Abermals: Die Wissenschaft konnte sich im christlichen Abendland freier entfalten, als das Klischee es will – einerseits wegen der Verquickung zwischen Klerus und Wissenschaft, andererseits, weil philosophische Wege gefunden wurden, mit der Glaubenslehre nicht allzu sehr in Konflikt zu geraten. Trotzdem kann keine Rede davon sein, dass Naturwissenschaftler gefahrlos dieser Lehre widersprechen konnten.
Inwieweit sie es wagen konnten, die Grenzen auszureizen, hing vom jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld ab. Wann immer die Radikalen den Ton angeben konnten, wozu es meist infolge aufwühlender Ereignisse oder innerreligiöser Konflikte kam, wurde es für Abweichler und Außenseiter jeglicher Art gefährlich – Sektierer, Freigeister, Juden, und eben auch für Gelehrte, die nicht über jeden theologischen Zweifel erhaben waren.
Das ist nun wirklich keine gewagte These, sondern eine leider unvermeidliche gesellschaftliche Reaktion auf Herausforderungen. Entsprechende Beobachtungen lassen sich zu allen Zeiten und in allen Kulturen machen.Wie gesagt, wir reden aneinander vorbei. Ich vertrete in diesem Themenstrang seit Tagen die Ansicht, dass der Konflikt zwischen Kirche und Wissenschaft in Wahrheit primär politischer, nicht theologischer Natur war, denn dem Klerus ging es in erster Linie um seine weltliche Macht.
Kurioserweise nützte das der Wissenschaft; der Politiker kann pragmatisch agieren, während der religiöse Eiferer nicht zurückweichen kann, ohne sich selbst zu verleugnen.
Ich sprach von anachronistischen Maßstäben und gehe davon aus, dass Du weißt, worauf ich hinaus wollte.
Arthur Schopenhauer verdient, für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Philosophie in Ehren gehalten zu werden. Ihm seine Frauenfeindlichkeit vorzuwerfen, ist sinnlos, weil Frauenfeindlichkeit zu seinen Lebzeiten leider an der Tagesordnung war. Schopenhauer konnte es, salopp gesagt, kaum besser wissen. Man würde ihn folglich an Kriterien messen, die er gar nicht erfüllen konnte, was offenkundig müßig ist.
Dementsprechend ergibt es keinen Sinn, wenn Du im Folgenden einen Giordano Bruno nicht als Naturwissenschaftler gelten lassen willst, weil sein Eintreten für Kopernikus auf hermetischen Erwägungen beruhte. Bruno und seine Zeitgenossen konnten nicht wissen, dass die Hermetik Unfug war:
Er sah sich als Naturwissenschaftler, hielt die Lehrbefugnis u.a. für naturwissenschaftliche Themen, wurde von seinen Zeitgenossen als Naturwissenschaftler betrachtet, und man verlangte von ihm zu widerrufen, weil er dem Heliozentrismus das Wort redete, einer (damals) abweichenden Lehrmeinung in der Astronomie.
Nochmals: Hätte er als verblendeter Irrer gegolten, nicht als Wissenschaftler, hätten seine Worte kein Gewicht gehabt und es hätte keinen Grund gegeben, ihn so hart zu strafen. Er galt nicht als Irrer, weil seine Thesen nicht als unwissenschaftlich galten, höchstens als Außenseitermeinung. Was die Kirche übrigens anerkennt, die das Urteil gegen ihn mittlerweile als Unrecht verworfen hat.
Bis weit in die Neuzeit hinein standen okkulte Themen und evidenzbasierte Wissenschaft gleichberechtigt nebeneinander. Man denke nur an das absurde Zeug, mit dem sich Newton beschäftigt hat: unbestreitbar einer der größten Naturwissenschaftler, die jemals gelebt haben, suchte er dennoch in der Apokalypse nach dem Heiligen Johannes nach alchemistischen Formeln.Das steht absolut nicht fest.In diesem Themenstrang wurden bereits mehrere Namen genannt.
Giordano Bruno, ein Naturwissenschaftler, landete im Kerker, nachdem er in Oxford das kopernikanische Weltbild verteidigt hatte, weil es seine von Demokrit und Epikur übernommene Hypothese von einer belebten Erde zu bestätigen schien. Er wurde von der Inquisition scharf verhört, zum Widerruf gedrängt, den er erst in Aussicht stellte, dann verweigerte, und just dafür als "rückfälliger Häretiker" hingerichtet.
Galileo Galilei, ein Naturwissenschaftler, wurde auf Betreiben des Kardinals Robert Bellarmin als Vertiediger des Kopernikus von der Inquisition verfolgt, 1614 von den Dominikanern öffentlich als Ketzer gebrandmarkt, und seine Schriften (wie auch die Schriften Gleichgesinnter, z.B. Kopernikus’ und Keplers) auf den Index gesetzt, sodass kein Katholik sie lesen, drucken oder vertreiben durfte.
Papst Paul V. verbot ihm unter Strafandrohung, den Heliozentrismus zu verteidigen. Als Galilei das Verbot im 'Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme' umging, ließ Urban VIII. ihn vor die Inquisition laden, die seinen Widerruf erzwang und ihn zu lebenslanger Kerkerhaft verurteilte. Nur Galileis guter Ruf und seine Beziehungen bewirkten, dass die Kirche seine Strafe in Hausarrest umwandelte.
Roger Bacon hingegen, ein Naturwissenschaftler, wurde 1277 für mindestens zwei Jahre vom Franziskanerorden in Paris eingesperrt, unter dem Vorwurf, er habe die häretischen Lehren Averroes’ verbreitet. Vielleicht saß er sogar noch länger im Arrest, denn sein nächstes Lebenszeichen datiert auf 1292.
Ebenfalls erwähnt wurde das Verbot des Papstes Gregor IX. von 1231 (ich irrte mich in der Jahreszahl), das der Universität Paris (die wichtigste Universität nördlich der Alpen) unter Androhung der Exkommunikation verbot, Aristoteles Philosophie zu lehren, bis päpstliche Gutachter sie von Irrtümern "gereinigt" hätten.
Wenn das keine Einschränkungen der Möglichkeit sind, die Naturwissenschaften frei zu betreiben, was denn dann? Ich verstehe nicht, warum Du so tust, als hätten
@Reinecke, ich und andere in diesem Strang Niegehörtes behauptet.
Was Deine andere Bemerkung angeht, natürlich verdienen alle Kulturen Anerkennung, und niemand hat behauptet, dass es etwa im Abbasidenreich oder dem China der Yuan-Dynastie "schrecklich" zugegangen sei.
Wenn die Wissenschaft, wie ich meine, im christlichen Europa letztlich bessere Bedingungen vorfand als anderswo, was folgt daraus? Wenn Oxford, salopp gesagt, "besser" war als Bagdad, war Bagdad dann deshalb "schlecht"? Ist "besser" denn nicht die Steigerung von "gut"?Ich habe Demokrit als Urheber der Atomtheorie nur deshalb – als ein beliebiges Beispiel – dafür angeführt, dass
@PostmodernAtheist's Naturwissenschaft-Begriff meiner Ansicht nach anachronistisch ist.
Würde man jede nicht begründbare oder auf übernatürlichen Kräften beruhende Annahme aus den Annalen der Wissenschaft tilgen, bliebe bis weit ins 20. Jahrhundert hinein kaum jemand übrig, den man guten Gewissens Wissenschaftler nennen könnte. Was jedoch anachronistisch wäre.