andreassolar
Aktives Mitglied
Im Beitrag #270, den Du offenbar übersehen hast, wird Buchanans (UK-Botschafter in Moskau) Kurz-Bericht seiner Begegnung mit Sasonov am Nachmittag des 3. April 1914 in Auszügen vorgestellt, nachdem Buchanan vormittags den Zaren getroffen hatte:
Herr Sazonoff, den ich heute Nachmittag traf, sagte mir, dass die Äußerungen des Kaisers über Deutschland und die Meerenge auf geheimen militärischen Informationen beruhten, die richtig oder falsch sein könnten. Es bestehe jedoch kein Zweifel daran, dass Deutschland ein moralisches Protektorat über die Türkei anstrebe, und wenn es ihm gelinge, werde es dieses eines Tages in ein wirksames Protektorat umwandeln.)
Das war also der Stand Anfang April 1914 in Moskau. Wo ist da die aktuelle oder plausibel in Kürze aller Erfahrung nach erwartbare militärische Bedrohung.?
Diese Äußerung April 1914 fasst zusammen worum es geht. Nämlich dass das DR künftig die Politik des OR bestimmen könnte. Von dieser hängt in verhängnisvoller Weise die Prosperität Russlands ab, da sich der devisenbringende Weizen durch das Nadelöhr der Meerengen quetschen muss.
Deine Bemerkung scheint mir eine genauere Kommentierung meinerseits wert zu sein.
Sasonov hat gegenüber dem GB-Botschafter Buchanan Anfang April 1914 eine Argument erfunden mangels echter oder plausibler anderer, jenes, dass Deutschland ein moralisches Protektorat über die Türkei anstrebe. Kennt man 'moralische Protektorate' etwa aus der Geschichte und Geschichtswissenschaft? Zumindest mir ist ein 'moralisches Protektorat' in Politik und Geschichte noch nie begegnet, noch als geläufiges Phänomen in der - sagen wir mal - neueren/neuen Geschichte bekannt.
Ebenso wenig sind mir wissenschaftliche Arbeiten/Untersuchungen begegnet, welches das von Sasonov erfundene Gesetz einer linearen oder dialektischen Geschichtsentwicklung von einem moralischen zu einem 'wirksamen' Protektorat heraus gearbeitet und bestätigt haben.
Sasonovs Äußerung gegenüber Buchanan zeigt lediglich Placebo-Argumente, keinerlei Fakten, und Sasonovs (damals) vorhandene, schon etwas generalisierende Bedrohungsperzeption gegenüber dem Dt. Kaiserreich. Dass die 'Profis' vor Ort, in Konstantinopel, in der Türkei, genauso zur Bedrohungsperzeption fähig waren, zu Pseudo-Argumenten, zu Prognosen und Vorhersagen und (Fehl-)Einschätzungen, was die nahe, nähere und mittelbare Zukunft womöglich - in einer Art Extrapolation gegenwärtiger Ereignisse und Entwicklungen - bringen kann oder könnte, ist divers zahllose male belegt, spricht beispielsweise aus fast jeder Seite der einschlägigen Editionen. Allerdings gibt es beim Leben vor Ort eben deutlich eher zumindest die Möglichkeit, Prognosen und Perzeptionen mit dem konkreten Erleben und Erfahren und Erkennen zu vergleichen und ggf. zu korrigieren.
Siehe als typisches Beispiel die problemgeführte Prognose des russischen Militärattachés, Generalmajor Leontiev, in Instanbul zur Liman-Sanders-Mission vor Eintreffen und Arbeitsaufnahme der Militärmission, abgegeben Anfang November 1913 auf Basis inoffizieller, unvollständiger Infos und begleitenden Gerüchten.
Spätere problematisierende Überlieferungen/Prognosen von Leontiev zur Liman-Sanders-Mission oder überhaupt Äußerungen dazu, zumal ab Mitte Januar 1914 sind nicht greifbar, soweit mir bislang bekannt.
Und das gilt halt, soweit mir inzwischen seit 2015 bekannt geworden, für so ziemlich alle anderen 'Verdächtigen' vor Ort ebenso, wie beispielsweise beim russ. Botschafter Giers usw.
Das ist durchaus der Rede wert und wohl eine ziemlich valide, auch ziemlich 'sprechende' Tatsache, welche eher umgekehrt ein gewisses Licht auf die offenbar mehr abstrakte, mediale und internationale Vorstellungswelt beispielsweise in Moskauer Administrations- und Entscheiderkreisen wirft und auf die bzw. gewisse, sie repräsentierenden Personen.
Dass also Sasonovs Behauptungen oder 'Argumente' als Aufhänger vermeintlich reale Möglichkeiten der Zukunft im Fahrwasser der Liman-Sanders-Mission abbilden sollen........