Urchristliche Gemeinden

CIL und ILS heißt Corpus Inscriptiones und ILS Inscriptiones Latinae Selectae, also eine Sammlung lateinischer Inschriften.
Wie vollständig sind diese Sammlungen? Jede Wette, dass über 90% aller römischer Bürger in der Gegend nicht darauf standen. Und wenn das so ist, wie ich vermute, taugt es nicht, um eine Feststellung in einem Dokument zu entkräften.
Sagte ich schon, dass das nebensächlich ist? Äußert Euch doch lieber zu der Wikipedia-Stelle: Rom versuchte Ausländer zu Römern zu machen.
 
Es gibt ein Argument, das sich einem Gegenbeweis stark annähert: die völlige Nichterwähnung der Korrespondenztätigkeit des Paulus in der Apg. Kein Wort über seine Briefe ist darin enthalten. Wie das? Warum unterschlägt der Autor die Brieftätigkeit, die doch ein wesentlicher Bestandteil der paulinischen Aktivitäten gewesen ist...
Ich bin nun wirklich der Letzte, der für das Neue Testament eine Lanze bricht, aber: Die Theologie der Synoptiker unterscheidet sich kaum von der des Paulus (subjektive Einschätzung), zumindest baut sie massiv auf dessen Rechtgläubigkeit auf. Resch hat 1904 recht überzeugend dargelegt, dass die Synoptiker die Paulusbriefe gekannt haben mussten. Die Apostelgeschichte verbindet doch geradezu Paulus mit Jesus und stellt die eine Lebensgeschichte neben die andere. Die Erwähnung der Briefe hätte nur Authentizität gekostet.

Dass auch viele andere Indizien für die Unechtheit bzw. für die hochgradige Fiktionalität der Apg sprechen, ist allgemein bekannt.
Das Wort "Fiktionalität" kenne ich gar nicht, klingt irgendwie unanständig...
Und doch hatte Lucas kein Motiv alles zu erfinden. Es gab vielleicht noch Zeitzeugen. Die Ungereimtheiten wirken auf mich eher wie gefüllte Wissenslücken und gesteigerte Dramatik. Der letzte Punkt könnte aber einer für Dich sein.
Lass uns über wichtigere Punkte reden. Es geht um die frühchristlichen Gemeinden.
 
Ja. Haben sie schon immer in ihrer Geschichte gemacht. Das römische Bürgerrecht war keine so exklusive Sache wie z.B. in Athen.
Danke. Der Wikipedia-Artikel spricht dafür, dass Rom daran interessiert war, wenigstens der Elite eine neue Identität zu geben, wenn sie ihre Volkszugehörigkeit aufgibt.
Die unteren Schichten hatten diese Möglichkeit doch wohl in nur sehr geringem Maße. Und genau die strömten zu Tausenden in die neue Religion. Ist Spekulation, aber doch ziemlich plausibel, oder?
Das würde sogar entfernt zu Chans Klassenkampfthese passen.
 
Noch mal etwas zu Identitäten. Wenn ein Bewohner einer Stadt in Kleinasien das römische Bürgerrecht erwarb oder es verliehen bekam und römischer Bürger wurde, war das eine hohe Ehre und ein handfester Vorteil, er blieb aber weiterhin Bürger seiner Polis und wird im privaten Umfeld weiterhin griechisch gesprochen haben. Latein war Kommandosprache in der römischen Armee und im Rechtsverkehr war die Kenntnis des Latein sicher vorteilhaft. Umgangs-, Wissenschafts- und Literatursprache war und blieb aber im Osten des Imperiums Griechisch. Die gebildeten Römer beherrschten mehr oder weniger die griechische Sprache, und philhellenisch eingestellte römische Kaiser wie Claudius Hadrian und Marc Aurel schrieben Griechisch, ebenso Josephus Flavius, Plutarch und Cassius Dio schrieben Griechisch, ähnlich wie im 18. Jahrhundert an vielen europäischen Höfen Französisch gesprochen wurde. Aber auch wer im Westen des Imperiums z. B. ein Restaurant oder einen Friseursalon eröffnen wollte, kam kaum darum herum, sich Griechischkenntnisse anzueignen. Wer in der Verwaltung, Justiz und rechtspflege vorankommen wollte, tat gut daran, neben Griechisch Latein zu beherrschen.
Das römische Bürgerrecht verlieh aber keine neue Identität, wer von sich sagen konnte Civis romanus sum, blieb doch nach wie vor Bürger einer Stadt, eines Municipiums, einer Colonia. In Gallien, Nordafrika, der iberischen Halbinsel oder in Illyricum machte sich eine Romanisierung bemerkbar, im griechischsprachigen Osten setzte sich dagegen der Prozess des Hellenismus auch unter römischer (und byzantinischer) Herrschaft fort. Q. Stertinius Xenophon, der Leibarzt Claudius verschaffte seiner Heimat Kos Steuerprivilegien. Städte in Lykien und Pamphylien die Selbstverwaltung besaßen korrespondierten über Gesandte mit dem Senat oder dem Kaiser. Die Lykier beriefen sich auf alte mythologische Verbundenheit mit den Römern, denn diese waren ja nachfahren der Trojaner. Cicero, als er die Stadt Segesta auf Sizilien gegen Verres vertrat, schlug in die gleiche Kerbe, wenn er schrieb, Segesta sei, so sagt man von Aenaeas gegründet worden. Daher verbinde die Segestaner nicht nur alte Freundschaft und Bundesgenossenschaft, sondern wahre Verwandtschaft.
 
Danke. Der Wikipedia-Artikel spricht dafür, dass Rom daran interessiert war, wenigstens der Elite eine neue Identität zu geben, wenn sie ihre Volkszugehörigkeit aufgibt.
Die unteren Schichten hatten diese Möglichkeit doch wohl in nur sehr geringem Maße. Und genau die strömten zu Tausenden in die neue Religion. Ist Spekulation, aber doch ziemlich plausibel, oder?
Das würde sogar entfernt zu Chans Klassenkampfthese passen.


Wo es keine Klassen- im marxschen Sinne gab, konnte es auch keinen Klassenkampf geben. Es macht einfach keinen Sinn, soziologisch und historisch relativ eng definierte Begriffe aus dem 19. und 20. Jahrhundert 1: 1 auf die klassische Antike zu übertragen, das gilt genauso für Begriffe wie "Nationen", auch wenn "nationes" ein lateinisches Wort ist.
 
Noch mal etwas zu Identitäten. Wenn ein Bewohner einer Stadt in Kleinasien das römische Bürgerrecht erwarb oder es verliehen bekam und römischer Bürger wurde, war das eine hohe Ehre und ein handfester Vorteil, er blieb aber weiterhin Bürger seiner Polis und wird im privaten Umfeld weiterhin griechisch gesprochen haben.
Ich glaube kaum, dass Griechisch als Fremdsprache gegolten hat. "Identität" ist sowohl, was die neuen Staatsbürger als auch was die neuen Christen anbelangte, ein Begriff, der zu weit geht. Besser passt vielleicht "Identifizierung", denn das bezieht sich mehr auf einen Teil der Persönlichkeit. Der Bürger bekam das Wahlrecht (was auch immer das wert war) und damit die Möglichkeit, am Staat mitzuwirken und sich so mit oihm zu identifizieren. Was sonst sollte der Sinn der ausgeweiteten Einbürgerungspolitik sein? Das geht doch in die gleiche Richtung wie die Anerkennung des Kaisernumen.
Natürlich ist es schwierig mit modernen Begriffen zu arbeiten, die immer nur teilweise gültig sind, aber Klassen gab und gibt es in jedem Staat und für Nationen gilt Ähnliches. "Paulus ging zu den Nationen" oder "Römisches Reich deutscher Nation", das sind auch in der Zeit vor dem Nationalismus gültige Begriffe.
 
Wie vollständig sind diese Sammlungen? Jede Wette, dass über 90% aller römischer Bürger in der Gegend nicht darauf standen. Und wenn das so ist, wie ich vermute, taugt es nicht, um eine Feststellung in einem Dokument zu entkräften.

Sagte ich schon, dass das nebensächlich ist? Äußert Euch doch lieber zu der Wikipedia-Stelle: Rom versuchte Ausländer zu Römern zu machen.


den oberen Teil des Beitrags wird man durchaus so stehen lassen können, abgesehen davon dass man ohnehin eher griechischsprachige Inscriptiones erwarten dürfte.

Nebensächlich war das römische Bürgerrecht sicher nicht, jedenfalls nicht für Paulus, und ohne wäre Paulus Missionstätigkeit wahrscheinlich wesentlich früher und unerfreulicher geendet haben.

Ad Rom versuchte "Ausländer" zu Römern zu machen)

Rom versuchte vor allem, unterworfene Gebiete zu befrieden und deren Bewohner zu friedlichen Steuerzahlern zu machen, (parcere subiectis et debellare superbos formulierte vergil Roms "Zivilisationsauftrag". Ob die Bewohner dann kleines Latinum machten und den "Roman way of life" lebten, war den Römern eher wurst. Meist waren es eher die Nachfahren der "Unterworfenen", die versuchten, Römer zu werden, was ihnen innerhalb einiger Generationen auch meist passabel gelang. Vielleicht war es tatsächlich Roms Fähigkeit, die Eroberten zu integrieren, was das Imperium Romanum so groß und dauerhaft machte.
 
(..) ihre Volkszugehörigkeit (...)
...ich halte es für alles andere als sinnvoll (und schon gar nicht geistreich), Begriffe dieser Art in die Antike hinein zu projizieren...
Unsere heutige Verwendung (Gebrauch, Kontext etc.) von Begriffen wie Nation, Nationalität, Identität, Ethnie usw. entstammt dem späten 18. und hauptsächlich dem 19. Jh. und ist dann sehr kritisch ab der zweiten Hälfte des 20. Jhs. betrachtet worden.
Aus diesem Grund wäre für dich - @Judas Phatre - empfehlenswert, zur Kenntnis zu nehmen, mit welcher Mühe die heutigen Historiker die antiken Begriffe natio und gens für uns versprachlichen und erklären (!). Bei Patrick Geary, Herwig Wolfram u.a. findest du genug Material dazu - und dann wäre es erfreulich, wenn du dich an die genannten Begriffsbildungen/Übertragungen halten würdest um Missverständnissen und nutzlosen Digressionen aus dem Weg zu gehen. (Es ist ermüdend, mehrmals darauf hinweisen zu müssen, dass unser heutiger Begriff "Nation"/"Staatsvolk" in der Antike/Spätantike nichts zu suchen hat)

Nicht anders ist es um moderne soziologische und psychologische Identitätskonzepte bestellt, die ebenfalls in der Antike/Spätantike nichts verloren haben.
 
Ad Rom versuchte "Ausländer" zu Römern zu machen)
Rom versuchte vor allem, unterworfene Gebiete zu befrieden und deren Bewohner zu friedlichen Steuerzahlern zu machen, (parcere subiectis et debellare superbos formulierte vergil Roms "Zivilisationsauftrag". Ob die Bewohner dann kleines Latinum machten und den "Roman way of life" lebten, war den Römern eher wurst. Meist waren es eher die Nachfahren der "Unterworfenen", die versuchten, Römer zu werden, was ihnen innerhalb einiger Generationen auch meist passabel gelang. Vielleicht war es tatsächlich Roms Fähigkeit, die Eroberten zu integrieren, was das Imperium Romanum so groß und dauerhaft machte.
... und mich daran so fasziniert. Das muss man auch einmal sagen dürfen. "Rom" ist vieles gewesen: Aggressivität, Machtgier, Habgier, Unterdrückung, Ausbeutung passt auf Vieles in seiner Geschichte. Aber, wenn Trajan an Plinius II schreibt, anonymen Anzeigen nachzugehen wäre nicht mehr zeitgemäß, dann blinzelt uns doch eine ganz andere Einstellung entgegen: Rechtstaatlichkeit, Sicherheit, Friede, Toleranz, Gleichberechtigung, Weltbürgertum. Diese Begriffe stehen genauso für Rom. Meine Meinung nach war die gute philosophische Kraft hinter diesen guten Seiten die Stoa: Epiktet, Seneca und Mark Aurel (plus Fragmente von anderen) zeichnen ein Ideal, in dessen Zentrum der Mensch steht ohne Ansicht der Herkunft, selbst die Geschlechtszugehörigkeit wird heruntergespielt. Wenn ich also sage, diese Philosophie wollte Ausländer zu Römern machen, dann meine ich: Sie wollte eine nationale Orientierung, vielleicht sogar den Egoismus selbst, zugunsten des Allgemeinwohls abschaffen.
Die Parallelen zum heutigen Europa sind offensichtlich.

...ich halte es für alles andere als sinnvoll (und schon gar nicht geistreich), Begriffe dieser Art in die Antike hinein zu projizieren...
Doch, geistreich ist das! Ich bin kein Historiker, es ist ein Hobby. Das gilt offensichtlich für die meisten hier. Wir stoppeln unser Wissen zusammen und machen daraus etwas Gemeinsames, das mehr ist als die Einzelteile. Dazu gehören auch die Begriffe. Ich habe mich mit genügend Sprachen beschäftigt, um sagen zu können: Es gibt für viele Wörter so viele Bedeutungen wie es Menschen gibt. Als Amateure sollten wir damit spielen dürfen. Angst vor festen Definitionen behindert eine Diskussion, und Dogmen verbergen Lügen.
Hinter der Art mit Wörtern zu jonglieren, steht meine Auffassung von Geschichte: Das Allermeiste versuche ich durch Rückprojektion zu verstehen. Ich gehe in der ersten Iteration davon aus, dass alle Menschen so sind wie ich und "immer" so waren. Erst dann kommen die spezifischen Lebensumstände hinzu.
Es kommt mir absurd und fehleranfällig vor, grundsätzlich nur mit griechischen und lateinischen Wörtern aus der Zeit zu arbeiten, über die wir reden. Geschichte soll für uns heute verständlich werden und muss in unser Verständnis "übersetzt" werden.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Nur so als Hinweis. Man muss kein Historiker sein um die Begriffe richtig anzuwenden. Wenn man das nicht kann - dann kann man dies lernen.
 
Angst vor festen Definitionen behindert eine Diskussion, und Dogmen verbergen Lügen.

Man muss nicht aus allem gleich ein Politikum machen...
Eine Definition hat mit einem Dogma nichts zu tun. Eine Diskussion, in der jeder die Worte nach seinem Gusto verwendet, aber nicht nach allgemein anerkannten Definition, ist sinnlos: Es würden alle aneinander vorbei reden.
Definitionen dienen dazu Ausdrücke trennscharf verwenden zu können.


"Rom" ist vieles gewesen: Aggressivität, Machtgier, Habgier, Unterdrückung, Ausbeutung passt auf Vieles in seiner Geschichte. Aber, wenn Trajan an Plinius II schreibt, anonymen Anzeigen nachzugehen wäre nicht mehr zeitgemäß, dann blinzelt uns doch eine ganz andere Einstellung entgegen: Rechtstaatlichkeit, Sicherheit, Friede, Toleranz, Gleichberechtigung, Weltbürgertum. Diese Begriffe stehen genauso für Rom.

:hoch:
 
Man muss nicht aus allem gleich ein Politikum machen...
Eine Definition hat mit einem Dogma nichts zu tun. Eine Diskussion, in der jeder die Worte nach seinem Gusto verwendet, aber nicht nach allgemein anerkannten Definition, ist sinnlos: Es würden alle aneinander vorbei reden.
Definitionen dienen dazu Ausdrücke trennscharf verwenden zu können.
Das ist völlig richtig, deshalb freue ich mich, wenn wir zusammen Missverständnisse und Wortfehlgriffe korrigieren. Ich wollte nur vor zuviel Strenge und Dogmatik warnen, nicht zum Lallen aufrufen.
 
Sagte man Caracalla nicht nach, er hätte allen das Bürgerrecht verliehen, um mehr Steuern einzunehmen?
Constitutio Antoniniana ? Wikipedia
Was dort geschrieben steht, ist teilweise aber auch eher spekulativ. Man kann in eine Person halt nicht hineinsehen. Auch ihre eigenen Äußerungen, so sie überliefert sind, müssen nicht zwangsläufig die wahren Intentionen wiedergeben.

- Ein römisches Bürgerrecht für Paulus wird in der Apg behauptet.
- Paulus wusste von einem solchen offenbar nichts.
Woraus wird denn das geschlossen? Nur weil er in seinen Briefen nicht damit angibt? Warum und wozu sollte er das machen? "Liebe Brüder und Schwestern, ich, Paulus, bin römischer Bürger (und somit etwas Besseres als Ihr)"?
Die Behandlung, die Paulus in den letzten Kapiteln der Apostelgeschichte durch die Römer erfährt, ergibt nicht so wirklich Sinn, wenn er nur ein x-beliebiger Jude bzw. Tarsos-Einwohner gewesen wäre.

Es gibt ein Argument, das sich einem Gegenbeweis stark annähert: die völlige Nichterwähnung der Korrespondenztätigkeit des Paulus in der Apg. Kein Wort über seine Briefe ist darin enthalten. Wie das? Warum unterschlägt der Autor die Brieftätigkeit, die doch ein wesentlicher Bestandteil der paulinischen Aktivitäten gewesen ist, soweit man die Briefe (in ihrer Mehrheit zumindest) als echt, d.h. von einem historischen Paulus verfasst, anerkennt, und deren Bedeutung für die Gemeindebildungen beträchtlich gewesen sein muss (unter der vorgenannten Bedingung)? Es ist von daher äußerst unwahrscheinlich, dass der in der Apg beschriebene Paulus dem Paulus der Briefe entspricht. Ersterer scheint von einem Autor erdacht worden zu sein, der mit dem letzteren kaum oder gar nicht vertraut war.
Aus einer Nichterwähnung Schlüsse zu ziehen, ist immer problematisch. Außerdem, warum hätte der Autor Paulus' Briefe erwähnen sollen? Ein "wesentlicher Bestandteil der paulinischen Aktivitäten" sind seine Briefe aus heutiger Sicht als Teil des NT und weil sie Paulus' Denken zeigen. Zu Paulus' Lebzeiten waren seine wichtigsten Aktivitäten aber wohl seine Missionsreisen. Sie waren es, durch die das Christentum verbreitet wurde. Die Briefe waren an Empfänger gerichtet, die eh schon Christen waren und nur noch weiter belehrt, bestärkt, ermahnt oder korrigiert werden mussten.
Im Übrigen ist die Apostelgeschichte nun einmal keine Paulus-Biographie, in der es darum gegangen wäre, sein Leben und Wirken umfassend darzustellen.
Zum Vergleich: Von Cicero ist bekanntlich eine reiche Sammlung von Briefen erhalten, darunter an so prominente Empfänger wie Caesar, Brutus oder Marcus Antonius. Cassius Dio erwähnt in einer ganzen Reihe von Büchern seiner "Römischen Geschichte" natürlich häufig Cicero, nie aber, wenn ich nicht etwas übersehen habe, dessen reichhaltige Briefschreiberei. (Einzige Ausnahme ist eine gegen Cicero gerichtete Rede von Quintus Fufius Calenus, in der ihm vorgeworfen wurde, seiner angeblichen Geliebten Caerellia Liebesbriefe zu schicken.) Was soll man daraus Deiner Meinung nach schließen? Dass die Briefe allesamt gefälscht sind? Dass Cicero nicht existierte?
 
Rom versuchte Ausländer zu Römern zu machen.
Ich hatte früher schon einmal die Stelle von Mark Aurel gebracht:
"Oh, was für eine Seele ist das, die bereit ist, jeden Augenblick von dem Körper, wenn es so sein soll, sich loszulösen und entweder zu erlöschen oder zu zerstäuben oder mit ihm fortzudauern! Nur muß diese Bereitschaft von der eigenen Überzeugung herstammen, nicht aber, wie bei den Christianern, von bloßem Eigensinn;"
Ich glaube, hier passt er wieder gut. In diesem letzten großen stoischen Werk stellt der Kaiser die Kardinaltugend des Bürgers dar, die Opferbereitschaft für das Allgemeinwohl, das heißt die römische Identifikation und stellt dem eine andere, wirre, Identifikation, das Christentum, gegenüber.
Ein anderer Beweis, wie wichtig die Identifikation war, ist das Judentum. Israel war das einzige Gebiet/Volk, an dem die Romanisierung misslang, mit dramatischen Folgen. Bei dieser Identifikation stellte die Gruppe, wie z.B. die der Essener, eine genauso große Rolle, wie die kompromisslose Abgrenzung nach außen.
Das frühe Kaiserreich war eine besondere Zeit. Selbst die christlichen Autoren haben das wahrgenommen:
Eusebius schreibt:
"erst jetzt, zu Beginn des römischen Kaiserreiches, erschien allen übrigen Menschen und den Heiden des ganzen Erdkreises, da sie vorbereitet und bereits fähig waren, die Erkenntnis des Vaters anzunehmen, derselbe Lehrer der Tugenden, der Diener des Vaters in allem Guten, der erhabene und himmlische Logos Gottes, in Menschengestalt, ohne jedoch unsere körperliche Natur in etwas zu ändern." (Hist eccl I,2,23f)
Irenäus:
"Durch sie (die Römer) hat auch die Welt Friede, und furchtlos wandeln wir auf ihren Straßen und segeln, wohin wir wollen." ([FONT=&quot]Iren AH 4,30,3)
[FONT=&quot]und Origenes:
[FONT=&quot]"[/FONT][/FONT][/FONT][FONT=&quot][FONT=&quot][FONT=&quot]Gott bereitete die Völker auf seine Lehre vor und machte, dass sie unter die Herrschaft des einen römischen Kaisers kamen, es sollte nicht viele Königreiche geben, sonst wären ja die Völker einander fremd geblieben, und der Vollzug des Auftrages Jesu: "Gehet hin und lehret alle Völker", den er den Aposteln gab, wäre schwieriger gewesen. Es ist klar, dass die Geburt Jesu unter der Regierung des Augustus erfolgte, der die große Mehrzahl der auf Erden lebenden Menschen durch ein einziges Kaiserreich sozusagen ins gleiche gebracht hatte." (Origen Contra Cels II,30)[/FONT]
[/FONT] Es war diese Nivellierung der Unterschiede, die es vielen leichter machte, sich mit dem Christentum [FONT=&quot]eine neue Identität zuzulegen.
[FONT=&quot]Hierin bestand aber eine Konkurrenz zur römischen Identifikation, wie sie Mark Aurel anstreb[FONT=&quot]te[/FONT], zumal bei[FONT=&quot]de sehr ähnlich waren: Sie ber[FONT=&quot]uhten weitgehend auf der Lehre der Stoa und waren kosmopolitisch ausgerichtet.[/FONT][/FONT][/FONT]
[/FONT]
[/FONT]
 
Aus einer Nichterwähnung Schlüsse zu ziehen, ist immer problematisch.

Es geht ja nicht nur um die Briefe. Dieser Thread zeigt, dass auch außerhalb radikalkritischer Positionen der Themenkomplex ´Apg und historische Wahrheit´ alles andere als unumstritten ist. Zudem spielt das Thema Briefe in der Apg durchaus eine gewisse Rolle, nur eben nicht in Bezug auf Paulus´ eigene Korrespondenz. Ich habe alle Stellen aus der Apg zusammengestellt, die über einen Brief oder mehrere Briefe handeln:

9 Saulus aber, der noch Drohung und Mord schnaubte gegen die Jünger des Herrn, ging zum Hohenpriester 2 und erbat sich von ihm Briefe nach Damaskus an die Synagogen, in der Absicht, wenn er irgendwelche Anhänger des We*ges fände, ob Männer oder Frauen, sie gebunden nach Jerusalem zu führen.
(...)
27 Als er aber nach Achaja hinübergehen wollte, ermunterten ihn die Brüder und schrieben an die Jünger, dass sie ihn aufnehmen sollten. Und als er dort ankam, war er eine große Hilfe für die, welche durch die Gnade gläubig geworden waren.
(...)
4 Ich verfolgte diesen Weg bis auf den Tod, indem ich Männer und Frauen band und ins Gefängnis überlieferte, 5 wie mir auch der Hohepriester und die ganze Ältestenschaft Zeugnis gibt. Von ihnen empfing ich sogar Briefe an die Brüder und zog nach Damaskus, um auch die, welche dort waren, gebunden nach Jerusalem zu führen, damit sie bestraft würden.
(...)
22 Da entließ der Befehlshaber den jungen Mann und gebot ihm: Sage niemand, daß du mir dies angezeigt hast! 23 Und er ließ zwei Hauptleute zu sich rufen und sprach: Haltet 200 Soldaten bereit, daß sie nach Cäsarea ziehen, dazu 70 Reiter und 200 Lanzenträger, von der dritten Stunde der Nacht an; 24 auch soll man Tiere bereitstellen, damit sie Paulus daraufsetzen und ihn sicher zu dem Statt*halter Felix bringen! 25 Und er schrieb einen Brief, der folgenden Inhalt hatte:
26 »Claudius Lysias schickt dem hochedlen Statt*halter Felix einen Gruß! 27 Dieser Mann wurde von den Juden ergriffen, und er sollte von ihnen umgebracht werden; (usw.)
(...)
33 Jene aber übergaben bei ihrer Ankunft in Cäsarea dem Statthalter den Brief und führten ihm auch Paulus vor. 34 Nachdem aber der Statthalter den Brief gelesen hatte und auf die Frage, aus welcher Provinz er sei, erfahren hatte, daß er aus Cilicien stammte, 35 sprach er: Ich will dich verhören, wenn deine Ankläger auch eingetroffen sind! Und er befahl, ihn im Prätorium des Herodes zu bewachen.
(...)
19 Da aber die Juden widersprachen, war ich genötigt, mich auf den Kaiser zu berufen; doch keinesfalls habe ich gegen mein Volk etwas zu klagen. 20 Aus diesem Grund also habe ich euch rufen lassen, um euch zu sehen und mit euch zu sprechen; denn um der Hoffnung Israels willen trage ich diese Kette! 21 Sie aber sprachen zu ihm: Wir haben weder Briefe deinetwegen aus Judäa empfangen, noch ist jemand von den Brüdern gekommen, der über dich etwas Böses berichtet oder gesagt hätte. 22 Wir wollen aber gerne von dir hören, was du für Ansichten hast; denn von dieser Sekte ist uns bekannt, daß ihr überall widersprochen wird!


Es geht also oft um Briefe, jedoch nie um auch nur einen einzigen von Paulus.

Wie gesagt, im Lichte der generellen Authentizitätsproblematik rund um Paulus ist das Briefthema durchaus relevant. Leugnet man diese Problematik, verliert natürlich auch die Nichterwähnung in der Apg an Brisanz.
 
Woraus wird denn das geschlossen? Nur weil er in seinen Briefen nicht damit angibt? Warum und wozu sollte er das machen? "Liebe Brüder und Schwestern, ich, Paulus, bin römischer Bürger (und somit etwas Besseres als Ihr)"?

Paulus äußert sich in seinen Briefen weder zu seiner Herkunft aus Tarsos noch zu seinem römischen Bürgerrecht. Alleine aus diesem Umstand an beidem zu zweifeln, ist sicherlich nicht sinnvoll.

Es ist aber durchaus sinnvoll, zu überprüfen, ob die Briefe des Paulus inhaltlich zu jemandem passen, der das römische Bürgerrecht besitzt.

Beispielsweise wenn er an die Christen in Philippi schreibt, die sich offenbar zumindest teilweise in derselben Situation befinden, wie er selbst:

Phil 3,20 „Unser Bürgerrecht ist in den Himmeln, von wo wir auch unsern Retter erwarten, den Herrn Jesus Christus.“
 
Im griechischen Originaltext steht allerdings für "Bürgerrecht" "politeuma", ein nicht wirklich übersetzbarer Ausdruck, der so etwas wie das Gemeinwesen bzw. dessen Organisation bzw. die Mitwirkung daran bezeichnet.
Im Übrigen verstehe ich nicht, wieso es gegen das römische Bürgerrecht sprechen sollte, wenn Paulus den Himmel höher wertet als alles Irdische (im vorangehenden Vers).
 
Im griechischen Originaltext steht allerdings für "Bürgerrecht" "politeuma", ein nicht wirklich übersetzbarer Ausdruck, der so etwas wie das Gemeinwesen bzw. dessen Organisation bzw. die Mitwirkung daran bezeichnet.

πολίτευμα = am Bürgersein, den Rechten des freien Bürgers (πολιτεία) teilhaben

Im Grundtext steht:

ἡμῶν γὰρ τὸ πολίτευμα ἐν οὐρανοῖς ὑπάρχει, ἐξ οὗ καὶ σωτῆρα ἀπεκδεχόμεθα κύριον Ἰησοῦν Χριστόν,…

Luther 1984 übersetzt:

Unser Bürgerrecht aber ist im Himmel; woher wir auch erwarten den Heiland, den Herrn Jesus Christus,…

Elberfelder übersetzt:

Denn unser Bürgerrecht ist in <den> Himmeln, von woher wir auch <den> Herrn Jesus Christus als Retter erwarten

Wuppertaler Studienbibel:

Denn unser Bürgertum ist in den Himmeln, von wo wir auch als Retter sehnlich erwarten den Herren Jesus Christus….

Im Übrigen verstehe ich nicht, wieso es gegen das römische Bürgerrecht sprechen sollte, wenn Paulus den Himmel höher wertet als alles Irdische (im vorangehenden Vers).

Ja. Das himmlische Bürgerrecht (das im Besitz der Christenheit ist) hat mehr Bedeutung irdische (also das römische, das in der gegebenen Situation durchaus Vorteile brächte).

Ich hatte angemerkt, dass das römische Bürgerrecht des Paulus in Fachkreisen wieder vermehrt diskutiert wird, und zwar mit unterschiedlichen Ergebnissen. Die Mehrheit hält an der Annahme, dass Paulus röm. Bürger gewesen war, fest.

Die Argumentation von P. Pilhofer, der gegenteiliger Ansicht ist (den entspr. Literaturhinweis hatte ich angemerkt), halte ich für nachvollziehbar.
 
Es geht ja nicht nur um die Briefe. Dieser Thread zeigt, dass auch außerhalb radikalkritischer Positionen der Themenkomplex ´Apg und historische Wahrheit´ alles andere als unumstritten ist.
Genau wie beim Panarion des Epiphanius finde ich es völlig falsch, auch nur eines der wenigen Dokumente, die wir aus der Zeit des frühen Christentums besitzen, pauschal als "gelogen" auszusortieren und uns selbst unserer wenigen Zeugnisse zu berauben. Ein aufrechter Mensch lügt ab und zu und ein Lügner spricht auch die Wahrheit. Es muss bei jeder Aussage geprüft werden, welches Motiv der Autor hatte und danach die Wahscheinlichkeit einer Fiktion bemessen werden.
Ich finde die vagen möglichen Motive für eine erfundene römische Bürgerschaft des Paulus von Tarsos zu schwach.

Wollen wir nicht weiter über die Identitätsbildung/Identifikation mit Rom und dem Christentum diskutieren? Ich glaube, da ist mehr zu holen.
 
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