Eine OT-Antwort:
Ich grübele noch über der Tatsache, dass Kramer über jene Zigtausende, die von Ö.-U. getötet worden sind, kein Wort verliert. Könnte das Desinteresse der Historiker am Ende auch daran liegen, dass es sich bei den Opfern um namenlose, weit entfernte Angehörige einer anderen Ethnie handelt?
Naheliegender ist es m.E., dass Historiker reflexiv arbeiten und somit die Gegenargumentation in Form von Rezensionen oder Kritiken antizipieren. Das bedeutet, dass man sich durch Beschränkung "immunisiert" und über die Punkte primär schreibt, die zum Kernthema gehören.
Das bedeutet, dass man Themen wegfallen läßt, für die die eigenen Quellen oder Literaturstand als nicht ausreichend erscheint.
Möglicherweise will man sich auch in einer separaten Arbeit mit dem Thema ausführlich beschäftigen.
Anders ausgedrückt: Das Interesse am Schicksal der Opfer scheint umso geringer zu sein,
(a) je größer die räumliche Entfernung zu ihnen ist und/oder
(b) je geringer die Opferzahl in Relation zur Gesamtbevölkerung des betreffenden Gebiets ist und/oder
(b) je stärker die Eigenschaften und die Lebenssituationen der Opfer von den unseren abweichen.
Im weitesten Sinne könnte sich um eine »aufmerksamkeitsökonomische« Frage handeln, für die es eventuell auch schon einen Begriff gibt, der mir aber nicht einfallen will.
Kann dieses nur grob beschriebene Problem auch Einfluss auf die Arbeit von Historikern haben?
Da spielen sicherlich eine Reihe von Punkten rein.
1. Der "Master-Narrativ" in einem spezifischen Kulturkreis kann einen Einfluss auf die Themenauswahl haben und natürlich auch auf die spezifische ideologische Ausrichtung. Ein Phänomen, das besonders in den letzten 100 Jahren für die unterschiedlichen deutschen Staaten von besonderer Bedeutung war. Und letztlich selten zu einer Historiographie geführt hatte, die als "kritisch" einzuschätzen war, sondern in ihrer Mehrheit sich als "staatstragend" definierte. Und damit - leider - selten zu einer Objektivierung historischer Ereignisse beigetragen hat, wie sehr deutlich an der Legendenbildung rund um den WW1 zu erkennen ist.
Das trifft teilweise für historische Betrachtungen aus dem angelsächsischen Umfeld, das stärker kosmopolitisch ausgerichtet ist und sich dem Weltmarkt verpflichtet fühlt m.E. weniger zu. Was nicht heißen soll, dass dort nicht auch stellenweise geschichtliche Ereignisse "geschönt" worden sind.
Nicht zuletzt weil Publikationen aus diesem angloamerikanischen Umfeld einen breiteren Pluralismus widerspiegeln, da viele Autoren mit sehr unterschiedlichen geselslchaftlichen Hintergründen auf englisch publizieren! Damit kommt diese breite Publikationsbasis dem Ideal einer in ihrer Gesamtheit "neutralen und objektiven" Historiographie näher, im Gegensatz zu verkürzten nationalistische Sichten aus einzelnen Staaten, die konservative oder progressive Machtkonstellationen in den jeweiligen Staaten widerspiegeln können.
2. Unterhalb der der ideologischen Frage nach dem "Master-Narrativ" stellt sich sicherlich auch die Frage der persönlichen Karriere. Und ein junger Historiker ist gezwungen, will er erfolgreich sein, sich in "Netzwerke" zu begeben, die seine Projekte wohlwollend begutachten und somit "Stellen" und "Budgets" zur Verfügung stellen. Damit soll keine These zur Zensur formuliert werden, sondern lediglich auf die subtilen, aber nicht weniger erfolgreichen Mechanismen der Rekrutierung im Rahmen von "Seilschaften" hinzuweisen.
3. Aufmerksamkeitsökonomie: Geschichte ist ohnehin in Europa und Nordamerika stark definiert durch eine "westliche Sicht". Erst die Arbeiten beispielsweise von Fanon (Black Skin, white Masks etc.), Said (Culture and Imperialism) oder auch von Mishra (Aus den Ruinen des Empire) konfrontieren den Westen mit der Einseitigkeit ihrer "Moderne" und der dazu gehörigen Geschichtsschreibung.
Dass der westliche Kulturkreis sich nicht aktiv mit anderen Regionen beschäftigt liegt dabei nicht zuletzt an der Unfähigkeit des eigenen Verstehens der eigenen westlichen Krise bzw. der Formulierung angemessener Mittel, die die politischen, sozialen und ökonomischen Folgen des Kalten Krieges immernoch nicht im Rahmen neuer Gesellschaftsentwürfe entschärft hat. Der Rest ist Tagespolitik.