Es ist zu den Ausgangsthesen schon sehr viel Wichtiges gesagt worden, für das ich mich ausdrücklich bedanke!
Aber ich will jenseits der Borgia'schen (und anderer) Höhenflüge nochmal auf meine Spezial"kompetenz" zurückgehen, nämlich das Stellen primitiver Fragen. Dabei knüpfe ich an folgende These an:
4. Ebenso finden wir es heute auch nicht in Ordnung, wenn Menschen von ihrem Grund und Land vertrieben werden u. dgl. Auch das sah der mittelalterliche Mensch ganz anders: Für das, was rechtens war, war nur wichtig, ob man seinen Gott auf seiner Seite hatte; und das Land, was einem Gott schenkte (indem er einen selbst z.B. den Kampf gewinnen und überleben ließ), gehörte einem zu Recht.
- Wie erfährt der mittelalterliche Mansch "seinen Gott"?
- Woher weiß er, dass er ihn auf "auf seiner Seite" hat?
- Woher weiß er z.B., dass das geschenkte Land von Gott geschenkt wurde?
Die unmittelbarste Erfahrung ist natürlich die Offenbarung, in der Gott dem Menschen "erscheint". Das ist, auch nach christlichem Verständnis, äußerst selten gegeben. Diese Möglichkeit also ausschließend, müssen wir nach anderen Erkenntnisquellen suchen, wofür in erster Linie infrage kommen: Gottes Wort, d.h. die Bibel, die Lehrtradition der Kirche sowie - nicht zuletzt - die Praxis der Kirche. Daraus ergeben sich Unterfragen:
- War dem mittelalterlichen Menschen Gottes Wort bekannt, und wenn ja, in welcher Form, in welchen Auszügen usw.?
- Konnte und durfte dieser Mensch daraus Handlungsanweisungen für sein Leben entnehmen?
- Wie verhielt sich der Mensch, wenn biblische Handlungsanweisungen - z.B. Exodus 20, Vers 17 - mit der von ihm beobachteten Praxis nicht übereinstimmten (Fall der kognitiven Dissonanz)?
Wir dürfen davon ausgehen, dass Gott einzelnen Menschen i.d.R. keine direkte Rechtsauskunft gab. Aber der Mensch war durchaus nicht rat-los, denn die Kirche als die (allein authentische) Interpretin des Wortes Gottes entwickelte ja selbst "Regeln" für das gedeihliche Zusammenleben der Menschen, an ihrer Spitze der Papst. Daraus wieder zwei Unterfragen:
- Hatte der mittelalterliche Papst ein Unrechtsbewußtsein? (Klingt eigenartig, ist aber durchaus ernst gemeint.)
- Welche Art von (abstrakter) Lehre entwickelte die Kirche in Bezug auf Rechtsbewußtsein, Gewissen, Moral und dergleichen?
Nach christlichem Verständnis ist ja außer Gott und der Kirche, die sein Heilswerk begleitet und vollenden hilft, noch eine weitere Macht am Werke: der Teufel nämlich. Im Gegensatz zu Gott selbst ist dieser den Menschen viel öfter erschienen, z. B. der Hildegard von Bingen als ein "ungeheuer großer und langer Wurm, ... schwarz und borstig, voller Geschwüre und Blattern". Und weil das so oft vorkam, meint Angenendt [1]: "Die Macht des Teufels, so drängt es sich auf, muß dem mittelalterlichen Menschen überwältigend erschienen sein." Unterfrage:
- Wie konnte der Mensch sicher sein, dass das "Geschenk" von Gott kam und nicht vom Teufel?
[1] Geschichte der Religiosität im Mittelalter, S. 155; das Hildegard-Zitat dort S. 151
PS: Dies ist mein Beitrag 1666. Bitte aus der Zahlenfolge 666 keine falschen Schlüsse ziehen!