Es geht es hier um "soziale Kontrolle" in der Zeit der Hexenverfolgungen und damit u. a. um die Art und Weise, inwieweit man (1) einen modernen soziologischen Begriff, (2) moderne Vorstellungen von Gerechtigkeit und Ethik und (3) modernes Welt-Wissen auf vormoderne Sachverhalte anwenden kann. (Wenn man dann noch Parallelen zieht, etwa von den Hexen zu den Juden, wird's leicht unübersichtlich, weshalb ich hierauf nicht eingehe.)
Die von Muspilli zitierte WP-Definition von "sozialer Kontrolle" lässt sich auf sehr viele Phänomene anwenden. Ich würde eine Definition bevorzugen, welche den Aspekt der - tatsächlichen oder vermuteten - Devianz [Verhaltensabweichung bis hin zur Strafbarkeit] stärker betont: Soziale Kontrolle umfasst die Summe aller Verhaltensweisen, mit denen Menschen das Verhalten anderer als deviant einstufen und entsprechend sanktionieren, und zwar sowohl "vertikal" - von der Obrigkeit ausgehend - als auch "horizontal" - durch gegenseitige Überwachung und Zurechtweisung (vgl.
Mit Gott handeln von den Zürcher ... - Google Buchsuche).
Bei dem oben genannten Beispiel würde ich jetzt aber vermuten, dass es nicht bei diesem einen Prozess bleiben wird. Man wird den Mayer und die Mayerin alsbald auf die Folter spannen ... Nun ist es mit der Kontrolle aus. Der Richter wird entsetzt sein, denn er ist, wie er schon vermutet hat, auf ein wahres Hexennest gestoßen. Die Jagd hat begonnen!
... denn wenn allein der Verdacht aufkam, wurde es schon ernst. Zudem erreichten Hexenprozesse nicht selten durch die Folter eine Eigendynamik, die kaum beherrschbar war.
Diese (hier gekürzte) Darstellung beschreibt die Eskalationsdynamik in den Hochzeiten der Hexenverfolgung und nennt einen der beherrschenden Faktoren, nämlich den Verdacht.
Wie schon beim Thema
andiskutiert, erwuchs aus der Erwägung, Menschen könnten mittels magischer Kräfte andere schädigen, in kürzester Zeit eine Art von "Generalverdacht": Von den Spitzen der Gesellschaft (Adel, Klerus) abgesehen, konnte im Grund jeder Mitmensch, vorzugsweise weiblichen Geschlechts, ein solcher Schädling sein. Im Vergleich zu anderen ("bürgerlichen") Delikten war nämlich hier die Verdachtsschwelle abgesenkt: Weil Hexerei genau wie Ketzerei zu den besonders schweren Verbrechen gehörte, bedurfte es - in Analogie zum Majestätsverbrechen - "nur der einfachen Anzeige (
denuntiatio), die selbst von Infamen oder Meineidigen ausgehen kann" (
Normiertes Misstrauen: Der Verdacht ... - Google Buchsuche).
... dass der Denunziant einen Vorteil hatte, sich zum Beispiel das Vermögen des Opfers aneignen konnte.
Am Beispiel der Häresie macht Koch (
Denunciatio: Zur Geschichte eines ... - Google Buchsuche) die Konsequenzen deutlich:
"Die Inquisition schuf 'Anreize für Mitteilungen ..., die von der Bevölkerung als Verletzung von Solidarpflichten, als 'Denunziation', empfunden werden mussten. Als Mittel dienten insbesondere Strafandrohungen und Belohnungen, wobei letztere einen bestimmten Anteil am konfiszierten Vermögen des 'Denunzierten' umfassten. Um Häretiker auszuspüren, nahmen Inquisitoren bereitwillig Mitteilungen entgegen, die ihnen aus Haß oder Gewinnsucht zugetragen wurden. Als weitere effektive Methode erwies sich, denjenigen Straflosigkeit zu versprechen, die binnen einer gesetzten Frist die Zugehörigkeit zu einer häretischen Bewegung gestanden und zugleich weitere Häretiker angaben. ... Die Mitteilung an Inquisitoren stellt eine ebenso probate wie risikolose Möglichkeit dar, um sich mißliebiger Personen zu entledigen."
Zunächst galt das nur für die Häresie. Aber "die im Kampf gegen die Albigenser aufgekommene Inquisition zog nun die Zauberprozesse als 'Abfall' vor ihr Forum, nachdem der auch persönlich von Hexenangst erfüllte Johannes XXII. in seiner Bulle 'Super illius specula' (1326) die Zauberer ausdrücklich den förmlichen Ketzern gleichgestellt hatte" (RGG Bd. 3, S. 309).
Über die Chancen der Verdächtigten, sich von dem Verdacht zu befreien, muss hier nur so viel gesagt werden, dass die Einführung des Inquisitionsverfahren zeitgleich einher ging mit einer immer breiteren und hemmungsloseren Anwendung der Folter. Nimmt man hinzu, dass es gegen Urteile keine Rechtsmittelinstanz gab (allenfalls eine Begnadigung, etwa in der Weise, dass Hexen vor dem Verbrennen getötet wurden), so ergibt sich daraus eine Lebenssituation, die man für breiteste Bevölkerungskreise als vollständiges Ausgeliefertsein bezeichnen könnte. Insoweit war die Zeit, über die wir hier diskutieren, um mal den alten Reizbegriff hervorzukramen, eine "totalitäre" Ära, vor deren Irrationalismen und Irrtümern es kein Entrinnen gab.
Die Bevölkerung, die Obrigkeit, die Geistlichkeit wusste dass es "Hexen" gibt ... Hexen sind Realität.
Es hat zu allen (christlichen) Zeiten Stimmen gegeben, die das Hexenwesen bzw. den Tatbestand der Hexerei und die Existenz von Hexen nicht für gravierend hielten oder sogar bestritten. Es ist zwar richtig, daß die "drei Elemente des mittelalterlichen Hexenbegriffs: schädigende Zauberei, Geschlechtsverkehr mit den Dämonen, Ketzerei (= Rückfall in den Götzendienst) ... schon zum Erbe der christlichen Antike" gehörten. Freilich hattte die Kirche "in der Zeit der Germanenbekehrung die alten Volksvorstellungen von den nachtfahrenden Frauen und Tierverwandlungen noch entschieden abgelehnt", jedoch "waren diese doch so zählebig, daß die großen Theologen des Hoch-Mittelalter wie ... Thomas von Aquino sie übernahmen und in ihr theologisches System einbauten" (vgl. RGG Bd. 3, S. 309 ff.).
Will sagen: Es gab eine jahrhundertelange Entwicklung hin vom Hexenwesen über die Hexenverfolgung hin zur Hexenverbrennung, die man nicht als zwangsläufig oder naturgesetzlich oder gar gottgegeben charakterisieren darf. Für die Kirche als die in jener Zeit maßgebliche Inhaberin der Definitionsmacht in solchen Fragen hat es stets auch eine Entwicklungs-Alternative gegeben, und es ist eigener Betrachtung wert, warum diese verworfen wurde. - Wie gesagt: Immer schön differenzieren...