Unrechtsbewußtsein und Gewissen im Mittelalter

Und was den Rest betrifft: Anzunehmen, dass Menschen anderer Epochen ebenso wie wir eine Moral besaßen, dafür gibt es überzeugende Argumente. Oder anders: Was deutet darauf hin, dass der mittelalterliche Mensch keine Moral besaß? Zunächst wäre noch eine gründlichere Klärung des Begriffs notwendig, aber das spare ich mir, denn so sehr ich ihn auch drehe und wende, spontan fällt mir nichts ein, was den mittelalterlichen Menschen bar jeglicher Moralität dastehen lässt.
Mir auch nicht.:rotwerd:


Wobei wir ja sowieso immer zum Verallgemeinern verleitet sind.

Wenn ich es mir recht überlege, scheint mir sogar plausibel, dass die Moral im Mittelalter eine große Rolle spielte. Wenn das nicht für die ungreifbare Masse gilt, dann doch für die Eliten. Die Eliten wiederum wirkten sich auf die Gesamtbevölkerung aus.
Komischerweise wurden die ritterlichen Tugenden, passen die nicht auch hervorragend in den Rahmen einer Moraldiskussion (?), noch nicht ausgeprägt genannt.
Ansonsten habe ich auch viele Gedanken dazu im Kopf, die ich erstmal ordnen müsste. Das fängt an mit dem "guten alten Recht", also dem gewachsenen Rechtsverständnis, auf welches (ja eher meine Baustelle) noch in der FNZ gepocht wurde und das folglich aus dem Mittelalter oder einer nicht näher in der FNZ zu definierenden Vergangenheit - "früher" - lag. Wobei auch die Völkerwanderungszeit als Ursprung denkbar wäre. Wie gesagt - nur wirre Gedanken.:rotwerd:
 
... das Handeln im Hinblick auf den historischen Kontext zu durchleuchten und zu diskutieren. Alles andere würde nur zu stereotypisierenden Pauschalurteilen und damit zwangsläufig irgendwann zu einer Diskussion auf Stammtischniveau führen ("die Bauern", "die Adeligen", "die Frauen", "die Autofahrer", "die Steuerhinterzieher" - nein, das konnte ich mir jetzt wirklich nicht verkneifen).
Nun ja, so gesehen befände sich eine Diskussion über "die Menschen" bzw. "der (mittelalterliche) Mensch" - siehe Eingangszitat in #1 - bereits unterhalb des Stammtisches... :devil::scheinheilig::winke:

... Problem..., dass wir schnell mit heutigen Maßstäben von Moral, Recht, Unrecht etc.pp. die Menschen anderer Zeiten bemessen und genau da sehe ich den Fehler, weil man doch eigentlich nur den gültigen Maßstab anlegen kann und den haben wir nicht, den können wir höchstens noch lückenhaft rekonstruieren (mangels Quellen).
Dies ist dann und nur dann ein "Fehler", wenn wir
...die sehr große Frage nach den universal gültigen Werte und Normen und ob diese dem Menschen irgendwie doch angeboren sind oder ob es eine allgemein menschliche Kultur über alle Zeiten gäbe.
a priori verneinen. Aber darauf können wir ja wieder zurückkommen.

Ich möchte den Versuch machen, Themenkomplexe voneinander abzuschichten, und gehe deshalb auf jene vier "Kurzbeispiele" zurück, die laut Timotheus den Unterschied zwischen dem mittelalterlichen Menschen und dem der Neuzeit ausmachen und in der Summe zum (abgeleiteten) fünften Punkt führen.

Zu dem ersten Punkt habe ich deshalb einen neuen Diskussionsraum in Caritas im Mittelalter - Geschichtsforum.de - Forum für Geschichte eröffnet.
 
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Ansonsten habe ich auch viele Gedanken dazu im Kopf, die ich erstmal ordnen müsste. Das fängt an mit dem "guten alten Recht", also dem gewachsenen Rechtsverständnis, auf welches (ja eher meine Baustelle) noch in der FNZ gepocht wurde und das folglich aus dem Mittelalter oder einer nicht näher in der FNZ zu definierenden Vergangenheit - "früher" - lag. Wobei auch die Völkerwanderungszeit als Ursprung denkbar wäre. Wie gesagt - nur wirre Gedanken.

Ein wachsendes Rechtsverständnis setzt doch sicherlich auch eine Kodifizierung und Verbreitung des Rechts, hauptsächlich in schriftlicher Form vorraus. Sowas geschah bsw. in Frankreich des 13. Jahrhunderts(hohes Mittelalter) im breiten Masse. Damals wurde vor allem in Nordfrankreich teils Jahrhunderte altes Gewohnheitsrecht schriftlich Fixiert. Dies geschah vor dem Hintergrund einer zunehmend wachsenden zentralisierten Rechtssprechung seitens der Krone bei gleichzeitiger Zurükdrängung der richterlichen Gewalten des Feudalaldes.

Pierre de Fontaines – Wikipedia
Philippe de Beaumanoir – Wikipedia
Établissements de Saint Louis – Wikipedia
Ludwig IX. (Frankreich) – Wikipedia
 
@ Joinville

Wie wäre da z.B. der Mainzer Landfriede zu sehen? Mainzer Landfriede – Wikipedia
Mir fiel auf die Schnelle nichts besseres ein.

Nicht, dass dies suggerieren soll, dass das 13.Jh. europaweit einen Wendepunkt darstellen sollte. Dafür wüsste ich schlicht darüber zu wenig. Mir kam nur als Erstes Rudolf I. in den Sinn.
 
Es ist zu den Ausgangsthesen schon sehr viel Wichtiges gesagt worden, für das ich mich ausdrücklich bedanke!

Aber ich will jenseits der Borgia'schen (und anderer) Höhenflüge nochmal auf meine Spezial"kompetenz" zurückgehen, nämlich das Stellen primitiver Fragen. Dabei knüpfe ich an folgende These an:
4. Ebenso finden wir es heute auch nicht in Ordnung, wenn Menschen von ihrem Grund und Land vertrieben werden u. dgl. Auch das sah der mittelalterliche Mensch ganz anders: Für das, was rechtens war, war nur wichtig, ob man seinen Gott auf seiner Seite hatte; und das Land, was einem Gott schenkte (indem er einen selbst z.B. den Kampf gewinnen und überleben ließ), gehörte einem zu Recht.

  • Wie erfährt der mittelalterliche Mansch "seinen Gott"?
  • Woher weiß er, dass er ihn auf "auf seiner Seite" hat?
  • Woher weiß er z.B., dass das geschenkte Land von Gott geschenkt wurde?
Die unmittelbarste Erfahrung ist natürlich die Offenbarung, in der Gott dem Menschen "erscheint". Das ist, auch nach christlichem Verständnis, äußerst selten gegeben. Diese Möglichkeit also ausschließend, müssen wir nach anderen Erkenntnisquellen suchen, wofür in erster Linie infrage kommen: Gottes Wort, d.h. die Bibel, die Lehrtradition der Kirche sowie - nicht zuletzt - die Praxis der Kirche. Daraus ergeben sich Unterfragen:

  • War dem mittelalterlichen Menschen Gottes Wort bekannt, und wenn ja, in welcher Form, in welchen Auszügen usw.?
  • Konnte und durfte dieser Mensch daraus Handlungsanweisungen für sein Leben entnehmen?
  • Wie verhielt sich der Mensch, wenn biblische Handlungsanweisungen - z.B. Exodus 20, Vers 17 - mit der von ihm beobachteten Praxis nicht übereinstimmten (Fall der kognitiven Dissonanz)?
Wir dürfen davon ausgehen, dass Gott einzelnen Menschen i.d.R. keine direkte Rechtsauskunft gab. Aber der Mensch war durchaus nicht rat-los, denn die Kirche als die (allein authentische) Interpretin des Wortes Gottes entwickelte ja selbst "Regeln" für das gedeihliche Zusammenleben der Menschen, an ihrer Spitze der Papst. Daraus wieder zwei Unterfragen:

  • Hatte der mittelalterliche Papst ein Unrechtsbewußtsein? (Klingt eigenartig, ist aber durchaus ernst gemeint.)
  • Welche Art von (abstrakter) Lehre entwickelte die Kirche in Bezug auf Rechtsbewußtsein, Gewissen, Moral und dergleichen?
Nach christlichem Verständnis ist ja außer Gott und der Kirche, die sein Heilswerk begleitet und vollenden hilft, noch eine weitere Macht am Werke: der Teufel nämlich. Im Gegensatz zu Gott selbst ist dieser den Menschen viel öfter erschienen, z. B. der Hildegard von Bingen als ein "ungeheuer großer und langer Wurm, ... schwarz und borstig, voller Geschwüre und Blattern". Und weil das so oft vorkam, meint Angenendt [1]: "Die Macht des Teufels, so drängt es sich auf, muß dem mittelalterlichen Menschen überwältigend erschienen sein." Unterfrage:

  • Wie konnte der Mensch sicher sein, dass das "Geschenk" von Gott kam und nicht vom Teufel?

[1] Geschichte der Religiosität im Mittelalter, S. 155; das Hildegard-Zitat dort S. 151

PS: Dies ist mein Beitrag 1666. Bitte aus der Zahlenfolge 666 keine falschen Schlüsse ziehen!
 
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@ Joinville

Wie wäre da z.B. der Mainzer Landfriede zu sehen? Mainzer Landfriede – Wikipedia

Ich will den letzten Beitrag von jschmidt erstmal auslassen, weil ich gedanklich mit den Beiträgen davor noch nicht fertig bin.
Bei mir ergeben sich daraus weitere Fragen:
Ist der Zeitpunkt an dem Recht schriftlich fixiert wurde, relevant oder wurde da nur aufgeschrieben, was vorher praktiziert wurde und Konsens war?
Konnte nicht auch vorher, z.B. der Vater des erschlagenen Sohnes zu seinem Grundherrn gehen und um Bestrafung des Mörders bitten anstatt selber Blutrache zu üben und war das nicht einer der Pfeiler des mittelalterlichen Gesellschaftssystems. Das sich wiederum aus dem Gefolgschaftsrecht der Völkerwanderungszeit entwickelt hatte.

Wenn es aber die Strafe gab, ob nun Blutrache oder per Rechtsspruch eines Höhergestellten oder per Gerichtsurteil, setzt das doch voraus, das die Tat als Unrecht empfunden wurde.
Um beim Beispiel des erschlagenen Sohnes zu bleiben, warum sagte der Vater nicht: "Gut so, ein Esser weniger, nicht so schlimm". Das klingt natürlich total fremd und ruft bei mir, schon beim Schreiben moralische Entrüstung hervor. Deshalb bin ich noch immer bei dieser Grundmoral.
War die zuerst und dann kam es zu Ausnahmen.....im Verteidigungsfall, aus Rache, Kriegsrecht, Strafe oder war es andersrum?
Erschlug Jeder Jeden, wie es ihm paßte (Recht des Stärkeren) und nahm man später die eigene Familie, Gruppe, Nachbarschaft aus, weil es sich so doch angenehmer leben ließ?
 
Schade, dass auf diesen hervorragenden Beitrag von jschmidt noch niemand geantwortet hat. Ich habe hier einige Gedanken im Kopf und wenn von den anderen Mitglieder nichts mehr kommt, schreibe ich was dazu. Wie gewohnt braucht es wahrscheinlich einige Wochen Geduld.

PS: Dies ist mein Beitrag 1666. Bitte aus der Zahlenfolge 666 keine falschen Schlüsse ziehen!

Wie konnte der Mensch sicher sein, dass das "Geschenk" von Gott kam und nicht vom Teufel?

Jetzt bin ich verunsichert. :rofl:
 
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