung der Türkengefahr im Bewusstsein der deutschsprachigen Länder bis heute untergründig fortwirkt und zu der nachdrücklichen Ablehnung eines EU-Beitritts der Türkei in Deutschland und Österreich beiträgt.
[Entwicklung der türkischen Historiographie]
4.2. Das antikoloniale Reich.
Die türkische Historiographie teilt die oben genannten Anliegen der internationalen osmanistischen Historiographie, geht aber in mancherlei Hinsicht noch weiter. In den ersten Jahrzehnten des neu gegründeten türkischen Nationalstaats lehnte die türkische Historiographie das Osmanische Reich als ein misslungenes Ancien Régime ab. Zwischen Türken und Nicht-Türken (vor allem Arabern) habe das Missverständnis einer angeblichen Interessengemeinschaft existiert, unter der vor allem die Türken zu leiden gehabt hätten. Die kemalistische Ideologie der Republikzeit zurückprojizierend, wurde argumentiert, das Osmanische Reich hätte besser seine Energien Anatolien widmen sollen, anstatt sich als unbeholfener Imperialist zu betätigen: „Die Kunst der Imperien ist es, Kolonien und Völker arbeiten zu lassen. Das Osmanische Reich aber, von Thrakien bis nach Erzurum, hat seinen riesigen Körper auf die Seite gelegt und den Kolonien und Völkern die Brust gegeben, bis schließlich seine Milch mit seinem Blut vermischt getrunken wurde.“
Für die frühe türkische Historiographie war eine mehrfache Verteidigungshaltung prägend: „Sie widersetzte sich dem europäischen Imperialismus, sie wandte sich aber auch gegen das alte Regime des Osmanischen Reiches und kämpfte gegen die rivalisierenden Nationalismen anderer Völker, die den Türken in ihrer Region den Rang streitig machten.“ Bei genauerer Betrachtung zerfällt das Selbstbild einer sich verteidigenden Nation, das bis heute die türkische Geschichtsschreibung prägt, in zwei Teile. Zum einen wird die historische Leistung des Osmanischen Reiches verteidigt: Unter einem gemeinsamen osmanischen Dach seien die Völker geschützt worden; die Araber in den osmanischen Gebieten seien sehr lange vor dem europäischen Kolonialismus bewahrt worden; trotz einer äußerst heterogenen ethnischen und religiös-kommunitären Zusammensetzung habe ein Leben in Sicherheit und Toleranz garantiert werden können. Das Osmanische Reich habe eben wegen seines großzügigen und toleranten Charakters gegenüber der europäischen Durchdringungs- und Usurpationspolitik von vornherein auf verlorenem Posten gestanden. Neben diesem Selbstbild als Erbe eines imponierend toleranten Reiches steht das Bild einer vom europäischen Kolonialismus bedrängten und zuletzt nahezu in die Knie gezwungenen türkischen Nation, die sich nur unter äußersten Mühen ihre nationale Selbstbestimmung habe erkämpfen können. Die Türkei reihe sich damit in die vorderste Linie der Länder ein, die dem Kolonialismus siegreich widerstanden hätten.
Die über einen langen Zeitraum andauernde Konfrontation zwischen den Osmanen und den europäischen Mächten, die die historische Erinnerung Mitteleuropas nachhaltig geprägt hat, wurde und wird von der türkischen Historiographie dagegen als natürliche Begleiterscheinung einer erfolgreichen osmanischen Expansion verstanden. Will man nach den „türkischen Türken-kriegen“ suchen, also nach den in der kollektiven türkischen Erinnerung entscheidenden und wirkungsmächtigen Kriegen, so ist es der lange türkische Krieg, der von 1912 bis zum erfolgreichen Ende des türkischen Unabhängigkeitskrieges im Jahre 1922 dauerte. Eine offene Auseinandersetzung darüber, was mit den Armeniern Anatoliens während des Ersten Weltkriegs geschah, ist für die türkische Öffentlichkeit nicht nur wegen ihrer die nationale Ehre betreffenden Weiterungen schwierig. Die Auseinandersetzung mit den Armeniern ist - eher unbewusst als bewusst - so eng mit der Geburt des türkischen Nationalstaates und dem Mythos des Unabhängigkeitskrieges verbunden, dass eine Anerkennung möglicher türkischer Untaten scheinbar das nationale Vermächtnis und die Fundamente des türkischen Nationalstaates in Frage stellen könnte.
[Historiographie der Nachfolgestaaten]
5. Das unsichtbare Erbe
Von den Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches in Südosteuropa und in der arabischen Welt wurde und wird die osmanische Herrschaft als eine Zeit der Stagnation gedeutet. Besonders nachdrücklich fällt die Ablehnung des osmanischen Erbes in Südosteuropa aus. Die südosteuropäischen Nachfolgestaaten begründeten ihre Legitimität mit der angeblichen moralischen und politischen Überlegenheit im Vergleich zum osmanischen Regime. Die Abschüttelung und Verdammung des osmanischen „Jochs“ wurde zur nationalen Daseinsberechtigung: „Die Bedingungen, unter denen die Existenz der neuen Balkanstaaten gesichert wurde, bewirkten, daß die historische Konfrontation mit den Osmanen perpetuiert, ja geradezu als Mission der neuen Staaten betrachtet wurde.“ Diese Bilder sind auch heute noch wirksam. So ergaben zwei Untersuchungen in Bulgarien in den Jahren 1992 und 1994, dass etwa 70 bis 80 Prozent der Befragten die Türken für religiöse Fanatiker hielten. Bei einer anderen Umfrage 1995 in Griechenland gaben 89 Prozent an, eine Aversion gegen die Türken zu haben.
Im Falle der ehemaligen südosteuropäischen Gebiete des Osmanischen Reiches existiert durch den vollständigen Elitenwechsel sowie die Zurückweisung jeglicher osmanischer Traditionen und Institutionen kein „imperiales“ osmanisches Erbe. Deutlich sichtbare und nicht zu verleugnende osmanische Vermächtnisse finden sich dagegen vor allem im Bereich der Alltagskultur. Die türkischen Lehnwörter in den südosteuropäischen Sprachen versuchte man mit Purifizierungen auszutreiben.54 Maria Todorova kann drei Charakteristika südosteuropäischer Gesellschaften (mit Ausnahme Rumäniens) benennen, die sich auf osmanisches Wirken zurückführen lassen: das Fehlen eines feudalen Adels, die Existenz einer relativ freien Bauernschaft sowie die grundsätzliche Unterordnung der Stadt unter den feudalen Staat. Todorovas Hinweise jedoch, dass nicht die Osmanen ein Erbe auf dem Balkan seien, sondern der Balkan ein Erbe der Osmanen sei, und dass die Osmanen nicht als Fremdkörper betrachtet werden sollten, der auf den christlichen Völkern Südosteuropas gelastet habe, müssen in der Öffentlichkeit südosteuropäischer Staaten immer noch als ketzerisch gelten.Die grundlegende historiographische Herausforderung für jede Geschichte des Balkans ist also nach wie vor die Frage, wie die osmanische Herrschaftszeit integriert werden kann.
In der arabischen Historiographie fallen die Einschätzungen der osmanischen Epoche weniger vernichtend, aber doch kritisch aus. Der syrische Historiker Abdalkarim Rafeq erklärt in einem Beitrag über das osmanische Erbe in den arabischen Staaten die ruhige Lage während der osmanischen Herrschaft mit dem Unheil, dem die arabische Bevölkerung ausgesetzt gewesen sei und das ihr Bewusstsein von Recht und Unrecht zerstört habe. Dass kein einziger osmanischer Sultan jemals die Pilgerfahrt unternommen habe, sei ein deutliches Beispiel für die Geringachtung und Vernachlässigung der arabischen Gebiete durch die osmanischen Herrscher.
Ein Vortrag von Albert Hourani im Jahr 1970 über osmanische Hinterlassenschaften im Nahen Osten konnte Aufsehen erregen, weil er erstmals in deutlichen Worten der vorherrschenden Auffassung eines von den Osmanen verschuldeten Niedergangs (inhitat) eine Absage erteilte. Die tiefe und nachhaltige Wirkung der osmanischen Präsenz im Nahen Osten dürfe nicht übersehen werden.58 In jüngerer Zeit sind arabische bzw. aus der arabischen Welt stammende Historiker dem Pfad Houranis gefolgt, und somit hat besonders die historische Forschung zu den arabischen Gebieten des Osmanischen Reiches in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht.
Forts. folgt
Hi,
ich hab gestern in sage und schreibe mehr als 12 (!!!) Stunden (bis 4 Uhr nachts!) hier ne halbe Hausarbeit verfasst, indem ich für euch die verschiedensten Dissertationen und Artikel durchgearbeitet habe, um die verschiedenen unzulänglichen, propagandistischen, instrumentalisierten Geschichtsbilder der Staaten aufzuführen, die das osmanische Reich umfasste.
Doch dann stürzte Firefox ab, und alles war weg!!! :cry::cry::cry:
Ich hatte von den zahlreiche Seiten umfassenden Post nur die ersten 20% in Word gesichert... :cry::motz:
Nun hab ich kein Bock mehr! Ich gebe euch nun nur noch die Links. Dort könnt ihr "Historiographie/Geschichtsschreibung/Geschichtsbild" eingeben, und erhaltet Infos. Wenn euch ein Mitglied hier blöd kommt, dann verweist auf diesen Thread. Das gilt für eurozentristische oder veraltete westliche Historiographie. Aber auch häufig User mit Migrationshintergrund können sich ein Bild machen, warum sie solch ein Geschichtsbild haben.
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Hallöchen,
da es schon mehrfach hier im Forum Diskussionen um Bewertungen historischer Ereignisse gab, möchte ich hier mal ein paar Infos bringen, wie es zu solch unterschiedlichen Sichtweisen kommt.
Dabei verurteile ich niemanden, solch ein Geschichtsbild zu haben, ich würde ihn nur für ignorant halten, wenn er nach Lektüre der unten erwähnten Ausführungen nicht wenigstens ins Grübeln käme.
Da ist einmal die eurozentristische/westliche Sichtweise der westlichen Historiker, dann die etwas ausgewogenere modernere Sichtweise westlicher Historiker, und dann noch die Sichtweisen auf die Geschichte z.B. des osmanischen Reiches durch die Historiker der Nachfolgestaaten des OR - also der arab., SO-europäischen, türk., usw. Historiker.
Leider wurde vielfach die Historiographie/Geschichtsschreibung instrumentalisiert, so dass bis heute Diskutanten auf ein vereinfachendes, oder wichtige Gegebenheiten ausblendendes Geschichtsbild zurückgreifen.
In allen Lagern.
Hier nun einiges zur Erhellung des komplexen Themas (einiges habe ich sporadisch im Forum schon mal angesprochen):
Wie wird das Osmanische Reich in den verschiedenen Ländern gesehen, wo findet sich ein verzerrtes Geschichtsbild
Maurus Reinkowski: Das Osmanische Reich - ein antikoloniales Imperium?
Für die sehr Interessierten: Fußnoten siehe Link.
[Wandel der Sicht auf das OR im Westen:]
"4. Historiographische Deutungen
4.1. Das gleichberechtigte Reich.
In der Geschichtsforschung sind der Reichscharakter des Osmanischen Reiches und seine Stellung gegenüber dem europäischen Staatensystem bis heute umstritten. Zunehmend wird jedoch auf eine Gleichberechtigung der osmanischen Geschichte mit der europäischen gedrängt, und zwar in dreierlei Hinsicht: Erstens wird der Begriff „Osmanisches Reich“ abgelehnt, weil mit dem Reichsbegriff eine Handlungsschwäche und von vornherein absehbare Unterlegenheit der Osmanen gegenüber den entstehenden modernen europäischen Staaten suggeriert werde. Im unbedachten Gebrauch des Begriffes „Reich“ zeige sich zudem die „potency of anti-Turkish prejudices“ und die Wirkungsmächtigkeit des westlichen Orientalismus. Die Osmanen selbst hätten die Bezeichnung devlet-i aliyye-i osmaniyye („erhabener osmanischer Staat“) verwendet. (Devlet muss aber nicht unbedingt, wie dies im heutigen Türkisch der Fall ist, als „Staat“ verstanden werden, sondern kann auch als „Herrschaft“ oder „Herrscherhaus“ übersetzt werden.) Im osmanischen Sprachgebrauch waren aber auch andere Selbstbezeichnungen üblich, die den Reichscharakter deutlich belegen, so die markante Wendung memalik-i mahruse („die wohlbehüteten Länder“).
Zweitens wird gefordert, die Osmanen nicht mehr als „Außenseiter“ der europäischen und globalen Geschichte an die Seite zu drängen. Die eigentlich von Sympathie getragene Äußerung Eric Hobsbawms, dass im 19. Jahrhundert das Osmanische Reich „zweifelsfrei zur Welt der Opfer gehörig“ war, würde daher nicht allgemein geteilt werden. Die Forschungsliteratur schießt in ihrer Rehabilitierung des Osmanischen Reiches als eines durchaus überlebens- und handlungsfähigen Akteurs allerdings teilweise über das Ziel hinaus. So wird eine weitgehende Parallelität der Epochen in Europa und der islamischen Welt vermutet: Im Osmanischen Reich des 18. Jahrhunderts habe ein „klassischer Absolutismus“ geherrscht, in dem der Sultan und nicht der Staat im Mittelpunkt gestanden habe. Doch während in diesem 18. Jahrhundert die europäischen Feudalfürsten ihre Macht an die absolutistischen und zentralistischen Monarchien zu verlieren begannen, erreichten die lokalen Herrschaften der osmanischen Feudalherren und Notabeln erst ihren Höhepunkt.[...] Das Plädoyer für eine Gleichwertigkeit des Osmanischen Reiches ist also berechtigt, jedoch nur im Sinne einer gleichzeitigen Ungleichzeitigkeit gegenüber Europa. Das Osmanische Reich des 19. Jahrhunderts war mit Europa eng verbunden und zugleich an dieses angebunden.
Drittens betont man den Vorrang einer europäisch-osmanischen Konvivialität gegenüber eher an der Oberfläche bleibenden ideologischen Konfrontationen. Die ideologisch-religiöse Frontstellung, die angeblich für lange Zeit die Beziehungen zwischen dem Osmanischen Reich und der europäischen Welt geprägt habe, sei im Wesentlichen eine historiographische Projektion. Vor allem für die deutschsprachigen Länder ist diese Ansicht nicht einfach von der Hand zu weisen: Die Türkenkriege hatten dort auch eine nach innen gewandte Bedeutung. Mit Hilfe der durch den Buchdruck möglich gewordenen öffentlichen Propaganda wurde die türkische Bedrohung dazu eingesetzt, die eigene gesellschaftliche Ordnung zu befestigen und die Reichsstände auf die Politik des habsburgischen Kaisers zu verpflichten.Man darf vermuten, dass die Beschwörung der Türkengefahr im Bewusstsein der deutschsprachigen Länder bis heute untergründig fortwirkt und zu der nachdrücklichen Ablehnung eines EU-Beitritts der Türkei in Deutschland und Österreich beiträgt.
[Entwicklung der türkischen Historiographie]
4.2. Das antikoloniale Reich.
Die türkische Historiographie teilt die oben genannten Anliegen der internationalen osmanistischen Historiographie, geht aber in mancherlei Hinsicht noch weiter. In den ersten Jahrzehnten des neu gegründeten türkischen Nationalstaats lehnte die türkische Historiographie das Osmanische Reich als ein misslungenes Ancien Régime ab. Zwischen Türken und Nicht-Türken (vor allem Arabern) habe das Missverständnis einer angeblichen Interessengemeinschaft existiert, unter der vor allem die Türken zu leiden gehabt hätten. Die kemalistische Ideologie der Republikzeit zurückprojizierend, wurde argumentiert, das Osmanische Reich hätte besser seine Energien Anatolien widmen sollen, anstatt sich als unbeholfener Imperialist zu betätigen: „Die Kunst der Imperien ist es, Kolonien und Völker arbeiten zu lassen. Das Osmanische Reich aber, von Thrakien bis nach Erzurum, hat seinen riesigen Körper auf die Seite gelegt und den Kolonien und Völkern die Brust gegeben, bis schließlich seine Milch mit seinem Blut vermischt getrunken wurde.“
Für die frühe türkische Historiographie war eine mehrfache Verteidigungshaltung prägend: „Sie widersetzte sich dem europäischen Imperialismus, sie wandte sich aber auch gegen das alte Regime des Osmanischen Reiches und kämpfte gegen die rivalisierenden Nationalismen anderer Völker, die den Türken in ihrer Region den Rang streitig machten.“ Bei genauerer Betrachtung zerfällt das Selbstbild einer sich verteidigenden Nation, das bis heute die türkische Geschichtsschreibung prägt, in zwei Teile. Zum einen wird die historische Leistung des Osmanischen Reiches verteidigt: Unter einem gemeinsamen osmanischen Dach seien die Völker geschützt worden; die Araber in den osmanischen Gebieten seien sehr lange vor dem europäischen Kolonialismus bewahrt worden; trotz einer äußerst heterogenen ethnischen und religiös-kommunitären Zusammensetzung habe ein Leben in Sicherheit und Toleranz garantiert werden können. Das Osmanische Reich habe eben wegen seines großzügigen und toleranten Charakters gegenüber der europäischen Durchdringungs- und Usurpationspolitik von vornherein auf verlorenem Posten gestanden. Neben diesem Selbstbild als Erbe eines imponierend toleranten Reiches steht das Bild einer vom europäischen Kolonialismus bedrängten und zuletzt nahezu in die Knie gezwungenen türkischen Nation, die sich nur unter äußersten Mühen ihre nationale Selbstbestimmung habe erkämpfen können. Die Türkei reihe sich damit in die vorderste Linie der Länder ein, die dem Kolonialismus siegreich widerstanden hätten.
Die über einen langen Zeitraum andauernde Konfrontation zwischen den Osmanen und den europäischen Mächten, die die historische Erinnerung Mitteleuropas nachhaltig geprägt hat, wurde und wird von der türkischen Historiographie dagegen als natürliche Begleiterscheinung einer erfolgreichen osmanischen Expansion verstanden. Will man nach den „türkischen Türken-kriegen“ suchen, also nach den in der kollektiven türkischen Erinnerung entscheidenden und wirkungsmächtigen Kriegen, so ist es der lange türkische Krieg, der von 1912 bis zum erfolgreichen Ende des türkischen Unabhängigkeitskrieges im Jahre 1922 dauerte. Eine offene Auseinandersetzung darüber, was mit den Armeniern Anatoliens während des Ersten Weltkriegs geschah, ist für die türkische Öffentlichkeit nicht nur wegen ihrer die nationale Ehre betreffenden Weiterungen schwierig. Die Auseinandersetzung mit den Armeniern ist - eher unbewusst als bewusst - so eng mit der Geburt des türkischen Nationalstaates und dem Mythos des Unabhängigkeitskrieges verbunden, dass eine Anerkennung möglicher türkischer Untaten scheinbar das nationale Vermächtnis und die Fundamente des türkischen Nationalstaates in Frage stellen könnte.
[Historiographie der Nachfolgestaaten]
5. Das unsichtbare Erbe
Von den Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches in Südosteuropa und in der arabischen Welt wurde und wird die osmanische Herrschaft als eine Zeit der Stagnation gedeutet. Besonders nachdrücklich fällt die Ablehnung des osmanischen Erbes in Südosteuropa aus. Die südosteuropäischen Nachfolgestaaten begründeten ihre Legitimität mit der angeblichen moralischen und politischen Überlegenheit im Vergleich zum osmanischen Regime. Die Abschüttelung und Verdammung des osmanischen „Jochs“ wurde zur nationalen Daseinsberechtigung: „Die Bedingungen, unter denen die Existenz der neuen Balkanstaaten gesichert wurde, bewirkten, daß die historische Konfrontation mit den Osmanen perpetuiert, ja geradezu als Mission der neuen Staaten betrachtet wurde.“ Diese Bilder sind auch heute noch wirksam. So ergaben zwei Untersuchungen in Bulgarien in den Jahren 1992 und 1994, dass etwa 70 bis 80 Prozent der Befragten die Türken für religiöse Fanatiker hielten. Bei einer anderen Umfrage 1995 in Griechenland gaben 89 Prozent an, eine Aversion gegen die Türken zu haben.
Im Falle der ehemaligen südosteuropäischen Gebiete des Osmanischen Reiches existiert durch den vollständigen Elitenwechsel sowie die Zurückweisung jeglicher osmanischer Traditionen und Institutionen kein „imperiales“ osmanisches Erbe. Deutlich sichtbare und nicht zu verleugnende osmanische Vermächtnisse finden sich dagegen vor allem im Bereich der Alltagskultur. Die türkischen Lehnwörter in den südosteuropäischen Sprachen versuchte man mit Purifizierungen auszutreiben.54 Maria Todorova kann drei Charakteristika südosteuropäischer Gesellschaften (mit Ausnahme Rumäniens) benennen, die sich auf osmanisches Wirken zurückführen lassen: das Fehlen eines feudalen Adels, die Existenz einer relativ freien Bauernschaft sowie die grundsätzliche Unterordnung der Stadt unter den feudalen Staat. Todorovas Hinweise jedoch, dass nicht die Osmanen ein Erbe auf dem Balkan seien, sondern der Balkan ein Erbe der Osmanen sei, und dass die Osmanen nicht als Fremdkörper betrachtet werden sollten, der auf den christlichen Völkern Südosteuropas gelastet habe, müssen in der Öffentlichkeit südosteuropäischer Staaten immer noch als ketzerisch gelten.Die grundlegende historiographische Herausforderung für jede Geschichte des Balkans ist also nach wie vor die Frage, wie die osmanische Herrschaftszeit integriert werden kann.
In der arabischen Historiographie fallen die Einschätzungen der osmanischen Epoche weniger vernichtend, aber doch kritisch aus. Der syrische Historiker Abdalkarim Rafeq erklärt in einem Beitrag über das osmanische Erbe in den arabischen Staaten die ruhige Lage während der osmanischen Herrschaft mit dem Unheil, dem die arabische Bevölkerung ausgesetzt gewesen sei und das ihr Bewusstsein von Recht und Unrecht zerstört habe. Dass kein einziger osmanischer Sultan jemals die Pilgerfahrt unternommen habe, sei ein deutliches Beispiel für die Geringachtung und Vernachlässigung der arabischen Gebiete durch die osmanischen Herrscher.
Ein Vortrag von Albert Hourani im Jahr 1970 über osmanische Hinterlassenschaften im Nahen Osten konnte Aufsehen erregen, weil er erstmals in deutlichen Worten der vorherrschenden Auffassung eines von den Osmanen verschuldeten Niedergangs (inhitat) eine Absage erteilte. Die tiefe und nachhaltige Wirkung der osmanischen Präsenz im Nahen Osten dürfe nicht übersehen werden.58 In jüngerer Zeit sind arabische bzw. aus der arabischen Welt stammende Historiker dem Pfad Houranis gefolgt, und somit hat besonders die historische Forschung zu den arabischen Gebieten des Osmanischen Reiches in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht.
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