Wie wäre es mit der Einrichtung eines interntionalen Gerichtshofs gewesen, der sämtliche Verbrechen rund um den Weltkrieg juristisch aufarbeitet und Prozesse durchführt? Mit Anklagebehörden und Richtern aus im Krieg neutralen Staaten, damit gar nicht erst der Eindruck entsteht, dass Sieger über Besiegte zu Gericht sitzen? Vor einem solchen internationalen Gerichtshof hätten dann auch Verbrecher unabhängig ihrer Nationalität angeklagt werden können, also deutschen Verbrechern wäre genauso wie britischen oder amerikanischen der Prozess gemacht worden.
Gab es eine solche Überlegung überhaupt damals?
Welche Neutralen
Ich weiss jetzt nicht, in wie weit Streicher wirklich konkret den Mord an allen Juden im "Stürmer" gefordert hat. Von "Vernichtung der Juden" sprach ja z.B. auch Hitler ganz öffentlich im Reichstag. Laut Peter Longerich wurde der Begriff "Vernichtung" damals noch nicht so wie heute mit Mord gleichgesetzt und verstanden, sondern gehörte zu allgemein aggressiven politischen Sprache dieser Zeit.
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Viele Dinge zu Streicher sind auch reine Spekulation. Wieviel gesichertes Wissen hatte er überhaupt vom Holocaust? Und wenn er gesichertes Wissen hatte, begrüßte er ihn? Und wenn er vom Holocaust sicher alles wusste und ihn begrüßte, wie macht ihn das juristisch schuldig am Holocaust, obwohl er diesen weder angeordnet, noch organisiert, noch durchgeführt hat?
Da ich kein Jurist bin, kann ich das nicht beurteilen. Als juristischer Laie tue ich mich aber schwer damit, einen politischen Organisator des Holocaust gleichzusetzen mit einem Zeitungsverleger, der Lügen und abstossende Verleumdungen verbreitet hat.
Nebenbei: Wie gross war denn eigentlich der Einfluss des "Stürmer"? Gibt es dazu Untersuchungen?
Der Stürmer erschien in einer geschätzten Auflage von 700.000 Exemplaren von 1923 bis 1945. In jedem Dorf hing ein Schaukasten des Stürmers, Inhalt des Blattes waren Verschwörungstheorien, Ritualmordgeschichten und pornographische Geschichten. Blonde arische Unschuld vom bösen Juden verführt/vergewaltigt, dazu Auflistungen oder Fotographien von "Volksgenossen", die immer noch beim Juden kauften. In der eigenen Partei war Streicher nicht unumstritten, er legte sich mit vielen an, galt als ein auf Krawall gebürstetes Ekel, das auch ziemlich korrupt war, über den aber der Führer trotz allem seine Hand hielt. Etliche hielten Streicher für einen Spinner. Vielen Lesern des Stürmer dürfte, wie heute auch vielen BILD-Lesern klar gewesen sein, dass das alles gelogen war. Untersuchungen wie sich die Propaganda auswirkte, darüber gibt es natürlich keine Studien. Was es gibt, dass sind die zahlreichen Bild- und Tondokumente und die Berichte von Holocaustüberlebenden über die Jagdszenen in den Ghettos seit 1939. Vielen Soldaten, SS-Leuten und Polizisten wurde vor dem Einsatz "Der Ewige Jude" gezeigt, und die Berichte aus dem Stürmer hatten sie ohnehin alle gehört und verinnerlicht. 23 Jahre lang hatte der Stürmer die Parole Judentum=Verbrechertum ausgegeben, und wie das NS-Regime mit "Verbrechern" und "Asozialen" umsprang, war seit 1933 zu beobachten. Zuerst in "wilden KZs der SA, bald danach in Lagern wie Dachau und Buchenwald, die schon früh einen ekelhaften Ruf hatten. Es konnte keinen Zweifel daran geben, dass man die "Verbrecher", die "Ritualmörder" und "Rassenschänder", wenn man ihrer habhaft würde, nicht zur Sommerfrische nach Madagaskar schicken würde. Nach den Nürnberger Gesetzen, den Novemberpogromen 1938 und dem Morden in Polen seit 1939 war klar: Mit Endlösung war die physische Vernichtung gemeint, und die aggressive politische Sprache, die Julius Streicher seit 1923 in seinem Hetzblatt verbreitet hat, hat diesen Genozid ideologisch vorbereitet. Julius Streicher war ein Hassprediger, schon Kinder waren Zielgruppe des Volksschullehrers Streicher, der auch ein Kinderbuch "Der Giftpilz" herausgab, in dem gegen die Juden gehetzt wurde. Mit seinem pathologischen Judenhass war Streicher selbst in der Partei extrem, seine Hetze hatte aber System, und sie blieb natürlich nicht folgenlos.
Noch etwas zum Vorschlag, ein Tribunal aus Neutralen zu bilden. Es stellt sich die Frage, aus welchen neutralen Staaten hätte man denn ein solches Kriegsverbrechertribunal rekrutieren sollen? Aus den Niederlanden und Belgien, die von Nazideutschland überfallen und besetzt wurden oder vielleicht doch eher aus Schweden, das vielerorts willfährig mit Nazideutschland kollaboriert hat ähnlich wie übrigens auch manchmal die Schweiz. Wie hätte man die Sowjetunion dazu überreden wollen, die unglaublichen Verbrechen, die auf dem Territorium der SU gegen Zivilisten und Rotarmisten begangen wurden, von Neutralen untersuchen zu lassen? Das wäre nach allem, was sich dort ereignet hatte, ein unglaublicher Affront gewesen, überhaupt einen solchen Vorschlag zu machen. Es wäre damit der Versuch einer juristischen Aufarbeitung im Keime erstickt worden.
Im Verlauf des Luftkrieges haben die Briten und Amerikaner zuletzt in erschreckender Weise nach dem Motto "Wie du mir, so ich dir" das wiederholt, was die Luftwaffe in Warschau, Rotterdam und Coventry vorgemacht hat. Ich bin der Meinung, dass die Bombardements von Dresden und Nagasaki Kriegsverbrechen waren. Trotzdem waren das noch Verbrechen im Zusammenhang von Kriegsanstrengungen, und diese Kriegsverbrechen lassen sich auch in keiner Weise mit der Qualität der deutschen Kriegsführung vergleichen, eines Rasse- und Vernichtungskrieges, der allen Regeln der Kriegsführung widersprach, die seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges gültig waren und erst recht nicht mit dem industriellen Massenmord, der an den europäischen Juden begangen wurde. Das Porajmos, die Vernichtung der Roma und Sinti übertraf an Gemeinheit noch die von Stalin angeordneten Massaker von Katyn, wo 10.000 polnische Offiziere liquidiert wurden. Das wurde von der deutschen Bevölkerung selbst so empfunden. SD und Gestapoberichte beklagten, dass sich die Empörung der deutschen Öffentlichkeit in Grenzen hielt, als 1943 die Massengräber gefunden und von einer neutralen Kommission ausgewertet wurde, da sehr viele wussten, dass systematisch 1939 die polnische Intelligenz ausgelöscht wurde und an der Ostfront wurden viele Zeugen der Shoah.
Ich bleibe dabei, eine Alternative zu den Nürnberger Kriegsverbrechertribunalen gab es nicht, keine jedenfalls die praktikabel gewesen wäre und als Kompromiss akzeptabel für alle Beteiligten der sehr unnatürlichen Anti-Hitler Koalition, die schon dabei war auseinander zu brechen. Im einzelnen kann im Nachhinein natürlich leicht Kritik an einigen Urteilen geübt werden. Rudolf Heß hatte weit weniger auf dem Kerbholz als Streicher, viele waren der Meinung, dass er im Verhältnis zu hart bestraft wurde, und er taugte weit eher als Streicher dazu, als "Märtyrer der Bewegung" dargestellt zu werden, zu der ihn die rechtsradikale Szene aufbaute. Die Vorbereitung der Verfahren war eine gigantische Aufgabe. Es wurde nach individueller Schuld gefragt, Belastungszeugen ausfindig zu machen, die den Genozid überhaupt überlebt hatten, war sehr aufwändig und schwierig, etliche der Opfer waren schwerstens traumatisiert, Akten waren ausgelagert und vernichtet worden, etliche Zeugen waren über ganz Europa versprengt. Die Verfahren müssen auch an diesen Schwierigkeiten gemessen werden. Kritik an einzelnen Urteilen ist schon von Zeitgenossen geäußert worden. Die Angeklagten hatten im Verlauf des Verfahrens große Freiheit. Gerade Hermann Göring nutzte das, um den Gerichtssaal als Podium zu nutzen, um sich als Kriegsverbrecher Nr. 1 zu präsentieren, der nichts gewusst, und nichts verantwortet hat. Kein einziger Angeklagter ist wegen seines Deutschseins angeklagt oder verurteilt worden, und wenn man einzelne Urteile kritisieren mag, so dürfte ein anderes Tribunal bei den erdrückenden Beweisen kaum zu wesentlich milderen Urteilen gelangt sein.