Liegt eine Fehleinschätzung vor oder nicht?

In den 80ern mussten sich im Westen junge Leute, anders als derzeit, vor Arbeitslosigkeit trotz guter Ausbildung fürchten. Beispielsweise führte ein Studium der Geschichtswissenschaft und Germanistik mit einiger Wahrscheinlichkeit ins berufliche Nichts, unabhängig von den Noten. Ich erinnere mich, dass die Vorstellung, in der DDR ein becheidenes, aber risikoloses Erwerbsleben führen zu können, für mich auch etwas Verführerisches hatte. Es war vielleicht weniger die Ellenbogenmentalität als das Risiko, auch ohne große eigene Schuld zu scheitern, was viele Ostdeutsche am westlichen Gesellschaftssystem schrecklich fanden und finden; eigentlich nur verständlich. Andererseits konnte die DDR ihren Bürgern eben nur kurzfristig wirtschaftliche Sicherheit garantieren, auf Dauer gar nicht. Das westliche System ist weniger risikobehaftet, weil jeder Einzelne Möglichkeiten und Anreize hat, so zu handeln, dass die Risiken für die eigene Situation nicht zu groß werden.
 
Und was man von älteren Ostdeutschen immer wieder hört, ist, dass die bundesrepublikanische Gesellschaft eine Ellbogenmentalität habe, die der Osten nicht gekannt habe.
Definitiv nein. Solidarität war ja gerade nicht das Kennzeichen der Gesellschaft der DDR.
Alles Gerede über Solidarität ist Legitimationsversuch der im System abhängigen Mitläufer.
Zur Relativierung: Der aufmüpfige Ton von Frank Beyers "Spur der Steine" (1966) ist lange vor der Wende einer bleiernen Resignation gewichen.

Ziel war die Vereinzelung der Bürger, die Isolierung jeglichen gesellschaftlichen Widerstands.

Allen Anhängern einer Ostalgie empfehle ich Reiner Kunzes aufwühlendes "Die wunderbaren Jahre" (1976) und Monika Marons "Flugasche" (1981). Meine Gespräche mit Geflüchteten, Ausgekauften oder Abgeschobenen hatten bei jeglichem Verweis auf "gesellschaftliche Solidarität" in der DDR nur einen kalten Blick zur Antwort.

Hinter Sarah Wagenknecht und der PDS sehe ich in erster Linie Wunsch nach Wiedererlangung von Deutungshoheit, vor allem aber Kitsch.
 
Das Jammern über die Folgen der Wiedervereinigung nehme ich den Jammernden nicht ab.

Alle wirtschaftlichen und sozialen Folgen waren immanent in der Entscheidung für Freiheit.

Und das ist eben das Gefühl, was ich, der ich zur Wendezeit 12/13 war, oft gespiegelt bekomme, wenn ich der Arbeit wegen in Sachsen bin. Allerdings eher von Leuten, die mindestens 15 Jahre älter sind als ich.

Also Jahrgang 1961 und älter. Und damit 1990 jung.
 
Zuletzt bearbeitet:
Alles Gerede über Solidarität ist Legitimationsversuch der im System abhängigen Mitläufer.
(...)
Ziel war die Vereinzelung der Bürger, die Isolierung jeglichen gesellschaftlichen Widerstands.

Kommt mir wie ein Widerspruch vor.

Allen Anhängern einer Ostalgie empfehle ich Rainer Kunzes aufwühlendes "Die wunderbaren Jahre" (1976) und Monika Marons "Flugasche" (1975). Meine Gespräche mit Geflüchteten, Ausgekauften oder Abgeschobenen hatten bei jeglichem Verweis auf "gesellschaftliche Solidarität" in der DDR nur einen kalten Blick zur Antwort.

Es ist genau diese Arroganz, Leuten ihre eigene Geschichte, ihre eigene Biografie ausreden zu wollen. Menschen, die in der DDR gelebt haben, brauchen keine Besserwessis, die ihnen vermitteln, wie sie ihr eigenes Leben "richtig" einzuordnen haben.

Und ich brauch keine Bücher zu lesen. Meine Mutter ist 1966 aus der DDR geflohen, ihre Freundin aus Studientagen hat ein paar Jahre vor der Wende mit Familie das gleiche versucht, und die drei haben es mit einem Jahr Knast wegen Republikflucht gebüsst; sind danach ausgebürgert worden und "zu uns" nach Westberlin gekommen. (Die andere Studienfreundin hat sich nach der Wende als Stasi-IM entpuppt). Meine Cousine hat 1989 die Möglichkeit genutzt, über Ungarn abzuhauen, und hat dann bei uns gelebt, während in der Zeit vor dem 9.Nov. niemand wusste, wie es weitergehen würde.

Kurz: Du musst mir nichts über die miesen Seiten der DDR erzählen, die hab ich mit der Muttermilch aufgesogen. Dennoch finde ich es unverschämt, wie du über Menschen den Stab brichst, und deren Empfindungen und Erfahrungen für wertlos deklarierst.

Hinter Sarah Wagenknecht und der PDS sehe ich in erster Linie Wunsch nach Wiedererlangung von Deutungshoheit, vor allem aber Kitsch.

Immer noch besser als die Wendehälse aus den Blockparteien, dann CDU & FDP, die in der DDR alles mitgetragen haben, aber dann plötzlich die größten Antikommunisten waren...
 
Es ist genau diese Arroganz, Leuten ihre eigene Geschichte, ihre eigene Biografie ausreden zu wollen

Nö. Keineswegs. Aber jegliche Biographie in der DDR lässt sich relativieren, betrachten und einordnen. Genau so wie wir es, gerecht oder ungerecht, mit den Biographien unserer Eltern getan haben.

Seid froh dass die DDR krachend untergegangen ist, oder eher fast staubfrei implodiert.
Ihr Untergang war unausweichlich, und dass das Wasser nass sein würde, das wussten alle.

Wir haben 2023. Und ich glaube an die Klarheit auch im Blick auf die DDR.
 
Es war vielleicht weniger die Ellenbogenmentalität als das Risiko, auch ohne große eigene Schuld zu scheitern, was viele Ostdeutsche am westlichen Gesellschaftssystem schrecklich fanden und finden; eigentlich nur verständlich.

Ich bin mir nicht sicher ob man das aus ostdeutscher Perspektive für eine charakteristische Eigenschaft des westlichenn Systems halten kann, insofern man im System der DDR ja durchaus für "Verfehlungen" (aus Perspektive der SED und des MfS) von Verwandten oder Freunden/Kollegen in Sippenhaft genommen werden konnte, wenn die die entsprechende Person als Mitwisser oder Helfer betrachteten.

Insofern, die Erfahrung, dass es tiefen Absturz auch ohne eigenes Verschulden geben konnte, wird man denke ich in der DDR zu häufig gemacht haben, um darin eine eine reine Eigenheit des Westens zu sehen.
 
Ich bin mir nicht sicher ob man das aus ostdeutscher Perspektive für eine charakteristische Eigenschaft des westlichenn Systems halten kann, insofern man im System der DDR ja durchaus für "Verfehlungen" (aus Perspektive der SED und des MfS) von Verwandten oder Freunden/Kollegen in Sippenhaft genommen werden konnte.
Klar, ich habe mich oben nur auf die ökonomische Sphäre bezogen.
 
Es ist genau diese Arroganz, Leuten ihre eigene Geschichte, ihre eigene Biograhie auszureden.
Nein, ich rede niemandem die eigene Biographie aus. Und Du projizierst Deine eigenen Verletzungen in meine Worte. Meine Worte kann man einzeln abwägen und prüfen.

Dennoch finde ich es unverschämt, wie du über Menschen den Stab brichst, und deren Empfindungen und Erfahrungen für wertlos deklarierst.
Wo steht etwas von wertlos, wo spreche ich den Leuten ihre Erfahrungen ab? Deine Begriffe und Deine Begrifflichkeit sind weit weg von dem was ich sage.

Dich stört eher mein arroganter Ton. Den müssen die Menschen in der früheren DDR aber aushalten. Sie haben nicht die alleinige Deutungshoheit. Sie müssen auch nicht wie ein rohes Ei behandelt werden.

Man muss es aushalten wenn am 3.10.2023 gesagt wird: Schluss mit dem Jammern, 33 Jahre sind genug. Ihr seid erwachsen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Nö. Keineswegs. Aber jegliche Biographie in der DDR lässt sich relativieren, betrachten und einordnen. Genau so wie wir es, gerecht oder ungerecht, mit den Biographien unserer Eltern getan haben.

Seid froh dass die DDR krachend untergegangen ist, oder eher fast staubfrei implodiert.
Ihr Untergang war unausweichlich, und dass das Wasser nass sein würde, das wussten alle.

Wir haben 2023. Und ich glaube an die Klarheit auch im Blick auf die DDR.

Die Wiedervereinigung war ja nun auch keine reine Erfolgsgeschichte. Es war ja nun nicht zu übersehen, dass sich die Deutschen in 40 Jahren der Teilung in vielem sehr fremd geworden waren.

Die alte Bonner Republik war ein Hochlohn-Land gewesen. Die Bundesrepublik gehörte zu den Staaten, in denen die höchsten Löhne gezahlt wurden.

Nach der Wende entwickelte sich die Bundesrepublik immer mehr zu einem Niedriglohn-Land.
Die alte Bundesrepublik hat durchaus profitiert von der System-Konkurrenz. Solange es die DDR gab, musste die BR zeigen, dass sie der bessere deutsche Staat war. Das gelang ihr auch meist recht mühelos. Die DDR wirkte grau, hässlich, autoritär und illiberal. Wir im Westen, in der alten Bonner Republik, wir mussten aber nicht mit den Erichs, mit dem Sudel-Ede in einem Staat leben.

Der DDR weinte zuletzt keiner mehr eine Träne nach, sie erschien ihren Bewohnern nicht mehr erhaltenswert. So finster aber die DDR auch anmuten mochte, solange es sie gab, blieb die BRD ein Hochlohn-Land. Der Sozialstaat der Bonner Republik, die Hochlohn-Zeiten in den 1960er, 70er und 80er Jahren- die waren nicht zuletzt auch auf die Systemkonkurrenz der beiden deutschen Staaten zurückzuführen.

So etwas wie Leiharbeit, Ausbeutung und mangelnder Arbeitsschutz hat 1985, als Günther Wallraff in "Ganz unten" seine Erfahrungen mit Leiharbeitsfirmen enthüllte, noch für einen Aufschrei der Empörung gesorgt. 1985 war das noch etwas, das man deutschen Arbeitern gar nicht gewagt hätte, zuzumuten.

Die Zeiten des Kalten Krieges konnte sich kein vernünftiger Mensch zurückwünschen, die DDR hat aber ihren Bewohnern zumindest ein recht hohes Maß an Lebensplanung ermöglicht. Massenarbeitslosigkeit war zumindest kaum ein gesellschaftliches Phänomen. Viele DDR-Bürger machten die Erfahrung, dass Arbeitsplätze wegfielen, dass Unternehmen schließen mussten, dass Leute in den 40ern oder 50ern sich eine ganz neue Art der Existenz aufbauen mussten. Auch dass Abschlüsse nicht anerkannt wurden, das Qualifikationen neu gemacht werden mussten, dass Lebensplanungs-Konzepte plötzlich total hinfällig wurden.

Da hat zweifellos auch der Eine oder die Andere die Erfahrung machen müssen, vor dem Nichts zu stehen, hat möglicherweise auch die Erfahrung gemacht, dass Lebensleistungen nicht anerkannt wurden, dass Mieten explodierten, dass Altvertrautes, das Jahre Planungssicherheit garantierte, zusammenbrach.
 
Dich stört eher mein arroganter Ton. Den müssen die Menschen in der früheren DDR aber aushalten. Sie haben nicht die alleinige Deutungshoheit. Sie müssen auch nicht wie ein rohes Ei behandelt werden.

Dann lern du, mit dem Echo auf deine arroganten Tiraden umzugehen. Hart austeilen, aber dann "mimimi" rufen wenn nicht alle klatschen, ist an Erbärmlichkeit nur schwer zu übertreffen.

Und ja, wenn du Leuten sagst "Nein, deine Beschreibung der Vergangenheit, begründet in deinen Erfahrungen, ist falsch, und hier in diesem Buch kannst du nachlesen, wie du deine eigenen Erfahrungen richtig einzuordnen hast. Sonst biste halt Ostalgiker." sprichst du ihnen die eigene Erfahrung ab, und erklärst diese für wertlos; politisches Gaslightning.

Kurz: Deine "Klarheit" ist ideologische Einseitigkeit, und damit dem "klaren Blick" auf die Verhälltnisse, die der Marxismus-Leninismus für sich in Anspruch nahm, sehr eng verwandt...
 
Da kann ich nur zum Teil mitreden.

Ich war ab Oktober 1990 damit beschäftigt den Betrieb meiner neuen Arbeitsstelle in den Markt reinzubekommen und da ich Computer programmieren konnte, war ich auch mit der Umstellung der Geschäftsvorfälle auf PC beschäftigt. Auf meine Programme „Waren-Wirtschaft“, „Umlaufmittel“ und „Betriebsmittel“ (BM in der DDR hießen ja „Grundmittel“) bin ich noch heute stolz. Die Daten flossen ja auch in die Bilanz ein und deswegen schauten sich die W-P (unsere W-P waren aus Köln und Frankfurt/Main) das alles sehr genau an. Mit der Rechnungslegung per elektronischer Datenverarbeitung/Daten Fernübertragung hatte ich als erstes mit der Metro - Rechnungsstelle Kehl-Sundheim zu tuen. Das war so um 1995/1996.

Die ersten die uns listeten war EDEKA Melsungen/Hessen. Dann ging es >Peu à peu< weiter.
Über die Zeit waren wir dann bei allen wichtigen Handelsgesellschaften gelistet, auch bei denen die wie z.B. Markant/Offenburg damals keine Läden in den 5 neuen Bundesländern hatten.
Die Listungsgespräche (i.d.R im Herbst) für das neue/kommende Geschäftsjahr waren hoch interessant. Preise zu verhandeln waren für einen gestandenen Ossi schon was Neues.
Und darüber bin ich dann 63ig geworden.
 
Zuletzt bearbeitet:
Die alte Bonner Republik war ein Hochlohn-Land gewesen. Die Bundesrepublik gehörte zu den Staaten, in denen die höchsten Löhne gezahlt wurden.
Nach der Wende entwickelte sich die Bundesrepublik immer mehr zu einem Niedriglohn-Land.
Dem, was Scorpio schreibt, kann man im Großen und Ganzen ja nur zustimmen, aber ein Niedriglohnland ist Deutschland nicht geworden. Bei Eurostat gibt es Daten zu den durchschnittlichen Stundenlöhnen in der gewerblichen Wirtschaft zwischen 2008 und 2021, und da sieht man, dass die deutschen höher liegen als im Euroraum-Durchschnitt. Noch höhere Löhne werden nur in den Benelux-Ländern, Dänemark und Irland gezahlt. Allerdings hat Deutschland seit 2005 einen großen Niedriglohnsektor bekommen, die Lohnspreizung hat sich also stark vergrößert (was durch den Mindestlohn freilich wieder abgemildert wird).
Ich glaube auch nicht, dass die DDR der Grund war für die hohen Löhne der alten Bundesrepublik. Umgekehrt hat die hartnäckig hohe Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland später dazu beigetragen, dass die Politik mit den Arbeitsmarktreformen die Weichen in Richtung Midenstlohnsektor stellte.
 
Ein Mythos, eine Geschichte vom Wolpertinger.
Blüthner (Leipzig) und Förster (Löbau) haben DDR & Wiedervereinigung überlebt, wobei beide auch vor DDR-Zeiten nicht in der Liga von Steinway, Bechstein, Bösendorfer, Fazioli, Steingraeber spielten - und das bemerkenswert, weil "in der sehr guten zweiten Reihe" fast alle Hersteller dieser Branche eingegangen/aufgekauft sind. Außer Blüthner und Förster: die sind (noch) sie selber.

Radeberger... ein Trauerspiel! Was war das für ein exzellentes Bier in den 90ern, herrlich mit ner Grillbratwurst auf dem Blitzeichenplateau Festung Königstein (ich hatte in den 90/00ern regelmäßig in Dresden zu tun) - und dann wandelte sich das in eine fade Plörre... gehört heute InBev oder so...
Lübzer: gehört Carlsberg (Dänemark)

Meissner Porzellan - das gabs wie Blüthner und Förster schon lange vor der DDR, hat Etich & Co überlebt.

Rotkäppchen Sekt (Freyburg Unstrut) hat sich gemausert, Mumm und noch paar andere übernommen.

Das wars dann aber auch schon... alles andere geht in die Richtung, die @El Quijote angesprochen hat.


QUOTE="Pardela_cenicienta, post: 883144, member: 28869"]Nach langem Nachdenken komme ich allenfalls auf Kali&Salz, auf die die Legende zutreffen könnte.[/QUOTE]
Die Geschichte von K&S beginnt im 19. Jh. - da ist mir nicht klar, was du meinst. Es gab nach 45 K&S Bergwerke östlich und westlich der Werra ;) Und bei einer Führung in Merkers wurde mir erzählt, dass es in 500m Teufe einige Stollen gab, die Ost und West verbanden - aber streng be/überwacht auf Ostseite.
Dass ein Wessi-K&S ein Ossi-K&S feindlich übernommen hätte, ist mir neu.
 
Dass ein Wessi-K&S ein Ossi-K&S feindlich übernommen hätte, ist mir neu.

Bischofferode - mdr.de

Als ich nach der Wende, auf der Fahrt nach Thüringen dort lang fuhr, zwischen den Kalibergwerken West und Ost, dachte ich "Das wird alles konsolidiert werden..."
Im Siegerland aufgewachsen, war mir schon in der Grundschule beigebracht worden dass Bergwerke seit Jahrhunderten konsolidiert werden, und konsolidiert werden müssen. Das Jahr der Einschulung war das Jahr in dem die letzten Eisenerzgruben dort schlossen, die Lehrer zeigten uns Filme vom Bergbau und erzählten uns von den Veränderungen.

Ich habe als Junge die 2malige Umkrempelung einer Wirtschaftsregion mit Bergbau- und Stahlkrise erlebt, und noch gesehen wie die Stahlwerksarbeiter in 2 Reihen aufgestellt freitags gegen 15.00 Uhr die grauen oder braunen Lohntüten in die Hand gedrückt bekamen.

Dass der Kalibergbau im Osten in dieser Form nach 1990 zusammenbrechen würde, war allen klar.
 
In den Nuller- und Zehnerjahren hatte ich oft in Leipzig zu tun, einige Wochen pendelte ich sogar: Montags per Zug nach Leipzig, Freitags zurück nach München. Was war der Grund? Die Firma, in der ich arbeitete, verlagerte einen Teilbereich nach Leipzig, weil da gut ausgebildete Informatiker für weniger Geld zu haben waren. Die meisten waren in den späten 20ern oder den 30ern, nur einer war älter. Es gab keine Probleme. Im Gegenteil: Als sie auch meinen (speziellen) Knowhow nach und nach übernahmen, wurde ich dort entbehrlich und kehrte zur Muttergesellschaft zurück.

Die Truppe war engagiert und zielorientiert, schaute nicht auf die Uhr und könnte daher jederzeit auch im Westen arbeiten. Aber die meisten wollten in Leipzig bleiben, weil sie dort ihre Wurzeln, Familien und Freunde hatten und nicht zuletzt, weil sie vielleicht gerade Wohnungen für Bruchteile der Münchner Preise gekauft hatten.

Grundsätzlich: Die Ostdeutschen haben den Kapitalismus haben wollen. Das war ihre eigene Entscheidung, jetzt, 33 Jahre nach der Wiedervereinigung, über die Härte des Lebens in einem solchen System zu jammern*, finde ich weinerlich. Denn wie das von mir gebrachte Beispiel zeigt, kann man sich den veränderten Verhältnissen anpassen und erfolgreich sein Leben gestalten.

* jammern tun wahrscheinlich nur jene, die, wie @Pardela_cenicienta es schon sagte, sich im System DDR irgendwie eingerichtet haben und gar nicht den Kapitalismus haben wollten oder nur die Sonnenseiten dessen sahen. Da kann man nur sagen: Pech gehabt.
 
Was mir entschieden auf den Keks geht ist die Legende, dass der Osten unter der Wiedervereinigung gelitten habe. Und auch die Kritik an der Treuhand ist wohlfeil.

Eine andere Sache ist dass immer noch viele Handwerker aus dem Osten im Westen arbeiten, unter der Woche von der Familie getrennt.

Im 20. Jahrhundert hat es in ganz Europa Kriege und wirtschaftliche Krisen gegeben. Es war immer so dass Menschen für die Arbeit die Heimat verließen und einschneidende soziale, wirtschaftliche und kulturelle und vor allem persönliche Veränderungen auf sich nahmen.
Asturische Bergarbeiter die in belgischen Stahlwerken arbeiteten, die Pieds noirs im Süden Frankreichs, junge Süditaliener hier in Deutschland, in abbruchreifen Häusern mit Etagenbetten zusammengepfercht, spanische Flüchtlinge in Venezuela und Frankreich, geflüchtete Ungarn nach 1956.
Demgegenüber fielen die Menschen im Osten weich, weicher als ihre Nachbarn in den anderen RGW-Staaten.

Die Biographie des Einzelnen ist etwas das mit vielen Verstörungen, letztlich aber mit großen Erfolgserlebnissen einher ging und geht.

Die Sozialisation der ehemaligen DDR-Bürger ist auch eine Mentalitätsgeschichte.
 
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