Die Wissenschaft ist wie ein Staffellauf. Der Stab wird von einem Wissenschaftler zum nächsten weitergegeben, und selbst der "Stammbaum" eines Steven Hawking weist letztendlich bis auf den ersten Menschen zurück, der das Feuer für sich entdeckte.
Wie ich ja oben schrieb, würde ich vor dem 19. Jhdt. nicht wirklich von Wissenschaft im modernen Sinne sprechen. Einfach weil es mir dazu an wissenschaftlicher Methodik fehlt.
Dennoch gibt es natürlich Ansätze von Wissenschaft oder Protowissenschaft. Ich nannte schon die Entdeckung Amerikas als Grund für die europäische Wissensexplosion in der FNZ. Hinzu kommt natürlich auch Papier und Buchdruck als einigermaßen neue mediale Mittel, welche Wissensweitergabe einfach akzelierten. Anstatt dass ein Buch mühsam abgeschrieben werden musste, sofern man überhaupt daran kam, konnte man jetzt mit beweglichen Lettern ganze Seiten schnell reproduzierten und binden.
Die Entdeckung Amerikas führte zu koginitiven Dissonanzen (eine Grundvoraussetzung für Wissenschaft). Hatte die Bibel doch gelehrt, dass die Menschheit von den Söhnen Noahs Sem, Ham und Japhet abstammte - was man biblisch gestützt mit Asien, Europa und Afrika verband, war da plötzlich eine Menschengruppe, die man nicht auf dem Schirm hatte, die sich mit der Bibel nicht vereinbaren ließ, dazu neue Tiere und Pflanzen, die man nicht kannte. Und Sprachen. Wenn also Alonso de Molina zwischen 1555 und 1571 versuchte ein Wörterbuch (
Vocabulario en Lengua Castellana y Mexicana) zu verfassen, musste er erst einmal versuchen, die Bedeutung jedes Wortes aus der Sprache festzuhalten. Und er hatte den Eindruck, dass ein Wort, dass er am Vortag noch mit der Bedeutung x gelernt hatte, am Folgetag plötzlich die Bedeutung y hatte. Waren es zunächst Franziskaner und Dominikaner, die versuchten, die indigenen Sprachen zu katalogisieren (natürlich mit dem utilitaristischen Ziel der Mission), waren es später v.a. die Jesuiten, die auch proto-ethnologische Forschungen betrieben.
Die Muslime waren zunächst von der Neuen Welt abgeschnitten und bekamen deren Produkte nur mittelbar über Spanien und Portugal, wohingegen andere europäische Nationen entweder mit dem oder gegen das Einverständnis von Spaniern und Portugiesen ebenfalls auf den amerikanischen Kontinent kamen.
Aber denken wir an
Orkan/Hurrikan < hurracán, Kanu < cano, BBQ < barbacoa, potatoe/batata < patata/batata (tatsächlich stammt der Name der Kartoffel, der die Spanier in den Anden erstmals begegneten, von einer spanischen Übertragung des karibischen Namens der Süßkartoffel -
batata- auf die andine Knolle, die sie dann patatanannten - anders als in einem Errol Flynn-Film dargestellt, wo ein englischer Pirat sich in ein indigenes Mädchen mit Namen Potato verliebt und nach diesem die leckere Frucht, in deren Geschmack er sich verliebt, benennt).
Ihre Werke, die von den Arabern bewahrt worden waren, gelangten zu jener Zeit erst wieder nach Europa zurück. Die Griechen jedoch hatten die Wissenschaft auf eine philosophische Grundlage gestellt, was die Araber von ihnen übernahmen.
[...]
Was die Bedeutung der Araber für die abendländische Wissenschaft angeht, muss man bedenken, dass der Islam eine andere Beziehung zur Wissenschaft hatte. Er kannte keinen Theodulf von Orléans, der glaubte, Reiche und Arme, Kleriker und Laien, Männer und Frauen hätten gleichermaßen ein Recht auf Bildung.
Und verkörperte Theodulf mit seiner quasidemokratischen Ansicht den Mainstream oder stellte er damit eine Minderheitenmeinung dar?
Im europäischen Mittelalter war Bildung doch lange dem Klerus vorbehalten, wohingegen sich theoretisch jeder in den überdachten Gängen des
ṣaḥn oder in den
īwān setzen und der Vorlesung eines Gelehrten lauschen konnte. Praktisch konnten sich das natürlich nur diejenigen leisten, welche die ökonomische Grundvoraussetzung hatten, nicht arbeiten zu müssen. Wer als Tagelöhner um seinen Lebensunterhalt kämpfen musste oder als Bauer fernab der großen Städte wohnte, der hatte natürlich keine Gelegenheit, im
īwān der
madrasa oder in den Bogengängen des
ṣaḥn berühmten Gelehrten zu lauschen. Aber niemand hätte ihm das Recht dazu abgesprochen. Da es im Islam zwar Glaubensrichtungen, aber keine instituionalisierte Glaubensorganisation gab (es gab natürlich im sunnitischen Islam die vier großen Rechtsschulen), gab es auch niemanden, der Bildung monopolisierte, wie im römisch-katholischen Europa die Kirche (das hört sich jetzt negativer an, als es gemeint ist, die Kirche bewahrte natürlich insbesondere lateinische Texte über das Mittelalter), Lehre fand vor allem in den Skriptorien hinter den Klostermauern statt und eben nicht, wie in islamischen Herrschaftsbereichen, in Form öffentlicher Vorlesungen.
Dem frühmittelalterlichen Historiker Abul-Hassan al-Mas'udi zufolge wurde Bagdad deshalb das Zentrum arabischer Gelehrsamkeit, weil die Kalifen das Wissen benachbarter Kulturen sammelten (übrigens nicht zuletzt durch Christen), um es in den Dienst der Verwaltung des expandierenden Islam zu stellen.
Das klingt so, als sei das kalifale Interesse einzig und allein utilitaristisch gewesen, wohingegen das westliche Interesse an Wissenschaft gewissermaßen nicht einem profanen Utilitarismus gedient habe, sondern reiner Selbstzweck gewesen sei, Wissenschaft aus reinem Erkenntnisinteresse. Ich behaupte aber: Wo Wissenserwerb nicht aus intrinsischer Motivation kommt, ist er auch nicht erfolgreich. Sprich: Utilitarismus ist nicht per se schlecht und widerspricht nicht einem gleichzeitigen Erkenntnisinteresse.
Auch wollte man wohl aus theologischen Gründen Rückstände aufholen. Die 'Physik' des Aristoteles und dessen 'Topik' (ein Werk über die Kunst der Argumentation) wurden laut Freely unter den Kalifen Abdullah al-Mahdi und Harun ar-Raschid ins Arabische übersetzt, um die geistige Elite anderer Glaubensrichtungen beeindrucken zu können und zur Annahme des Islam zu bewegen.
Behauptet Freely das nur oder belegt er das auch irgendwie? Denn die islamischen Herrscher der klassischen Zeit waren über ihre
dhimmi-Untertanen nicht unglücklich. Es gibt sogar - ich meine, es wäre sogar Hārūn ar-Rašid gewesen - die brieflich überlieferte Aussage eines abbasidischen Kalifen nur sehr behutsam zu missionieren. Das ist auch verständlich: Solange Muslime Krieg führten, stand ein Fünftel der Beute rechtlich dem Kalifen zu. Sobald das Territorium aber konsolidiert war, war der Kalif auf die Steuereinnahmen durch die nichtmuslimischen Untertanen und seine Monopole angewiesen. Den die Muslime zahlten nur die
zakāt, wovon nichts ins Staatssäckel gehen durfte. Die Erlöse dieser Steuer sollten an die Bedürftigen gehen. Die von den
dhimmiūn gezahlte
djizya war Einnahme des Staates. Und eben das Fünftel Kriegsbeute bzw. Herrschermonopole (etwa Seidenproduktion). Insofern war „Wissenschaft“ sicher eher nicht als Mittel zum Zweck gedacht, in der Missionierung als Überzeugungsmittel zu dienen.
Ihm zufolge währte diese Blüte der islamischen Wissenschaft nicht lange, und wurde keineswegs erst durch Verheerungen wie die des Mongolensturms abgewürgt. Vielmehr habe bereits zu Lebzeiten des freidenkerischen Alkendi (gest. ca. 870) eine fundamentalistische, wissenschaftsfeindliche Bewegung um sich gegriffen, die der Islam nur teilweise und nicht überall überwinden konnte.
Das kann man so pauschal nicht sagen. Viele bedeutende islamische Gelehrte wirkten viel später. Man denke an al-Gafīqī, der im 12. Jhdt. erstmals (erfolgreiche!) Operationen am Auge unternahm und diese beschrieb. Sein Manuskript gehört zu den wenigen arabischen Werken, die im Escorial lagern und den Säuberungen christlicher Fanatiker entgangen sind. (Es war in Spanien nach 1492 so, dass arabische Manuskripte vernichtet wurden, wenn sie aus Sicht der Vernichtenden keinen Wert besaßen. Und das waren praktisch alle. Nur wenige wissenschaftliche Traktate überlebten.)
Wissenschaftsfeindlicher Fanatismus tritt meist in Wellenbewegungen auf, da haben sich im Verlauf der Geschichte die meisten Religionen nichts getan. Er schwillt an und ebbt wieder ab. Hier wird das, was ein al-Kindī erlebte, oder zwei Jahrhunderte später ein al-Ghazalī, für absolut gesetzt, aber unter den Tisch gekehrt, was ein Galielio oder ein Bruno Giordani erlebten. Die beiden werden ja auch immer herangezogen, wenn Kirchengegner die absolute Wissenschaftsfeindlichkeit der Kirche „beweisen“ wollen.
Demgegenüber war der christliche Klerus in den Klöstern Trägerin der Bildung; wo er Landesherrschaft ausübte, bediente er sich freimütig der Wissenschaften, um sich im Ringen mit den weltlichen Fürsten einen Machtvorteil zu verschaffen. Auch das Konzept der Verherrlichung Gottes durch das Ergründen der Geheimnisse der Schöpfung ist vor allem in Europa präsent.
Mir ist deine Darstellung, dass Muslimen Wissenschaft nur rein utilitaristischen Zwecken diente, bei den frommen Mönchen hingegen allein das Bildungsideal im Vordergrund gestanden habe, etwas zu schwarz-weiß-gemalt. Ein Thomas von Aquin war hochgeradig von Ibn Rušd abhängig - und nennt diesen auch immer wieder in seinen Schriften, wenn auch nicht bei seinem latinisierten Namen Averroes, sondern in seiner Funktion: „der Kommentator“. In der Kuppel des Doms von Florenz ist Ibn Rušd aufgrund seiner Bedeutung für Thomas Aquino daher auch dargestellt.