Ist das so?Besonders augenfällig wird das in der Rezeption der Getica, die in der Forschung teils regelrecht seziert wurde – mitunter bis zur völligen Auflösung. Die oft scharf formulierte Kritik von Althistorikern und Philologen wurde dabei nicht selten ohne nennenswerten Widerspruch übernommen.
Was soll das heißen, die Getica sei "bis zur völligen Auflösung" seziert worden? Texte zu "sezieren" ist die Arbeit von Philologen und Historikern. Aber sie verschwinden dadurch ja nicht. Sie bleiben bestehen, bleiben auch Quelle. Die Frage ist halt immer, was man einer Quelle zu glauben geneigt ist und welche Argumente dafür sprechen, der Quelle zu glauben und welche dafür sprechen, ihr nicht zu glauben. Und auch eine Quelle, die für die Rekonstruktion der von ihr erzählten Geschichte "nichts taugt" - also etwa die Herkunft der Langobarden aus Skandinavien - taugt dennoch für die Rekonstrukion z.B. von Vorstellungswelten.
Was nennt Jordanes denn da groß? Mal abgesehen davon, dass er sich teilweise auf Ptolemaios bezieht (nicht nur die von Sepiola bereits zitierte Stelle). Er erwähnt einen großen See, der von einem wilden Fluss ("Vagus") entwässert wird. Natürlich kann man behaupten, das sei der Vänernsee und der Fluss die Göta alv. Aber de facto reicht hier die schlichte Wahrscheinlichkeit, dass es Seen gibt, "groß" ist nicht definiert, sondern liegt im Auge des Betrachters und das Seen über Flüsse entwässern ist auch nicht ungewöhnlich.Über die genuin gentilen Elemente der Überlieferung hingegen wird meist nur am Rande gesprochen – ebenso wie über die überraschend präzisen geographischen Angaben einschließlich der Nennung spezifischer Toponyme und Ethnonyme Skandinaviens, die Jordanes als erster überliefert und die im Frühmittelalter tatsächlich dort belegt sind.
Dieser See - der also ein realer See - etwa der Vänern - oder ein fiktiver See sein kann ist so ziemlich das einzige, was außer der KÜstelinie (langgezogenes Zitronenblatt) von der skandnavischen Geographie genannt wird, soweit ich das überblicke. Wo sind die "überraschend präzisen geographischen Angaben", die Toponyme?
An Ethnonymen nennt Jordanes 28, aber eine Verortung findet nicht statt. Er beklagt sich, dass Ptolemaios nur sieben der Ethnonyme nenne (was dieser ja de facto nicht tut, Jordanes bezieht sich hier auf seine "Kukucksquelle" (Sepiola)) und später ärgert er sich, dass der sonst so gewissenhafte Berichterstatter Flavius Josephus von den Goten nur Magog nenne. Magog aber ist eine biblische Gestalt, die mit den Goten überhaupt nichts zu tun hat. Auch hieran wird deutlich, wie verschiedene Quellen und auch verschiedene Zeithorizonte zu einem Einheitsbrei verquirlt werden bei Jordanes. Wenn man doch weiß, dass die Nachfahren von Japhet, Gog und Magog, die nach der biblischen Überlieferung irgendwo im nördlichen Eurasien zu verorten sind und in der christlichen Literatur in die eurasischen Steppen verlegt werden - was soll man da groß diskutieren? Das hat denselben Wert, wie die Anknüpfung der frankischen origo gentis an den Trojamythos oder iro-schottischer Legenden an biblische Elemente.
Was genau hält einer kritischen Überprüfung stand? Ich sehe da nicht viel.Für eine vermeintlich „fiktive Erzählung“ ohne Bezug zur historischen Realität ist dies eine bemerkenswert sorgfältige Konstruktion, die durchaus einer kritischen Überprüfung standhält.