Kriegerinnen unter den Wikingern

In der Wikingerzeit sind Cross-Dresserinnen sicherlich schneller aufgefallen.
Ich verstehe nicht ganz – sagte ich das nicht? Was habe ich übersehen?
Warum ist Gender für euch beide so ein Reizwort?

Mir ist schon öfters aufgefallen, dass das Wort "Gender" viele Diskutanten und manchmal auch die Diskutantinnen zur Weißglut treibt und sie die Scheuklappen aussetzen. Benutze ich die Worte soziale Geschlecht oder Geschlechterroll hören viele Leute, die dieses angebliche "Gender-Gaga" eigentlich ablehnen, sogar mal zu.

Gender, Crossgender, Transgender usw. sind aktuelle soziologische Fachbegriffe. Ein Mittelalterarchäologe der Gegenwart benutzt die Wissenschaftssprache des 21. Jahrhundert.

Wie sollen wir uns sonst drüber unterhalten?
Die Komplexität des Phänomen kann nur mittels der Fachbegiffe erschlossen werden.
Ich bin hier ganz bei @dekumatland; in diesen, aber auch in vielen anderen Fragen bin ich sehr dagegen, moderne Begriffe und Vorstellungen unreflektiert auf geschichtliche Sachverhalte zu übertragen.

Dass ich hier in der Tat manche Reizworte sehe und andere nicht, liegt daran, dass 'Geschlecht' oder 'Geschlechterrolle' neutralere und nützliche Begriffe sind, wohingegen 'Gender', 'Transgender' und Co. eindeutige Konnotationen haben, die von ihren Schöpfern auch durchaus gewollt sind.

Seit Jahrzehnten gibt es immer wieder Strömungen in den Gesellschaftswissenschaften, die Geschichte nach "Hinweisen" zu durchforsten, um das eigene gegenwärtig propagierte Gesellschaftsmodell zu untermauern. Oftmals bleibt die Wissenschaft dabei völlig auf der Strecke.

So behauptete Judith Butler schon mal, die Praxis des antiken Theaters, Frauenrollen von Männern spielen zu lassen, weise auf eine "Transgender"-Subkultur hin, die vom aufkommenden Christentum unterdrückt worden sei. In Wahrheit wurden Frauen aus schnöder Prüderie vom Theater ferngehalten.

Auch die böhmische Legende vom Königreich der Frauen, das von den Männern unterworfen worden sei, findet sich in einschlägigen Kreisen vielfach unkritisch übernommen als "Beleg" dafür wieder, dass das Geschlecht ein Konstrukt der abrahamitischen Religionen sei, während ehedem Gleichberechtigung und Toleranz geherrscht hätten.

Die meisten Gender-Forscher, von denen ich gelesen habe oder die ich kennenlernen durfte, betreiben keine Forschung zum Erkenntnisgewinn, sondern zur Bestätigung ihres Weltbildes. Ihre Veröffentlichungen, von denen auffällig viele nie zitiert werden, strotzen vor Bestätigungsverzerrung.

Das hat System. Vor drei Jahren gelang es James Lindsay, Helen Pluckrose und Peter Boghossian zwanzig hanebüchene und offensichtlich erlogene Papers in wichtigen Journalen für Gender Studies zu platzieren, um den völligen Mangel an kritischem Denken in diesen Kreisen aufzuzeigen.

Was da ablief, ging weit über den gelegentlichen Mangel an Peer Review in anderen Disziplinen hinaus – oder über die unselige Praxis gewisser Blättchen in Indien, bei denen man gegen Bezahlung jeden Mist platzieren kann, damit man ein paar Veröffentlichungen in seiner Vita vorzuweisen hat.

"Gender Studies" verschieben die Grenzen zwischen Wissenschaft und Aktivismus. Was der Sache dient, wird unkritisch aufgegriffen, und darin sehe ich in der Tat ein Problem, zumal wenn daraus Forderungen für die Politik abgeleitet werden und jede Kritik als angebliche Frauen- oder Transfeindlichkeit abgebügelt wird.

Allgemein gesprochen: Ich störe mich nie daran, was jemand sagt; dazu habe ich gar nicht das Recht, dafür haben wir Meinungsfreiheit; ich störe mich aber sehr wohl daran, wie es gesagt wird.

Aber zum Thema…

Wenn auch nur einer von hundert erschlagenen Plünderern sich unter den Händen der Leichenfledderer als Frau in Männerkleidern erwiesen hätte, oder wenn die frisch konvertierten Skandinavier Hinweise auf solche Praktiken gegeben hätten, wäre dies für die christlichen Chronisten doch ein gefundenes Fressen.

Oder was ist mit den frisch konvertierten Fürsten und Häuptlingen des Nordens? Hätten sie nicht mit dem Eifer der Neophyten Gesetze gegen Praktiken erlassen müssen, die der Kirche ein Graus waren? Die, aus Sicht der Zeitgenossen, die ganze Gesellschaftsordnung des Mittelalters bedroht hätten?

Denn die Rolle, die das christliche Mittelalter der Frau zuwies, und aus der, wenn überhaupt, nur mächtige und überaus willensstarke Frauen ausbrechen konnten, lässt sich nicht allein mit der durchaus misogynen Grundannahme des Christentums erklären, die Frau sei das "Gefäß des Teufels".

Es wurde ja nicht nur die Frau bestraft*), die Männerkleider trug, sondern auch der Handwerker, der sich Kleidung in einer dem Adel vorbehaltenen Farbe anmaßte. Jeder Versuch, aus der Gesellschaftsordnung auszubrechen, erregte größtes Misstrauen als Auflehnung gegen die vermeintlich gottgegebene Ordnung.

Deswegen halte ich es für schier unvorstellbar, dass es solche Sitten unter den Wikingern gab, ohne dass die Feinde und späteren Missionare der Wikinger sie propagandistisch rezipiert hätten.

*) Ich weiß, dass es Rechtfertigungsgründe für Frauen gab, Männerkleider zu tragen; bspw. wurde das Verkleiden als Mann, um die eigene "Keuschheit" vor unangenehmen Zeitgenossen zu bewahren, ebenso als Rechtfertigung akzeptiert wie große Kälte oder große Not. Aber es dürfte klar sein, worum es mir geht.
Vielleicht ist die Sache einfacher als man meint.Man entdeckte Amerika,die Schiffe fuhren zurück und Siedler machten sich auf den Weg.Kurz dann waren auch Frauen an Bord und sogar Kinder.
Geschwommen nach Amerika werden die sicher nicht sein ;-)
Mir scheint plausibler, dass die Entdecker ihre Frauen und ggf. Familien von Anfang an mitgenommen hätten. Selbst Kolumbus wagte sich auf eine Fahrt ins Ungewisse, obwohl zu seiner Zeit die navigatorischen und schiffbaulichen Möglichkeiten eine Atlantiküberquerung vereinfacht hatten.

Für die Vinland-Fahrer war es gewiss eine Fahrt ins Ungewisse. Um erst einmal neues Land zu erkunden und im Erfolgsfall ihre Familien nachzuholen, hätten sie dreimal den Atlantik überqueren müssen – von Europa nach Amerika, von Amerika nach Europa und wieder zurück. Ist das nicht ziemlich riskant?
 
Das hat System. Vor drei Jahren gelang es James Lindsay, Helen Pluckrose und Peter Boghossian zwanzig hanebüchene und offensichtlich erlogene Papers in wichtigen Journalen für Gender Studies zu platzieren, um den völligen Mangel an kritischem Denken in diesen Kreisen aufzuzeigen.
Das stimmt so aber nicht. Sie haben insgesamt 20 Artikel eingereicht. Veröffentlicht wurden fünf oder sechs, manche erst nach angemahnter Überarbeitung. Der erste Artikel, den sie eingereicht haben, wurde erst vom zweiten Blatt angenommen. Manche Artikel wurden gar nicht angenommen, viele wurde mit der Aufforderung, sie zu überarbeiten zurückgeschickt (auch eine Form der Nichtannahme) und irgendwann flog die ganze Geschichte auf, eben weil Leuten Ungereimtheiten aufgefallen sind. Das Peer Review hat am Ende eben doch funktioniert, wenn auch nicht immer gleich gut. In einem Fall wurde einer der Artikel allerdings auch vom bestellten Peer Reviewer dafür gelobt, dass er einen so innovativen Ansatz verfolge.
Als das Projekt bekannt wurde, wurde an der Methodologie der „Studie“ Kritik geübt, weil diese sich auf mit der Genderthematik assoziierte Zeitschriften eingeschossen habe und überhaupt nicht versucht habe, auch Artikel in anderen Fachbereichen - etwa in den Naturwissenschaften - unterzubringen, es also an der Kontrollgruppe mangelte.
 
Hast Du die eingereichten Artikel mal gesehen? Da sollte sich die Frage nach einer Überarbeitung gar nicht stellen. Von Peer Review kann keine Rede sein, wenn die Redaktion grundsätzlich Behauptungen anerkennt, die schon eine Google-Suche als erfunden widerlegt hätte.

Was die Frage nach der Kontrollgruppe anlangt, ich halte eine solche für entbehrlich. Es ist genug zur Effizienz oder Ineffizienz der Peer Review (gerade in den Naturwissenschaften) veröffentlicht worden, auch mit Beispielen von hanebüchenem Schund, um hier halbwegs zutreffende Schlüsse zu ziehen.

Aber diese Diskussion führt an dieser Stelle zu weit, vielleicht sollte man sie in die Wissenschaftsgeschichte-Sektion verlagern? Eigentlich wollte ich sie mit meinem etwas flapsigen Einwand auch gar nicht lostreten, sondern nur eine Meinung dazu hören, ob sich die Lektüre der fraglichen Website wirklich lohnt.

Nebenbei gefragt, in der Wikipedia beispielsweise ist von Vinland-Fahrten die Rede (Plural). Ist bekannt oder abschätzbar, wie viele davon es gab? Mir selbst waren nur die Namen Bjarni Herjolfsson, Leif Eriksson und Thorfinn Karlsefni bekannt.
 
Hast Du die eingereichten Artikel mal gesehen? Da sollte sich die Frage nach einer Überarbeitung gar nicht stellen. Von Peer Review kann keine Rede sein, wenn die Redaktion grundsätzlich Behauptungen anerkennt, die schon eine Google-Suche als erfunden widerlegt hätte.
Nein, ich habe mir die Artikel nicht angesehen. Die interessieren mich nicht. Mich interessiert eher der damit verbundene Narrativ. Laut dem Narrativ haben die drei Autoren bewusst 20 Hoax-Artikel erfolgreich in führenden Fachzeitschriften untergebracht. An diesem Narrativ sind zwei Dinge falsch:
1. Sie haben keine 20 Artikel untergebracht, sondern versucht, die unterzubringen.
2. es waren keine führenden Fachzeitschriften

Es fehlt, wie gesagt (methodologische Kritik), die Kontrollgruppe und, (wissenschaftsethische Kritik) es ist äußerst fragwürdig bewusst Hoaxes zu lancieren. Es ist immer gut, wissenschaftliche Verhaltensweisen auf den Prüfstand zu stellen, deshalb habe ich die wissenschaftsethische Kritik im vorherigen Beitrag unterschlagen. Aber im Grunde ist es schon ein Problem, bewusst Hoaxes zu produzieren. Wenn man Kritik an einer Position hat, dann schreibt man zu der fraglichen Veröffentlichung eine Rezension oder erstellt eine Metastudie und veröffentlicht keine Hoaxes.
 
Eigentlich wollte ich sie mit meinem etwas flapsigen Einwand auch gar nicht lostreten, sondern nur eine Meinung dazu hören, ob sich die Lektüre der fraglichen Website wirklich lohnt.
@-muck- falls du die Website des Mittelalterarchäologen Toplak meinst ("historische Beratung", eine etwas wunderliche Überschrift?!) so ist diese nach Abzug etwas marktschreierischer Modebegriffe (cross-dressing etc als Inszenierung von Gender-Rollen in Grabbeigaben usw) durchaus informativ. Laut Toplak gibt es nur zwei Gräber, in welchen wikingische Frauen mit Waffen, Rüstung etc als Machtsymbolen bestattet sind, und diese zwei weisen signifikante Unterschiede zu den Gräbern sozial hochgestellter wikingischer Krieger auf (die Position/Ausrichtung der Schwerter ist anders) und es ist laut Toplak unklar, ob man diese beiden Bestattungen als vormals aktive Kriegerinnen deuten könne (er hält das für eher unrealistisch) - - die wiss. Publikationen von Toplak werde ich mir über die Weihnachtspause durchlesen und kann danach davon berichten (aber ich gehe davon aus, dass das seriöse und wiss. korrekte Publikationen sind)
Das Grab von Nordre Kjølen ist sicherlich ein neues und wichtiges Puzzle-Teil in dem großen Bild der Wikingerzeit, das uns zwingt, die Rolle der Frau und das Genderverständnis der Wikinger neu zu überdenken. Aber es ist kein Beleg für eine aktive Rolle von Frauen als Kriegerinnen im Kampf!
Mehr Informationen zu Walküren, Schildmaiden und Frauen mit Waffen gibt es in dem bereits erwähnten Kapitel von Leszek und mir: Leszek Gardeła, Matthias Toplak, Walküren und Schildmaiden. Weibliche Krieger?, in: Jörn Staecker, Matthias Toplak (Hrsg), 2019, Die Wikinger. Entdecker und Eroberer, Berlin: Ullstein Buchverlage/Propyläen Verlag, S. 137–151.
Zudem möchte ich Leszeks Forschung zu diesem Thema empfehlen: In seinem Projekt 'Amazons of the North? Armed Females in Viking Archaeology and Medieval Literature' präsentiert er in einer inzwischen ganzen Reihe von Aufsätzen sowie in einem bald erscheinenden Buch die neueste Forschung und seine Perspektive zu diesem Thema. Leszeks Publikationen lassen sich online bei Academia.edu herunterladen.
zitiert aus Neue Diskussionen um 'Kriegerinnen-Grab' aus der Wikingerzeit - Historische Beratung Dr. Matthias Toplak (wikinger-toplak.de)

Nebenbei gefragt, in der Wikipedia beispielsweise ist von Vinland-Fahrten die Rede (Plural). Ist bekannt oder abschätzbar, wie viele davon es gab? Mir selbst waren nur die Namen Bjarni Herjolfsson, Leif Eriksson und Thorfinn Karlsefni bekannt.
so weit mir bekannt, hat es nach ersten Erkundungs-"Expeditionen" ein paar "Besiedlungsfahrten" von Grönland aus gegeben, aber die neu angelegten "Vinland/Markland"-Siedlungen waren wohl nur einige Jahrzehnte in Betrieb - Grund könnte eine schlicht zu geringe Population gewesen sein. Das war ja kein "exercitus" mit Mann und Maus und Tross und großer Truppenstärke wie weiland die Wandalen bei der Überfahrt nach Nordafrika :) schon Island und Grönland hatten zur Wikingerzeit keine sonderlich hohe Bevölkerung.
 
Zuletzt bearbeitet:
Natürlich muss man mit jeder Schlussfolgerung vorsichtig sein, aber es ist doch gerade in den Geisteswissenschaften so, dass gesellschaftliche Strömungen unser Bewusstsein auch auf neues lenken.
was allerdings nicht bedeutet, dass restlos alles heute neues auch den Gesellschaften vor 1000 Jahren unterstellt oder angedichtet werden soll: von einem Wikinger oder einer Wikingerin (egal ob friedfertig oder in Waffen) wird man kaum Verständnis für Menschenrechte, Gleichheit und noch so manches andere heute selbstverständliche fordern oder erwarten können ;) - da ist es bei der Deskription der wikingischen Überbleibsel vielleicht angebracht, etwas neutralere Begriffe als die für heutige Verhältnisse geltenden zu verwenden.
Bzgl. der diskutierenswerten "wikingischen" Frauenbestattungen mit Waffen muss erst einmal deren Deutung geleistet werden: Kriegerinnen oder Herrscherinnen? Warum so auffallend wenige "Kriegerinnengräber" , wenn es in der fiktionalen literarischen Tradition - die Jahrhunderte später erst aus christlicher Perspektive aufgezeichnet wurde! - von übermenschlichen Walküren/Kriegs-Todesdämoninnen und menschlichen "Schildmaiden" so sehr wimmelt?
(mir scheint, dass M. Egeler "Walküren, Bodbs, Sirenen" de Gruyter, 2011, da aufschlussreich ist - @El Quijote als Hilfsdisziplin vergleichender religionsgeschichtlicher Art)
 
Völlig klar. Ich weise ja anhand des Taj Mahal gerne darauf hin, dass der Reichtum eines Grabes oder seiner Grabbeigaben zwar vielleicht Rückschlüsse auf den Status der bestatteten Person erlaubt, aber bei weitem keinen über die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Der Marienkult in manchen katholische Ländern ist ein überaus schlechtes Indiz für die Rolle der Frau in der jeweiligen Gesellschaft (ja man könnte sogar sagen, dass Maria ein Rollenbild darstellt, der keine Frau gerecht werden kann und somit der Marienkult mitunter sogar zur Untrrdrückubg der Frau beitragen kann). Nur gerade in Gesellschaften mit einer klaren Geschlechtertrennung ist es doch sehr auffällig, wenn biologisches und soziales Geschlecht divergieren. Und wir wissen doch heute auch, dass verschiedene sexuelle Identitäten auch früher bereits existiert haben müssen, selbst wenn es noch keine Begrifflichkeiten dafür gab und sie in der Vorstellungswelt der Leute nicht vorkamen.
 
Also nehmen wir den Begriff des Transgender. Den gab es nicht. In der Vorstellungswelt der Menschen gab es Mann und Frau. Basta. Vielleicht noch Zwitter, also Menschen, deren äußerliche Geschlechtsmerkmale divergent waren und keine eindeutige Bestimmung zuließen. Aber grundsätzlich war ein Mann ein Mann und eine Frau eine Frau. Aber die Gefühle, die liegen auf einer anderen Ebene. Da verhielt sich ein Mann vielleicht weibisch oder eine Frau stand ihren Mann. Vielleicht gab es noch sexuelle Devianz. Aber dass ein Mann sich als Frau fühlen konnte und trotzdem Frauen lieben, das dürfte jegliche Vorstellungskraft gesprengt haben. Und dennoch lässt es sich heutzutage nicht mehr leugnen, dass es genau solche Menschen gibt. Die Annahme, dass es das früher nicht gab, nur weil die Menschen sich das nicht vorstellen konnten und keine Begrifflichkeiten für diese heterogenen Empfindungswelten hatten, wäre biologisch gesehen absurd.
 
Ich verstehe deine Frage nicht.
Ich hatte beim zitieren eigens fett und unterstrichen markiert, was mich sehr verblüfft hatte.
Was weder in der Sprache (Begrifflichkeit) noch in der Vorstellungswelt einer Epoche (hier der "nordgerman."Wikingerzeit") existiert, das sollen wir dennoch für diese Epoche und ihre Gesellschaft als vorhanden betrachten (und zwar nunmehr aus biologischen (?) Gründen) - ist das nicht in Sachen Argumentation abstrus?
 
Wieso soll das abstrus sein? Homo- und Transsexualität etc. sucht man sich schließlich nicht aus, es sind keine Modeerscheinungen. Wir leben heute nur in einer Zeit, wo Menschen, welche z.B. Angehörige des eigenen Geschlechtes lieben oder sich dem biologischen Geschlecht, dem sie ihrer äußeren Geschlechtsmerkmale wegen zugeordnet werden, nicht zugehörig fühlen, sich nicht mehr zwanghaft der Mehrheitsgesellschaft anpassen müssen. Die biologischen Grundvoraussetzungen haben sich in den letzten 200.000 Jahren nicht verändert.
 
(1) Homo- und Transsexualität etc. sucht man sich schließlich nicht aus, es sind keine Modeerscheinungen. (2) Wir leben heute nur in einer Zeit, wo Menschen, welche z.B. Angehörige des eigenen Geschlechtes lieben oder sich dem biologischen Geschlecht, dem sie ihrer äußeren Geschlechtsmerkmale wegen zugeordnet werden, nicht zugehörig fühlen, sich nicht mehr zwanghaft der Mehrheitsgesellschaft anpassen müssen.
Aber wir sind bei weitem nicht wir alle: einige heutige Gesellschaften sind wie in deinem zweiten Satz (2), einige andere heutige Gesellschaften entsprechen dem ganz und gar nicht (ich werte das nicht, es ist so) - und in diesem Zusammenhang ist fraglich, ob wir unsere Vorstellungen, Haltungen und Wertungen a) als allgemeingültig postulieren dürfen und b) ob wir sie, weil wir sie für richtig halten, in uns ziemlich fremde historische Gesellschaften (Wikinger, um die geht es hier) hineinlesen dürfen.

Homosexualität, in historischen Quellen oft (aber nicht überall) negativ beleumundet, kann anhand der Quellen als "damals bekannt, aber nicht wohlgelitten" (klingt absonderlich in dieser Formulierung) belegt werden. Das Wort "Homosexualität" gab es bei den Wikingern nicht, aber negativ konnotierte Umschreibungen. Wie es um den modernen, erst Ende des 19.Jhs. geprägten Begriff Transsexualität in Umschreibungen in mittelalterlichen Quellen steht, ist weitaus schwerer zu beurteilen. Absonderlich wirkt hier Transsexualität – Wikipedia die Päpstin Johanna als Beweisort... Die Göttersagen im Norden, Produkte des 13. Jhs. und später, mit ihrem inhaltlichen Anspruch, die religiösen Vorstellungen des 9.-10.Jhs. wiederzugeben, verfügen über einen Feuergott Loki, der sich mal in eine Stute verwandeln und ein Fohlen gebären musste, um dadurch irgendwie die Welt oder so zu retten - macht diese ulkige Geschichte den Loki nun zum historischen Nachweis, dass den Nordleuten des 10. Jhs. Transsexualität geläufig war?

Aber noch etwas ganz anderes: es finden sich keine eindeutig "homosexuellen" Kriegergräber oder Grabbeigaben-Inszenierungen bei den Wikingern (und sonst wohl auch nicht) - warum sollte es aber spezielle cross-dressing oder transsexuell inszenierende Grabinszenierungen geben? Hinzu kommt, dass das, was uns heute (zumindest in einigen westlichen Gesellschaften) selbstverständlich ist, in vielen historischen Gesellschaften - auch der wikingischen - negativ konnotiert war (um es freundlich auszudrücken) und als abweichendes Verhalten, Sünde, Schande usw. betrachtet wurde. Das scheint mir ein Indiz dafür zu sein, dass die beiden sozial sehr hoch gestellten "Kriegerinnen-Gräber" keine speziellen Transsexualitäts- oder cross-dressing-inszenierungen sind.

So lange die Quellen und die Funde keinen eindeutigen Beleg liefern, zweifle ich daran, dass die Anwendung moderner Begriffe für moderne Kenntnisse/Haltungen/Wertungen (wie transsexuell, cross-dressing, transgender etc) auf historische Gesellschaften methodisch korrekt ist.
 
Aber wir sind bei weitem nicht wir alle:
Aber das ist doch unwichtig. Weil vermutlich die Mehrheit der Weltbevölkerung sich nach wie vor des Eingeständnisses verweigert, dass es mehr als Mann und Frau gibt und mehr als A-, Hetero- und Homosexualität (wobei letztere häufig verpönt sein dürfte), müssen wir uns doch nicht dem Eingeständnis verweigern, dass die sexuelle Identität und das sexuelle Bedürfnis auch in der Vormoderne nicht zwingend an das biologische Geschlecht gebunden war. Und wenn wir nun mal Knochen vorliegen haben, die eine biologische Geschlechtsbestimmung erlauben, und die Beigaben einfach nicht zum biologisch bestimmten Geschlecht "passen", dann müssen wir mit dem Sachverhalt doch umgehen. Und dazu benötigen wir eben Vokabular.
 
@El Quijote klar brauchen wir Vokabular zur Deskription, und sicherlich hat sich die menschliche Biologie seit runden 1000 Jahren nicht signifikant verändert (vielleicht ausgenommen Lebenserwartung und Längenwachstum) - aber es spricht doch nichts dagegen, ein Vokabular für Verhältnisse vor 1000 Jahren zu verwenden, das nicht zu sehr nach unseren heutigen Wertungen & Verhältnissen schmeckt.
Spaßig formuliert: Kaiser Tiberius vergnügte sich privat auf Capri, weil er wegen burn out abgedankt hatte -- klingt doch bissel komisch, oder?
Die wenigen wikingischen Frauenbestattungen mit Waffen & (cum grano salis) Herrschaftssymbolen
- sind sehr wenige
- belegen eine sehr hohe soziale Stellung (Elite)
- weisen ein paar "inszenatorische" Differenzen zu Krieger/Fürstengräbern mit Waffenbeigaben etc auf (Ausrichtung der Schwerter, vgl Toplak)

Über die sexuellen Präferenzen, Rollen etc sagen diese Grablegen nichts aus - ob die bestatteten Krieger/Fürsten homo-, hetero- oder sonstwiesexuell veranlagt waren und was ihr Rollenverständnis war, sagen uns die Gräber nicht. Und dasselbe gilt auch für die so genannten Kriegerinnen-Gräber.
 
sicherlich hat sich die menschliche Biologie seit runden 1000 Jahren nicht signifikant verändert (vielleicht ausgenommen Lebenserwartung und Längenwachstum)

was für mich eine Frage aufwirft:
Genetisch ist da ja sehr sicher nichts passiert in 1000 Jahren oder ca.40 Generationen.

Das die Leute heute größer sind liegt wohl vielmehr an veränderter Nährstoffversorgung.

Könnte das - und weitere moderne Veränderungen (Hormone im Fleisch, Chemikalien im Wasser etc) auch andere Ausprägungen bringen?

Oder provokant ala BILD gefragt: Alle GAGA weil Umwelt kaputt?
 
Über die sexuellen Präferenzen, Rollen etc sagen diese Grablegen nichts aus - ob die bestatteten Krieger/Fürsten homo-, hetero- oder sonstwiesexuell veranlagt waren und was ihr Rollenverständnis war, sagen uns die Gräber nicht. Und dasselbe gilt auch für die so genannten Kriegerinnen-Gräber.
Selbstverständlich nicht. Aber das war ja auch nicht der Ausgangspunkt. Der Ausgangspunkt war die Entlehnung soziologischer bzw. gendertheoretischer Begriffe durch Toplak, über die sich gleich aufgeregt wurde, weil manche Leute nur das Wort gender hören müssen, damit der Puls rast. Da diskutiert man dann nur noch über die Terminologie, nicht mehr über den Inhalt.
In Deutschland wird die Archäologie als Teilbereich der Geschichtswissenschaften gesehen. In den angelsächsischen Ländern ist sie eher mit Anthropologie/Soziologie/Ethnologie assoziiert.
 
Nebenbei gefragt, in der Wikipedia beispielsweise ist von Vinland-Fahrten die Rede (Plural). Ist bekannt oder abschätzbar, wie viele davon es gab? Mir selbst waren nur die Namen Bjarni Herjolfsson, Leif Eriksson und Thorfinn Karlsefni bekannt.
Ernsthaft! Du ignorierst noch immer noch Freydis Erikson.

Die für die Eingangsfrage wichtigste Episode ist die in der isländischen Grönländer-Saga beschriebene Vinland-Fahrt unter der Führung von Freydis, Helgi und Finnbogi die wichtigste.

Freydis plant eine gemeinsame Handelsfahrt mit den isländischen Händlern Helgi und Finnbogi nach Vinland. Den Erlös des Geschäftes wollen sie teilen.
Freydis bittet ihren Bruder Leif Erikson darum ihr sein Sommerlager in Vinland für eine Handelsfahrt zu borgen.
Sie brechen nach Vinland auf, ihre Schiffe haben jeweils 30 Personen an Bord. Mehrere Frauen sind auch dabei, aber das wird erst am Ende der Geschichte deutlich.

In Vinland kommt es aber zum Streit zwischen Freydis und den isländischen Händlern. Ursächlich für den Streit ist Freydis Habgier. Freydis will die Konkurrenten überfallen. Ihr Ehemann, dessen Name in der Sage nicht genannt wird, ist zuerst offenbar anderer Meinung und kann nur durch Lügen und Hetze überzeugt werden. Freydis erfindet die Lügengeschichte, sie sei von den Isländern misshandelt worden. Dafür verletzt sie sich selbst und zeigt ihrem Mann die Wunden. Dann droht sie ihrem Mann unter anderem mit Scheidung und nennt ihn einen Feigling, weil er einen Racheakt verweigert. Dass überzeugt den Pantoffelhelden dann doch und er überfällt das Lager der isländischen Händler. Nur fünf Frauen aus aus dem Gefolge von Helgi und Finnbogi überlehmen diesen Überfall von Freydis Leuten. Die fünf Frauen tötet Freydis eigenhändig mit der Axt. Freydis möchte diesen Vorfall geheimhalten und droht allen mit dem Tod, die gegen sie aussagen. Freydis und ihr Gefolge kehren nach Grönland zurück. Wie die Wahrheit ans Licht kommt ist unklar, jedenfalls erfährt ihr Bruder Leif Erikson davon und sagt ihr voraus, dass es den Nachkommen seiner Schwester nicht gut gehen wird - quasi ein Fluch auf ihrer Familie.

Frauen nahmen also in der Sagen doch an den Fahrten in die Sommerlager auf Vinland teil. Was die Frauen im Gefolge von Helgi und Finnbogi während der Fahrt gemacht haben und wofür sie zuständig waren, wird in der Sage jedoch nicht beschrieben.
Freydis wird jedoch als eine Anführerin einer Handelsfahrt beschrieben, wenn gleich ihr Ehemann ein Wörtchen mitzureden hat.

Die christlichen Chronisten des frühen Mittelalters hatten ein propagandistisches Interesse daran auszuschlachten, was ihnen an den Nordmännern abseitig oder sündig vorkam, und taten es mentsprechend gerne, saugten sich gar Lügen aus den Fingern, um ihre Missionierungsarbeit zu überhöhen.
Ich teile dein Narrativ zwar nicht, möchte aber darauf hinweisen, dass die christlichen Autoren der isländischen Vinland-Sagen Freydis Eriksdottir sehr negativ beschreiben. Alles was Freydis macht, ist nicht anderes Sünde und Frevel. Ihre Familie ist verflucht.

Von Nachkommen der Freydis weiß die Sage nichts. Dass Freydis auch noch während der Schwangerschaft halbnackt ein Scharmützel mit Skraelingern wagt (Saga von Erik dem Roten), ist jedenfalls kein Gutes zeichnen. Freydis gilt als eine schlechte Mutter - zumindest halte ich das für eine zentrale Aussage zu Freydis in den isländischen Vinland-Sagen.

Freydis ist das genaue Gegenteil der frommen Mutter Gudrid. Gudrid bekommt in Vinland ein Kind und bringt es später zurück nach Grönland und dann nach Island. Nach dem Tod ihres Mannes soll sie sogar nach Rom gepilgert sein und später auf Island als Eremitin gelebt haben.
Gudrids Familie ist gesegnet und einige ihrer Nachfahren werden sogar isländische Bischöfe und stehen somit die Spitze der mittelalterlichen Gesellschaft.

Die Vinland-Sagen haben also eine klare Botschaft.
Frauen, die sich in die Geschäfte, die Politik und den Krieg einmischen sind. Frauen, die Schwerter und Äxte in die Hand nehmen, sind schlecht.
Frauen, die sich um Kinder, Küche und Kirche kümmern sind gut.
Natürlich spielt das alles vor dem Hintergrund des christlichen Mittelalters.

Das ganze passt übrigens ganz zum negativen Bilder der Grönländer in der Island-Sage. Erik der Rote ist ein verbannter Mörder und Heide. Dass seine Tochter ähnliche Makel hat, überrascht nicht. Ich halte es auch für möglich, dass in einer derartigen Gemeinschaft wie der der Grönland-Siedler gewisse gesellschaftliche Konventionen nicht eingehalten wurden. Es gab auf Grönland zu der Zeit ja niemanden, der gesellschaftliche Konventionen durchsetzen konnte. So mögen die frühen Grönland-Wikinger selbst für die Isländer als gesetzlose Heiden gegolten haben.
 
Zuletzt bearbeitet:
Da diskutiert man dann nur noch über die Terminologie, nicht mehr über den Inhalt.
Die wenigen wikingischen Frauenbestattungen mit Waffen & (cum grano salis) Herrschaftssymbolen
- sind sehr wenige
- belegen eine sehr hohe soziale Stellung (Elite)
- weisen ein paar "inszenatorische" Differenzen zu Krieger/Fürstengräbern mit Waffenbeigaben etc auf (Ausrichtung der Schwerter, vgl Toplak)
...ich hatte mir eingebildet, ein wenig Inhalt ohne Aufregung (und ohne gender) geliefert zu haben...
 
Ernsthaft! Du ignorierst noch immer noch Freydis Erikson.
Nein, tue ich nicht, ich hatte den Namen nur vergessen. Übrigens schrieb ich schon ganz zu Anfang, dass ich absolut davon ausgehe, dass Frauen diese Reisen ebenfalls unternahmen. Aber ich bin mir nicht darüber im Klaren, wie viele Fahrten es insgesamt waren, die Vinland suchten und/oder erreichten.

Gab es nur die paar Expeditionen der namentlich bekannten Persönlichkeiten? Lassen literarische oder archäologische Quellen darauf schließen, dass es noch andere Vinland-Fahrer gab, die heute vergessen sind?
 
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