"Wurde Italien durch den 1. Weltkrieg zur Nation?"
Dazu muss man die Situation vor und nach dem Krieg vergleichen. Vor dem Krieg war der wirtschaftliche Unterschied zwischen Nord und Süd strukturell deutlich stärker als in fast allen anderen europäischen Ländern. Unter Giolitti gab es bis 1914 erhebliche Änderungen, z.B. eine Kolonialpolitik mit Erwerbungen (allerdings war der dafür nötige Aufwand beträchtlich und belastete den Staat schwer) und eine Industrialisierungspolitik mit entsprechenden sozialen Auswirkungen wie massiver Binnenwanderung von Süd nach Nord, Sozialpolitik gegen die industrielle Armut (Stichwort "Brotfrage", Sozialversicherung, Einführung des allgemeinen Wahlrechts). Dabei entstanden aber auch die organisierten katholischen und sozialistischen Volksmassen und die zum Faschismus werdenden Arbeiterbünde. In den 40 Jahren vor dem ersten Weltkrieg wanderten 14 Millionen Italiener nach Nord- und Südamerika aus, das sind täglich 1000 Personen!
Eine Minderheit im Parlament unter der Führung von Salandra und Sonnino betrieb sehr aktiv den Kriegseintritt gegen eine Mehrheit im Parlament und in der Bevölkerung durch geschickte Beeinflussung der öffentlichen Meinung.
Nach dem Krieg hatte Italien viele Tote, eine ruinierte Wirtschaft (nicht zuletzt durch die Umstellung auf eine Kriegswirtschaft, die nicht einfach zurück zu drehen war), eine nach wie vor nicht geklärte soziale Frage (verstärkt durch die Versorgung der Versehrten und Kriegswitwen und-Waisen) und eine politische Krise, weil Nationalisten eine "Verstümmelung des Sieges" durch Verzichtspolitiker und Alliierte vorwarfen.
Es folgten zwei Jahre der "linken Agitation" mit teils gewalttätigen Streiks, Werks- und Landbesetzungen. Die Unfähigkeit der Regierungen, diese Situation in den Griff zu bekommen und die Angst vor einer bolschewistischen Revolution führte dann zum Aufstieg Mussolinis. Die Auswanderung ging nach dem Krieg unvermindert weiter.
Ich kann also weder vor noch nach dem Krieg eine besondere Vereinheitlichung erkennen, die Situaion in den verschiedenen Landesteilen war und blieb sehr heterogen. Auch vermochte der Staat es nicht, seinen Einwohnern eine überwiegend gemeinsame Identität zu geben.