Die Wissenschaft ist wie ein Staffellauf. Der Stab wird von einem Wissenschaftler zum nächsten weitergegeben, und selbst der "Stammbaum" eines Steven Hawking weist letztendlich bis auf den ersten Menschen zurück, der das Feuer für sich entdeckte. Was wir heute haben, ist eine Menschheitsleistung. Nur selten und zeitweise ragt der Beitrag einer Kultur wirklich über die Beiträge der anderen hinaus.
Ich würde nicht sagen, dass der Westen die Naturwissenschaften erfunden habe; dafür sind z.B. die Beiträge der indischen Mathematiker und Astronomen viel zu fruchtbar gewesen. Was der Westen allerdings erfunden hat, ist eine neue, überlegene Art, Wissenschaft zu betreiben: durch die Beobachtung der realen Welt, mit den Mitteln der Deduktion und Induktion, auf Basis der Empirie.
Ausgerechnet im "finsteren" christlichen Mittelalter wurde dieser entscheidende Schritt getan (wie Alistair Cameron Crombie und der in Istanbul lehrende John Freely ('Aristoteles in Oxford') eindrucksvoll gezeigt haben). Bis zu solchen Gelehrten wie Gerbert von Aurillac und Beda Venerabilis war die Welt nämlich v.a. religiös gedeutet worden; nur die antiken Philosophen bildeten eine Art von Ausnahme.
Ihre Werke, die von den Arabern bewahrt worden waren, gelangten zu jener Zeit erst wieder nach Europa zurück. Die Griechen jedoch hatten die Wissenschaft auf eine philosophische Grundlage gestellt, was die Araber von ihnen übernahmen. So meinte Aristoteles, der Weise denke nicht mit den Händen, er müsse also jedes Problem allein durch seine Vorstellungskraft lösen können.
Die kulturelle Relevanz der antiken Philosophen erzwang, dass diese Sichtweise lange als Maß der Dinge akzeptiert wurde. Friedrich II. ist wohl der erste (!) Gelehrte, der Aristoteles zu kritisieren wagte, wenn er in 'Von der Kunst zu beizen' zeigt, dass des Griechen Angaben über die Vogelwelt falsch sind, was aber – so Friedrich – verständlich sei, schließlich habe Aristoteles niemals mit Vögeln gearbeitet.
Das versinnbildlicht ein strukturelles Problem: Aristoteles hatte von Dingen geschrieben, von denen er keine Ahnung hatte; seine Angaben hatte er sich teils im Wege der Analogie zusammengereimt, teils darauf fußen lassen, was er für schlüssig und ästhetisch gefällig hielt.
Was die Bedeutung der Araber für die abendländische Wissenschaft angeht, muss man bedenken, dass der Islam eine andere Beziehung zur Wissenschaft hatte. Er kannte keinen Theodulf von Orléans, der glaubte, Reiche und Arme, Kleriker und Laien, Männer und Frauen hätten gleichermaßen ein Recht auf Bildung.
Dem frühmittelalterlichen Historiker Abul-Hassan al-Mas'udi zufolge wurde Bagdad deshalb das Zentrum arabischer Gelehrsamkeit, weil die Kalifen das Wissen benachbarter Kulturen sammelten (übrigens nicht zuletzt durch Christen), um es in den Dienst der Verwaltung des expandierenden Islam zu stellen.
Auch wollte man wohl aus theologischen Gründen Rückstände aufholen. Die 'Physik' des Aristoteles und dessen 'Topik' (ein Werk über die Kunst der Argumentation) wurden laut Freely unter den Kalifen Abdullah al-Mahdi und Harun ar-Raschid ins Arabische übersetzt, um die geistige Elite anderer Glaubensrichtungen beeindrucken zu können und zur Annahme des Islam zu bewegen.
Ihm zufolge währte diese Blüte der islamischen Wissenschaft nicht lange, und wurde keineswegs erst durch Verheerungen wie die des Mongolensturms abgewürgt. Vielmehr habe bereits zu Lebzeiten des freidenkerischen Alkendi (gest. ca. 870) eine fundamentalistische, wissenschaftsfeindliche Bewegung um sich gegriffen, die der Islam nur teilweise und nicht überall überwinden konnte.
Demgegenüber war der christliche Klerus in den Klöstern Trägerin der Bildung; wo er Landesherrschaft ausübte, bediente er sich freimütig der Wissenschaften, um sich im Ringen mit den weltlichen Fürsten einen Machtvorteil zu verschaffen. Auch das Konzept der Verherrlichung Gottes durch das Ergründen der Geheimnisse der Schöpfung ist vor allem in Europa präsent.
Die Dominanz der abendländischen Wissenschaft lässt Freely grob um die Jahrtausendwende beginnen, wobei die karolingische Renaissance sie vorweggenommen habe:
"Die islamische Wissenschaft stand damals in voller Blüte; sie hatte die wissenschaftliche Überlieferung der Griechen verarbeitet und ihre eigenen Werke hervorgebracht. [Es schien] eine Zeitlang, als wäre die islamische Kultur dem christlichen Abendland überlegen. Doch mit dem Wiederaufleben der europäischen Kultur in den Klöstern schlug die Waage in die andere Richtung aus […]"
Diese Entwicklung sieht Freely dann im Wesentlichen mit der "Renaissance des 12. Jahrhunderts" (Haskins) gesichert, getragen von Köpfen wie Adelard von Bath, der in 'Quaestiones naturales' der Erklärung natürlicher Phänomene durch Naturgesetze den Vorzug gab und riet: "Nur wo das menschliche Wissen vollständig versagt, sollte man eine Sache auf Gott zurückführen".
Man kann die Bedeutung dieser Einsicht gar nicht überschätzen. Ohne eine Wissenschaftspraxis, die nur gelten lässt, was der objektive Betrachter beobachten und nach objektiven Kriterien beweismäßig nachvollziehen kann, ist kein fundierter Erkenntnisgewinn möglich. Ich glaube, es liegt an zwei Faktoren, dass eine solche Wissenschaft im "Abendland" ihren Anfang nahm:
1) An der Bedeutung des Logos in der christlichen Tradition. Friedrich Nietzsche meinte, das Christentum habe seinen Bedeutungsverlust selbst herbeigeführt, indem es Vernunft und Wahrheit verklärte und damit unabsichtlich eine Geisteshaltung hervorbrachte, mit der es in Konflikt geraten musste.
Auch ließ die christliche Vorstellung des Menschen als Ebenbild Gottes den westlichen Individualismus entstehen, der eher dazu ermuntert, die eigene Lebenswelt zu verändern. Beidem stand, wie
@Zoki55 erinnert, in anderen Kulturen eine fatalistischere Grundeinstellung gegenüber.
2) An der Einrichtung der Universität. Zwar gab es universitätsähnliche Bildungsstätten auch in anderen Kulturen, in Bagdad etwa das Bait al-Hikma. Doch nur in den Universitäten wurden gewissermaßen genormte, universell anwendbare Voraussetzungen dafür geschaffen, Wissenschaft um ihrer selbst willen zu betreiben.
Nur die Universitäten waren derart in der Breite vertreten und gegenseitig nutzbringend vernetzt. Nur die Universitäten standen schon früh einem derart breiten Schülerkreis offen. Und anders als das Bait al-Hikma oder Platons Akademeia bestand die Universität unabhängiger von der Person der Lehrer und des Herrschers.
Die Freiheit der Lehre ist definitiv eine westliche Erfindung. Natürlich liegen ihre Anfänge auch im Eigennutz; Friedrich Barbarossa wollte in Bologna seinen Machtanspruch bestätigt, Karl IV. in Prag seinen Namen als den eines Förderers der Wissenschaften verherrlicht sehen. Trotzdem brachten sie eine Rede- und Debattierfreiheit hervor, die meiner Meinung nach weltweit ziemlich einzigartig war.
Kurzum, erfunden wurde im Westen die zielführendste Art, Naturwissenschaften auszuüben, und damit die nötige Basis, um in komplexe Bereiche vorzustoßen, die für die Wissenschaft der Griechen, Araber oder alten Chinesen – die sich auf Götter berief, ästhetische Erklärungen verlangte und, wenn überhaupt, oft nur zufällig richtig lag – unerreichbar gewesen wäre.
Und dieser Beitrag ist so eindeutig dem "weißen" christlichen Abendland zuzuschreiben, dass die Critical Race Theory sogar die Behauptung aufgestellt hat, vgl. bei Michael Eric Dyson, das Beharren auf logische Schlüsse und experimentelle Replizierbarkeit sei ein Unterdrückungswerkzeug (!!), mit dem die Weißen ihre Dominanz im Wissenschaftsbetrieb verteidigen wollten.
Da oben das Beispiel China fiel: Totalitarismus ist natürlich wissenschafts- und fortschrittsfeindlich. Er spricht Denkverbote aus, untergräbt die akademische Bestenauslese, indem er begabte Menschen ausschließt, und verausgabt sich in der Förderung von Pseudowissenschaft und Größenwahn.
Die Volksrepublik China ist freilich erst seit den Reformen der Wendezeit auf der wissenschaftlichen Landkarte vertreten, und führt erst seit wenigen Jahren Benchmark-Ratings wie die Hitparade der Patent-Anmeldungen an. Man könnte das mit einem lapidaren "Ausnahmen bestätigen die Regel" abtun.
Aber tatsächlich hat Peking das Problem erkannt. Die KPCh verfolgt seit den 1980ern die konzentriert die Strategie, China im Windschatten des Amerika-Russland-Konflikts (und später des "Krieges gegen den Terror") zur bestimmenden Weltmacht zu machen. Dazu ging man auch ideologische Kompromisse ein.
Die Universitäten etwa gehörten bis in die Präsidentschaft Xi Jinpings hinein zu den am wenigsten regulierten staatlichen Institutionen. Zudem hat China in historisch einmaliger Weise von einem teils einvernehmlichen, teils erzwungenen Technologietransfer aus dem Westen profitiert.
Indem es den immens lukrativen chinesischen Markt solchen Unternehmen vorbehält, die mit lokalen Firmen zusammenarbeiten, und die umfangreichste Wirtschaftsspionage unserer Zeit betreibt, ist China nicht wegen, sondern
trotz seines innovationshemmenden Systems zur Wissenschaftsgroßmacht aufgestiegen.